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Pflegeeltern auf Zeit – Die Bereitschaftspflege
Vernachlässigung, Gewalt, Missbrauch – wenn die Familie in der Krise ist, Unterstützungsmaßnahmen nicht greifen und das Wohl des Kindes akut gefährdet ist, zieht das Jugendamt des Märkischen Kreises die Reißleine. Einige Eltern, die sich aus welchen Gründen auch immer nicht zutrauen, ein Kind großzuziehen, wenden sich auch direkt ans Jugendamt. Auch gibt es Familien, die ein Kind aus gesundheitlichen Gründen, zeitweise in eine Pflegefamilie abgeben müssen.
„Um ein Kind gegen den Willen der Eltern aus der Familie zu holen, braucht es stichhaltige Gründe, die auch vor dem Familiengericht Bestand haben“, weiß Silke Hufenbach vom Besonderen Sozialen Dienst des Märkischen Kreises. In 2018 hat das Jugendamt des Märkischen Kreises 51 Kinder und Jugendliche in Obhut genommen. Bis mit den Eltern die weitere Perspektive für das Kind geklärt ist oder das Familiengericht über den weiteren Verbleib entscheidet, werden Kinder bis zu einem Altern von 12 Jahren zunächst in der sogenannten Bereitschaftspflege untergebracht. Das sind Familien, die Jungen und Mädchen auf Zeit bei sich aufnehmen.
Mit der Auswahl, Schulung und Betreuung der Pflegefamilien hat das Jugendamt die Evangelische Jugendhilfe Menden beauftragt, die auch in Lüdenscheid ein Büro unterhält. Teamleiterin für die Bereitschaftspflege ist Andrea Hesse. Sie versteht sich gut mit Ella Bauer, die viel Erfahrung mitbringt und zum „harten Kern“ der Pflegeeltern gehört. Um ihre Familie und die Pflegekinder zu schützen, verrät Ella Bauer weder ihren richtigen Namen noch ihren Wohnort. Das ist bei der Bereitschaftspflege gängige Praxis. So findet auch der Kontakt zwischen den Kindern und ihren leiblichen Eltern im geschützten Raum der Evangelischen Jugendhilfe Menden statt.
Die ganze Familie ist gefordert
Ella Bauer ist gelernte Krankenschwester und hat bereits vier eigene Kinder großgezogen. Wegen des Schichtdienstes war der alte Beruf wenig familienfreundlich. „Ich wollte etwas Sinnvolles tun und nicht nur Zuhause rumsitzen“, erklärt sie ihre Motivation. Für Kinder da zu sein und ihnen zu helfen, schien ihr eine attraktive Alternative. Also nahm sie Kontakt mit der Evangelischen Jugendhilfe in Menden auf. Die Entscheidung Pflegefamilie im Notdienst und in der Bereitschaftspflege zu werden, hat allerdings die ganze Familie als Team gefordert. „Dabei war ganz klar, dass wir nur befristet Kinder aufnehmen und auch wieder abgeben. Auch wenn es jedes Mal schmerzt, die Jungen und Mädchen gehen zu lassen“, sagt Ella Bauer.
