Sie sind hier
Bindungstheorie und kindliches Zeitempfinden
Themen:
Als wesentliche Voraussetzung für die psychische Gesundheit muss die Bedingung gelten, dass das Kleinkind eine warme, innige und dauerhafte Beziehung zu seiner Mutter (oder zu einer ständigen Ersatz-Mutterfigur) besitzt, in der beide Erfüllung und Freude finden.
John Bowlby
Die Bindungstheorie in ihrer heutigen Form fußt zum einen auf den Werken von John Bowlby - sie brachte einen der wichtigsten Perspektivenwechsel in der Forschung zur frühkindlichen Entwicklung mit sich - zum anderen auf den Forschungen von Mary Ainsworth.
Bowlbys Theorie befasst sich „mit den grundlegenden frühen Einflüssen auf die emotionale Entwicklung des Kindes und versucht, die Entstehung und Veränderung von starken gefühlsmäßigen Bindungen im gesamten menschlichen Lebenslauf zu erklären“. Bis zu den Studien von Bowlby war die Vorstellung verbreitet, dass die enge emotionale Beziehung, die ein Kind zu seiner Mutter aufbaut, auf ihre Ernährerfunktion zurückzuführen ist. Er beobachtete jedoch, dass Kleinkinder bei einer Trennung den Verlust von ihrer Mutter, unabhängig von ihrer Versorgung, als sehr schmerzhaft empfanden. Daraus schlussfolgerte er, dass die Liebe und Anwesenheit der Mutter für ein Kind ebenso große Bedeutung hat wie sein Nahrungsbedürfnis. Untersuchungsgegenstand Bowlbys war es, das beobachtete Motivationssystem bzw. die Tendenz des Menschen, starke emotionale Beziehungen einzugehen, zu untersuchen und systematisch zu beschreiben.
Ainsworth gelang es, diese Theorie mit empirischen Befunden zu nterstützen. Bildlich gesprochen wird nach der Geburt die Nabelschnur als biologische Verbindung zwischen der Mutter und dem Kind getrennt und muss fortan durch den Aufbau eines psychologischen Bandes neu gebildet werden.
Nach Bowlbys Annahmen gibt es dazu „zwei komplementär ausgebildete Verhaltenssysteme, ein Bindungsverhaltenssystem beim Kind und ein Fürsorgesystem bei den Eltern, die durch ihr ganz besonders geartetes Zusammenwirken die Erfahrungsgrundlage für Bindungssicherheit bilden und über ihre biographische Bedeutung zum Kindeswohl beitragen.“ Der Säugling besitzt demnach ein genetisch determiniertes Verhaltensrepertoire, um Kontakt und damit Bindungsverhalten anzuregen. Dazu zählen: Schreien, suchende oder verfolgende Blicke, Anklammern, Saugen, Lächeln, Weinen und ab dem vierten Monat Rufen.
Dem gegenüber steht das Fürsorgesystem, das Versorgungsverhalten der primären Bezugspersonen, also in der Regel der Eltern. Dies setzt die Feinfühligkeit der Eltern voraus, die Signale und das Verhalten des Kindes wahrzunehmen, richtig zu deuten und zu beantworten. Die Feinfühligkeit gelingt vielen leiblichen Eltern oft nur unzureichend und ist primärer Ansatzpunkt bei Interventionen der frühen Hilfen
Bindungsphasen
Der Prozess der Synthese von Bindungen lässt sich in vier Phasen gliedern, wobei die Zeitangaben nicht als absolut angesehen werden können, sondern nur eine grobe Orientierung geben:
- 0-3 Monate: Der Säugling zeigt keine Angst vor fremden Personen und kann durch sensible Pflege auch von diesen beruhigt werden. Sein Bindungsverhalten beschränkt sich zunächst auf Weinen und etwa ab dem zweiten Lebensmonat auf ein soziales Lächeln.
- 3-6 Monate: Der Wunsch des Kindes nach Nähe wird an ausgewählte Personen gerichtet, und dem Kind ist es möglich, seine Hauptbezugsperson zu erkennen und von Dritten zu unterscheiden. Die Hauptbezugsperson wird präferiert und ihre Anwesenheit erzeugt Zufriedenheit beim Kind. Sie hilft dem Kind am besten bei seiner Regulation, was sich bspw. daran zeigt, dass sie das Kind am schnellsten wieder beruhigen kann.
- 6 Monate bis 3 Jahre: Im Alter zwischen sechs und sieben Monaten beginnt die Bindungsphase. Diese ist auf wenige, dem Kind nahestehende Personen beschränkt. Das Kind zeigt in Form von Verlustängsten Reaktionen auf Trennung und freut sich bei Begrüßung oder Rückkehr der Bezugspersonen. In etwa dem achten Monat beginnt eine Fremdelphase, gefolgt von kurzzeitigen Explorationsphasen. Dabei ist die Bezugsperson das sichere Fundament, von dem ausgegangen wird, und die für das Kind die primäre Orientierung ist. Interessant ist, dass nach Piaget ein Kind in dieser Zeit die kognitive Vorstellungsfähigkeit entwickelt, dass Objekte auch dann weiter existieren, wenn sie sein Blickfeld verlassen haben (Objektpermanenz).
- 3-6 Jahre: Ab dem dritten Lebensjahr ist es dem Kind erstmals möglich, für längere Zeit von der primären Bezugsperson getrennt zu werden. Es kommt weniger häufig und weniger intensiv zu Bindungsverhalten als zuvor, wobei sie als sichere Basis nach wie vor in kritischen Situationen von dem Kind aufgesucht wird. Das Kind kann soziale Regeln außerhalb der Familie erfassen und erlernen und ist fähig, das Handeln seines Gegenübers zu begreifen und in seinem eigenen zu berücksichtigen.
Bindungen sind bis zur Ablösung von den Eltern in der Pubertät wichtig. Dort werden kindliche Bindungen an die Eltern abgeschwächt, und die Bedeutung der Peergroups und anderer Erwachsener gewinnt an Bedeutung.
Das Bindungsverhalten des Kindes wird immer dann aktiviert, wenn aufgrund innerer oder äußerer Bedingungen Gefahr signalisiert oder einfach nur Unsicherheit ausgelöst wird. Das Kind wird dann alles daran setzen, die Nähe zur Bindungsperson herzustellen bzw. das verlorene Gefühl der Sicherheit wieder zu erlangen.
(Suess / Scheuerer-Englisch)
An dieser Stelle liegt es an der Bindungsperson, die Signale richtig zu interpretieren und dem Kind zu antworten. In diesem dynamischen Zusammenspiel sammelt das Kind Erfahrungen, die internalisiert werden. In der Literatur wird dieses Verhalten oft mit einer Wippe verglichen. Auf der einen Seite steht dabei das Explorations- und auf der anderen das Bindungssystem des Kindes. Scheuerer-Englisch beschreibt einen „Kreis der Sicherheit“, der dem komplexen dynamischen Zusammenspiel vielleicht besser gerecht werden kann. „Bei erhöhtem Sicherheitsbedarf wird das Explorationsverhalten eingestellt, bei niedrigem Sicherheitsbedarf kann das Kind frei explorieren.“
Die Gedanken, Gefühle und das Verhalten im Zusammenspiel sind prägende Erfahrungen und werden von dem Kind in sein inneres Arbeitsmodell von Bindung übernommen. Je besser und feinfühliger auf die kindlichen Bedürfnisse während der Einbindung des Kindes eingegangen wird und die essenziellen Bedürfnisse befriedigt werden, um so stabiler ist die Bindung.
Bindungstypen
Diese inneren Arbeitsmodelle unterscheiden sich anhand ihrer Qualität voneinander und lassen sich klassifizieren. Diese Klassifikation wurde weiter ausdifferenziert. So wurden die ursprünglich drei Bindungstypen um einen weiteren Typ ergänzt.