„Wir sind ständig auf der Suche nach Pflegefamilien“, sagt Richard Müller-Schlotmann, Bereichsleiter der Ev. Jugendhilfe Menden. In offenen Gesprächsabenden informiert die Stiftung regelmäßig über alle Pflegeformen. Meist melden sich interessierte Familien aber zunächst telefonisch, um sich unverbindlich zu erkundigen. „Am Telefon können wir schon ausloten, ob die Rahmenbedingungen gegeben sind“, erklärt Andrea Hesse. Der gute Wille allein reicht nicht. Wer ein Kind bei sich aufnimmt, muss unter anderem ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis und ein Gesundheitszeugnis vorweisen. Die finanzielle Situation der Familie muss gesichert sein und darf nicht von der Aufnahme eines Pflegekindes abhängen. Das Kind hat Anspruch auf ein eigenes Zimmer. Vom Einstiegsalter sollten Pflegeeltern nach den Vorstellungen der Ev. Jugendhilfe schon mit beiden Füßen im Leben stehen und mindestens 30 Jahre alt sein. Die Altersgrenze bei Aufnahme der Tätigkeit liegt bei 60 Jahren. Auch Alleinerziehende kommen in Frage, soweit das soziale Netzwerk stimmt und das Kind auch im Krankheitsfall gut versorgt ist. Um die Familien näher kennen zu lernen und sich das Wohnumfeld anzuschauen, machen die Mitarbeiterinnen Hausbesuche. Dabei achten sie auch darauf, welche persönlichen Voraussetzungen die künftigen Pflegeeltern mitbringen. Dazu gehören Einfühlungsvermögen, Kommunikationsfähigkeit, menschliche und soziale Fähigkeiten, Charakter- oder Persönlichkeitsmerkmale und Einstellungen.
Schulungen bereiten auf den Alltag vor
Auf ihre verantwortungsvolle Aufgabe werden die Bewerber in Schulungen vorbereitet. Hier geht es um die eigene Familiengeschichte und Motivation, den Umgang mit traumatisierten Kindern, die Rolle des Jugendamtes, den Umgang mit Konflikten, den Kontakt mit den leiblichen Eltern und die Bewältigung des Alltags. Auch muss sich jede Pflegefamilie darüber im Klaren sein, dass sie sich vielen Personen gegenüber öffnen muss, beispielsweise den Gutachtern im familiengerichtlichen Verfahren, dem Vormund und diversen anderen Fachkräften oder Therapeuten. „Bei der Auswahl künftiger Pflegeeltern ist uns auch deren soziales Netzwerk wichtig, aus dem sie Kraft und Rückhalt schöpfen können. Im Alltag sollte es auch Freiräume für Hobbys und gemeinsame Freizeit mit dem Partner geben“, erklärt Hesse. Wie achtsam die Ev. Jugendhilfe mit den Pflegeeltern umgeht, gefällt Ella Bauer gut. „Wir sind selber wie eine kleine Familie hier“, betont sie. Der Teamleiterin liegt viel daran, dass sich die Bezugspersonen wohlfühlen und bei allem Engagement selbst nicht auf der Strecke bleiben. „Wenn Hilfe erforderlich ist, sind wir sofort da“, verspricht sie. Um den Erfahrungsaustausch untereinander zu fördern, organisiert die Ev. Jugendhilfe gemeinsam Aktivitäten, Fortbildungsmaßnahmen, Weihnachts- und Sommerfeste. „Insgesamt betreuen wir 24 Familien in der Bereitschaftspflege. 30 sollen es mal werden“, sagt Müller-Schlotmann.
Was braucht das Kind?
Aktuell hat Ella Bauer in ihrer Familie zwei Pflegekinder und einen minderjährigen, unbegleiteten Flüchtling aufgenommen, der hier seinen Schulabschluss schaffen will. „Zurzeit läuft es richtig gut und wir haben viel Spaß“, freut sich Ella Bauer. Dabei ist es unterschiedlich, wie lange die Kinder bei ihr bleiben. Von wenigen Tagen bis zwei Jahren ist alles drin. „Bei der Vermittlung von Pflegefamilien fragen wir uns immer, was braucht das Kind in diesem Moment und welche Familie könnte ihm jetzt gut tun“, erzählt Hesse. Auf die Trennung von den leiblichen Eltern reagiert jedes Kind unterschiedlich. „Das kann niemand im Vorfeld abschätzen“, weiß Ella Bauer. Manche ziehen sich zurück und bleiben ganz still, andere schreien ihre Wut raus, manche verletzen sich selbst, andere machen Sachen kaputt. Selbst bei Säuglingen läuft die Eingewöhnung nicht immer problemlos. Schreibabys und Entwicklungsverzögerungen sind bei Kindern aus schwierigen Familienverhältnissen nicht selten. „Dem versuchen wir mit Geduld und Liebe zu begegnen“, sagt die Pflegemutter und meint mit „wir“ das komplette Familienteam. Der Familienrat entscheidet auch darüber, ob ein Kind aufgenommen wird oder nicht. „Kinder mit einer geistigen oder körperlichen Behinderung würden mich und meine Familie einfach überfordern“, sagt Ella Bauer ehrlich. Bis die Kinder in der Familie angekommen sind, ist es oft ein harter Weg. „Aber es ist immer wieder schön zu sehen, wie sie sich entwickeln und das annehmen, was wir ihnen auf dem Weg mitgeben können, “ sagt die ehemalige Krankenschwester. Und das sind neben Liebe auch Struktur, verlässliche Beziehungen, regelmäßige Mahlzeiten, saubere Kleidung und Regeln!