Die sichere Bindung (Typ B für balanced):
Das Kind ist sich sicher und ist zuversichtlich, dass es sich in einer bedrohlichen oder beängstigenden Situation auf die Feinfühligkeit, Hilfe und den Trost der Mutter verlassen kann. Es kann sich aufgrund positiver Vorerfahrungen auf die Verfügbarkeit der Bindungsperson verlassen, dadurch seine Umgebung frei erkunden und seine Emotionen offen äußern.
Die unsicher-ambivalente Bindung (Typ C für crying):
Das Kind fühlt sich unsicher und weiß nicht, ob es sich auf die Feinfühligkeit und Hilfe verlassen kann. Dieses Muster zeigt sich, wenn sich die Bezugsperson in bestimmten Situationen gegenüber dem Kind nicht berechenbar verhält oder nicht verfügbar ist. Das bedeutet, dass es manchmal auf Hilfsbereitschaft, Trost und Fürsorge bauen kann, manchmal aber zurückgewiesen wird. Das Kind versucht die Nähe zu der Bindungsperson aufrecht zu erhalten, um in einer belasteten Situation ihre Verfügbarkeit sicherzustellen.192 Das Kind befindet sich in einem Dilemma zwischen Trost und Wut und zeigt daher ein eingeschränktes Explorationsverhalten.
Die unsicher-vermeidende Bindung (Typ A für avoiding):
Diese Bindungsqualität wird auch distanzierte Bindung genannt. Das Kind vermeidet es, Hilfe und Unterstützung zu suchen, da es die Erfahrung gemacht hat, in bedrohlichen Situationen zurückgewiesen zu werden. Es vermeidet daher den Kontakt zur Bindungsperson, um nicht erneut die schmerzliche Ablehnung spüren zu müssen.
Das desorganisierte Bindungsverhalten (Typ D für desorganised):
In diesem Arbeitsmodell „ist das Kind selbst als vulnerabel und hilflos im Angesicht angstauslösender Situtationen repräsentiert und die Bindungsfigur als eine Person, die keine Sicherheit in solchen Situationen bietet.“ (Julius / Gasteiger-Klicpera / Kißgen)
Hierbei kann das Kind nicht auf die Bezugsperson als sichere, feinfühlige Basis zurückgreifen, weil diese, der Erfahrung des Kindes nach, in schwierigen Situationen nicht verfügbar oder selbst Auslöser der Angst war. Da „die Bindungsbedürfnisse des Kindes nach Nähe oder Rückversicherung [nicht] befriedigt [werden] [...], sei das Kind gezwungen Abwehrmechanismen einzusetzen, durch die diese schmerzvollen Bindungserfahrungen vom Bewusstsein ausgeschlossen werden.
Gerade dieser Bindungstyp findet sich mit einer großen Wahrscheinlichkeit bei Pflegekindern wieder (ca. 48%). (Handbuch Pflegekinderhilfe des DJI) Demgegenüber stehen repräsentative Stichproben wonach 15% aller Kinder ein desorganisiertes Bindungsmuster aufweisen.
Die Theorie der Bindung hat große Bedeutung für das Pflegekinderwesen. Bei der Unterbringung in einer Pflegefamilie werden das Bindungssystem und Versorgungsverhalten mit ihrem großen Potential bewusst genutzt. Es ist daher sehr erstaunlich, dass in der Literatur häufig auf den Mangel an Wissen der beteiligten Fachkräfte über die Bindungstheorie hingewiesen wird. Sie ist tiefgründiger und schwieriger zu untersuchen, als es auf den ersten Blick erscheint.
Es gilt als sicher, dass das Vorhandensein einer positiven Beziehung zu mindestens einer Bezugsperson, eine hohe bis sehr hohe Schutzwirkung für die weitere Entwicklung bildet. Jede Trennung eines Kindes stellt eine Belastung dar; dabei wächst das Risiko eines negativen Entwicklungsverlaufes.
Aus einer Stichtagserhebung des DJI geht hervor, dass ein Pflegekind im Durchschnitt 0,27 Umplatzierungen pro Lebensjahr erlebt. Zu der Veränderbarkeit von einer Bindungsqualität, z.B. von einer sicheren zu einer unsicheren oder umgekehrt, im Laufe der Entwicklung des Kindes können einige Ergebnisse festgehalten werden, die es jedoch weiter zu überprüfen und auszuweiten gilt. Die bisherigen Studien lassen die Aussage zu, dass es grundsätzlich möglich ist, die internalen Arbeitsmodelle zu modifizieren, wobei diese an sich zu Stabilität neigen. Sie beruhen auf Erfahrungen sind daher mit zunehmendem Alter, schwieriger in die bereits vorhandenen Sinnstrukturen einzuarbeiten. Je länger oder schwerwiegender negative Beziehungsmuster oder Erfahrungen auf ein Kind einwirken, um so schwieriger wird es sein, die Qualität der Bindung zum Positiven zu beeinflussen.
Dabei müssen sensible Phasen des Kindes besonders berücksichtigt werden:
Die Qualität des Fürsorgeverhaltens nach dem 12. Monat spielte für eine angemessene sozio-emotionale Entwicklung im Vorschulalter eine größerer Rolle, als die Qualität der Mutter-Kind-Bindung im 12. Monat.
Die früh erworbenen Bindungsqualitäten werden bis zum Jugendalter aufrecht erhalten, wenn keine tiefgreifenden Veränderungen in den gelebten Beziehungen zu den Bindungsfiguren auftreten. Stovall-McClough und Dozier haben 2004 in ihrer Studie gezeigt, dass kleine Kinder unter einem Jahr bereits innerhalb der ersten zwei Monate ihr Bindungsverhaltenssystem an das der Pflegeeltern anpassen können. Kinder über einem Jahr zeigten nach zwei Monaten tendenziell ihre alten Verhaltensmuster, die Plastizität ihres Verhaltens ist damit geringer als die bei den Kindern unter 12 Monaten. Bemier stellten zudem fest, dass Kinder im zweiten Lebensjahr nach fünfmonatigem Aufenthalt in der Pflegefamilie zu zwei Dritteln organisierte Bindungsbeziehungen zu der Pflegemutter aufwiesen. In der Gruppe der Pflegekinder, die im Durchschnitt etwas länger als drei Jahre in einer Pflegefamilie leben, stellten diejenigen mit sicheren Bindungsmustern die größte Gruppe dar. Dies wird von einer Meta-Analyse gestützt, nach der Pflegekinder im Mittel gute Chancen auf positive Bindungserfahrungen haben, verheißt allerdings nicht, dass dies für alle Pflegekinder zutrifft.
Der Aufbau von Bindung ist abhängig von dem Faktor Zeit. In diesem Zusammenhang kann die Bindungstheorie nicht losgelöst vom kindlichen Zeitempfinden betrachtet werden.
Kindliches Zeitempfinden
Sir Isaac Newton (1642 - 1726):
Die Zeit ist absolut, und wird somit von jedem genau gleich gemessen.
Albert Einstein (1879 - 1955):
Die Zeit ist relativ, d.h. sie ist von der Eigenbewegung eines Beobachters abhängig und somit individuell verschieden. Dieser Effekt wird erst bei einer Bewegung mit fast Lichtgeschwindigkeit deutlich messbar.
Albert Einstein sagt im Gegensatz zu Newton, dass Zeit physikalisch gesehen relativ, nicht absolut ist. Auch vom Menschen wird die Zeit im kognitiven Sinn subjektiv als relativ empfunden.
Das Zeitempfinden von Säuglingen, Kleinkindern und Kindern entwickelt sich erst mit seinen wachsenden kognitiven Leistungen.
Kinder sind anders als Erwachsene in Bezug auf ihre Einstellung zur Zeit. Der normale Erwachsene misst den Ablauf der Zeit mittels Uhr und Kalender, während Kinder die Dauer eines Zeitraums je nach Dringlichkeit ihrer Triebwünsche beurteilen. Jeder Aufschub in der Erfüllung eines Triebwunsches erscheint ihnen darum endlos; dasselbe gilt für die Dauer der Trennung von einem Liebesobjekt.