Kontakt zu den leiblichen Eltern
Nicht zu unterschätzen ist die emotionale Bindung der Kinder zu ihren leiblichen Eltern. „Egal was die Kinder erlebt haben, die Eltern bleiben immer die Nummer eins“, erklärt Hesse. Im Umgang mit den Eltern ist daher viel Diplomatie gefragt. „Um eine positive Bindung aufrecht zu erhalten und zu stärken loben wir die Eltern sehr oft“, sagt die Diplom Pädagogin.
„Der Kontakt zu den leiblichen Eltern gestaltet sich oft schwierig“, meint Ella Bauer. Sie ist froh, dass die Begegnung ausschließlich in den Räumen der Ev. Jugendhilfe stattfindet. Die Besuche verlaufen für die Kinder oft enttäuschend. Viele Eltern schaffen es in der begrenzten Zeit nicht, ihren Kindern die volle Aufmerksamkeit zu schenken und mit ihnen zu spielen oder zu reden. Viele Termine platzen auch einfach oder werden kurzfristig abgesagt. Die Experten wissen aus Erfahrung: Nach dem Elternkontakt sind die Kinder häufig völlig erschöpft, alte Ängste kommen wieder hoch. Manche fallen in alte Verhaltensweisen zurück und klauben beispielsweise Essensreste aus der Mülltonne. Dabei werden sie bei den Pflegeeltern sehr gut versorgt. Dann ist es wichtig, die Kinder aufzufangen. Ihnen das Gefühl zu geben, Teil einer Familie zu sein, in der sie sicher aufgehoben sind und sich die Erwachsenen um sie und ihre Bedürfnisse kümmern.
Übergang erleichtern
Wenn das Familiengericht entscheidet, dass ein Kind dauerhaft bei Pflegeeltern untergebracht werden soll, unterstützt die Ev. Jugendhilfe die Kontaktanbahnung und den Übergang. Die Kinder sind darauf vorbereitet. Sie wissen von Anfang an, dass die Bereitschaftspflege nur eine Übergangslösung ist. „Zuerst trifft man sich in der Eisdiele oder auf dem Spielplatz, damit das Kind die neuen Pflegeeltern auf neutralem Boden kennen lernen kann“, erklärt Hesse. Wenn die Chemie stimmt, werden die Kontakte immer weiter ausgedehnt, bis schließlich eine Übergabe erfolgt und das Kind umzieht. „Wir gestalten den Übergang positiv und begleiten ihn intensiv “. Das Tempo bestimmt das Kind. Manchmal dauert es wenige Wochen, oft aber auch Monate. „Eine Trennung geht nie ohne Tränen und zahlreiche Gespräche ab“ weiß Ella Bauer. Sie scheut sich auch nicht das Gespräch mit Fachkräften des Ev. Jugendhilfe zu suchen. „Das stehen wir gemeinsam durch“, bekräftigt Andrea Hesse