Goldstein / Freud / Solnit
Der Säugling wird von seinen Impulsen gesteuert und ist nicht fähig, seine Bedürfnisse auf einen späteren Zeitpunkt aufzuschieben. Im kindlichen Denken gibt es zunächst nur das Hier und Jetzt. Jean Piaget sagt, dass „Zeit in psychologischer Betrachtungsweise als eine »Koordination der Bewegungen mit verschiedenen Geschwindigkeiten« aufgefasst werden müsse.“ Erst in der operationalen Phase, also im Alter von 7-8 Jahren, ist ein Kind kognitiv dazu in der Lage, eine zeitliche Dauer operativ zu verstehen.
Anna Freud beschreibt drei Stationen, in denen das Kind Zeitempfinden erlernt bzw. entwickelt, allerdings ohne sie einem Alter zuzuordnen. Als erstes nimmt das Kind die Zeitspanne von Triebbedürfnis bis zur Triebbefriedigung als kurz oder lang wahr. Mit der zweiten Station verknüpft es bestimmte Vorgänge durch die tägliche Routine mit bestimmten Tageszeiten. Schließlich ist das Kind in der dritten Stufe kognitiv in der Lage, ein intellektuelles Verständnis von Zeit zu entwickeln.
Heinrich Roth geht davon aus, dass die Entwicklung eines Verständnisses von Zeit bis zur Pubertät reiche. Er geht von einem Modell aus, in dem das Zeitbewusstsein sich von der „Phase des naiven Zeiterlebens“ beim Kleinkind, über die „Phase des Zeitwissens“ ab dem Schulalter hin zur „Phase der Zeiterfahrung und Zeitreflexion“ im Jugend- und Erwachsenenalter entwickelt. Im Alter bis zu drei Jahren muss also davon ausgegangen werden, dass ein Kind noch nicht annähernd die kognitiven Fähigkeiten besitzt, Zeit so wahrzunehmen, wie sie ein Erwachsener empfindet.
Die Zeiten bis zu jeglicher Bedürfnisbefriedigung werden von dem Kind schon nach - aus der Sicht von Erwachsenen – kurzer Zeit als unerträglich empfunden. Bei einer Unterbringung eines Säuglings oder Kleinkindes ist das Wissen um das kindliche Zeitempfinden von besonderer Bedeutung. Das Kind empfindet in diese Phase Trennung schneller als irreversibel und absolut.
Wir können nicht von Dauer oder Kontinuität sprechen, ohne den Zeitbegriff des Kindes in Betracht zu ziehen. Eine Trennung zwischen Eltern und Kind zum Beispiel, die für das Kleinkind lang genug ist, um seine Gefühlsbindung zu unterbrechen, ist für ein größeres Kind im Schulalter kurz und ohne besondere Bedeutung. Das Verhältnis des Kindes zur Zeit ändert sich je nach seinem Entwicklungsstand und bestimmt die Zeitspanne, während der vorhandene Beziehungen aufrechterhalten oder neue angeknüpft werden können. [...] Das Kleinkind kann nicht für die Erfüllung seiner eigenen Bedürfnisse sorgen und ist wegen der Unreife seines Gedächtnisses nicht imstande, für längere Zeit an der Vorstellung der abwesenden Eltern festzuhalten. Für das noch nicht zweijährige Kind wird darum die neue Pflegeperson »rasch« eine neue mögliche psychologische Elternperson. Aber so gut der Ersatz an und für sich auch sein mag, der vorangegangene Verlust hinterläßt nur zu oft seine Spuren im Gefühlsleben des Kindes. Was für das Kleinkind einige Tage sind, ist dann für die meisten Kinder unter dem Alter von fünf Jahren eine Abwesenheit der Eltern von zwei oder mehr Monaten oder für das jüngere Schulkind eine Abwesenheit von einem halben Jahr. [...] Erst die Jugendlichen in fortschreitender Pubertät entwickeln dasselbe Verhältnis zur Zeit, das wir aus der Erwachsenheit kennen.
Peschel-Gutzeit 2005,
Fasst man die Ergebnisse des bisher Gesagten im Blick auf die ersten Lebensjahre zusammen, lassen sich folgende Befunde festhalten:
Die Entwicklung von Kindern erfolgt in Stufen, die von ihnen erfolgreich absolviert werden müssen. Grundlegend dafür ist eine angemessene Bedürfnisbefriedigung, wobei sich die Bedürfnisse mit Maslow hierarchisch bzw. mit Liebig als von einem limitierenden Faktor begrenzt beschreiben lassen. Werden diese Bedürfnisse dauerhaft nicht erfüllt, kann dies zu seelischen und physischen Beeinträchtigungen in der kindlichen Entwicklung führen (wie etwa Regulationsstörungen und erhöhte Stressvulnerabilität). Faktoren, die das Risiko für Langzeitfolgen erhöhen, wurden benannt. Dem gegenüber stehen eine Reihe von Hilfsmaßnahmen und (Beratungs- und Therapieangebote), die meistens bei den Eltern ansetzen, weil Studien gezeigt haben, dass ein sicheres Bindungsverhalten und eine feste Bezugsperson bei Kindern pathogene Langzeitfolgen abschwächen und zu Stressresistenz führen können. Genauer wurde in diesem Zusammenhang darum auf die Bindungstheorie eingegangen, die ein Wissen darüber zur Verfügung stellt, wie Kinder Bindungen aufbauen. Dies führte weiter zur Frage nach dem kindlichen Zeitempfinden, welches in den ersten Lebensjahren ebenfalls von der Bedürfnisbefriedigung gesteuert wird und sich hierin vom Zeitempfinden der Erwachsenen unterscheidet.
Aus pädagogischer Sicht bestehen also im Umgang mit Pflegekindern Gefahren, aber auch Protektionsfaktoren. In die praktische Arbeit muss dieses Wissen einfließen, um eine fundierte Grundlage für Entscheidungen hinsichtlich der Rückkehr oder des Verbleibs von Pflegekindern aus bzw. in ihren Pflegefamilien zu treffen. Dazu gilt es u.a. die Eltern bzw. Bezugspersonen und das Kind in ihren Interaktionen genau zu beobachten und die Bedürfnisse des Kindes zu evaluieren.
Die große Gefahr besteht darin, bei der Analyse, aus fachlichem "Halbwissen" bspw. das Bindungsverhalten des Kindes fehl zu deuten. Eine genaue Diagnose ist also bedeutsam und kann auch nur von geschultem Fachpersonal anhand vorhandener anerkannter Tests und Methoden (z.B. für die Gruppe der unter Dreijährigen die Fremden Situation) erfolgen. Das Wissen ist fundamental für alle Beteiligten im Jugendhilfeprozess, insbesondere in den Pflegekinderdiensten, und führt die Komplexität von Entscheidungen in Fällen vor Augen, in denen eine Trennung von Kindern von ihren leiblichen Eltern angezeigt ist.
Erschwerend kommt dabei hinzu, dass die pädagogische Sichtweise in der Praxis immer um die rechtliche Perspektive, wie sie im Kapitel 2.1. vorgestellt wurde, ergänzt werden muss. Im Folgenden wird zu fragen sein, wie sich diese beiden Perspektiven zueinander verhalten: Treffen dort aktuell tatsächlich zwei Welten aufeinander oder werden die bestehenden Vorschriften bereits implizit von pädagogischen und entwicklungspsychologischem Wissen getragen? Was sind die Konsequenzen der beschriebenen Erkenntnisse für die Ausgestaltung und Planung von Vollzeitpflegeverhältnissen? Und welche Schwierigkeiten gibt es beim Übergang von der Theorie in die Praxis?
Unsere Kenntnisse belegen, daß kein Kind für unbestimmte Zeit – bis abwesende Eltern in der Lage und willens sind, es zurückzuholen – »auf Eis« gelegt werden kann, ohne daß seine Gesundheit und sein Wohlsein gefährdet werden.
(Goldstein / Freud / Solnit)
Das kindliche Zeitempfinden ist untrennbar mit dem Bindungsgeschehen verbunden, da sich das Kind affektiv an die Menschen, die seine Bedürfnisse befriedigen, bindet und diese Menschen als Eltern (faktische, psychologische und soziale) anerkennt.
Grafen weist in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit einer Perspektivklärung bei der Entscheidung über Rückkehr oder dauerhaften Verbleib von Pflegekindern hin. Sie konstatiert, dass eine Berücksichtigung des kindlichen Zeitempfindens nicht automatisch ein Plädoyer für einen dauerhaften Verbleib in der Pflegefamilie sein muss, sondern dass eigentlich eine Rückführung in möglichst kurzer Zeit anzustreben wäre, um die Bindung zur Herkunftsfamilie zu erhalten. Voraussetzung sei allerdings, dass es sich um eine gelungene, sichere Bindung handele.
Die Fachkräfte stehen [dabei] vor einem Dilemma: Auf der einen Seite sollen sie eine prognostische Entscheidung in der Grundsatzfrage bei der Anbahnung von Pflegeverhältnissen treffen (auf Dauer oder auf Zeit?), auf der anderen Seite müssen sie dem prozeßhaften Geschehen in der Erziehungshilfe Rechnung tragen, indem sie einkalkulieren, daß sie zu einem bestimmten Stadium des Hilfeprozesses nicht alle Bedingungen ausreichend würdigen können, daß die Beteiligten sich anders verhalten als prognostiziert usw. Insofern ist zu konstatieren, daß in vielen Fällen die in einem anfänglichen Prozeßstadium zur Entscheidung anstehende Grundsatzfrage [...] noch nicht ausreichend beantwortet werden kann. Aus diesem Dilemma zwischen prognostischer Entscheidung zur Grundsatzfrage einerseits und Beachtung des prozeßhaften Charakters der Hilfe gibt es keinen Ausweg.
(Merchel)
Die Zielvorgaben des SGB VIII dafür sind dabei recht eindeutig: Mit einer zeit- und zielgerichteten und geplanten Intervention soll im Falle günstiger Prognosen als Ergebnis fundierter Diagnostik die alsbaldige Rückkehr des Kindes forciert und falls diese innerhalb des dafür am Alter des Kindes orientierten zeitlichen Rahmens nicht gelingt, die Dauerhaftigkeit seines Aufwuchsplatzes sichergestellt werden.
Es wird damit den psychologischen und (sozial)pädagogischen Kenntnissen über (Pflege-)Kinder grundsätzlich gerecht. Das geltende Kinder- und Jugendhilferecht zeichnet sich dadurch aus, dass es sich durch seine Konzeption (s.o.) an den wissenschaftlichen Erkenntnissen und der Lebensrealität orientiert. Es erlaubt, das Kind und seine Bedürfnisse nach Bindung und Kontinuität zu fokussieren und zur Leitlinie bei der Perspektivplanung zu machen. Allerdings wird noch zu zeigen sein, dass „das zivilrechtliche Kinderschutzrecht demgegenüber [noch] einen erheblichen Nachholbedarf hat, wenn auch an ihm diese Erkenntnisse nicht spurlos vorüber gegangen sind.“ (Salgo) Weiterhin sei die Verwirklichung, so Salgo, eine enorme Herausforderung, da es für Erwachsene sehr schwer sei, eine Entscheidung allein vom Kindeswohl geleitet zu treffen. Weiter bilanziert er, dass die Erreichung der oben genannte Zielvorgaben des SGB VIII noch nicht in der Masse der Fälle gelingt und es dafür an Zeit- und Personalressourcen sowie der Einstellung der Beteiligten mangele.
Auszug aus der Bachelorarbeit „Die am wenigsten schädliche Alternative“ an der Universität Siegen 2012.
von:
Deutschland muss Kinderrechte bekannter machen