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Feststellung einer Kindeswohlgefährdung durch Vernachlässigung
Themen:
Wann ist eine Kindeswohlgefährdung - also eine körperlich, geistige oder seelische nachhaltige Gefährdung - festzustellen?
Das Gericht äußert sich in den Leitsätzen dazu folgendermaßen:
Dies ist der Fall, wenn bereits ein Schaden eingetreten ist, oder wenn eine Gefahr gegenwärtig und in einem solchen Maß vorhanden ist, dass sich bei seiner weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt.
Werden Kinder im Haushalt der Eltern hochgradig vernachlässigt und sind unzweifelhaft vorhandene Schädigungen auf physische Entbehrungen und fehlende emotionale Zuwendung zurückzuführen, ist von mangelnder Erziehungseignung auszugehen.
Eine Kindeswohlgefährdung, die Anlass zu einem familiengerichtlichen Eingriff in das elterliche Sorgerecht gibt, kann sich auch aus der Summe einer Vielzahl von Einzelaspekten ergeben.
Der Mutter von fünf Kindern war vom Amtsgericht das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen worden. Seit ihrer Jugend leidet die Mutter unter einer Angststörung, die sie daran hindert, allein die Wohnung zu verlassen, etwa um einkaufen zu gehen. Darüber hinaus beeinträchtigten mehrere depressive Episoden der Mutter den familiären Alltag erheblich. Der Vater ging daher seit der Geburt des ersten Kindes keiner Erwerbstätigkeit mehr nach, um die Mutter bei der Betreuung und Versorgung dieses und später aller Kinder sowie der Haushaltsführung zu unterstützen. Meldungen wegen häuslicher Gewalt, erheblicher Fehlzeiten der Kinder in der Schule sowie wiederkehrender meldepflichtiger Erkrankungen nach § 8a SGB VIII wurden bekannt und vomJugendamt überprüft, was jedoch zu keiner Veränderung in der Familie führte. 2019 trennten sich die Eltern. Es gab weiterhin Meldungen zu unentschuldigten Fehlzeiten in der Schule.
Die Mutter hatte sich inzwischen mit einem Drogen- und Alkoholabhängigen Mann liiert. Das Jugendamt machte an das Amtsgericht eine Mitteilung auf mögliche Kindeswohlgefährdung durch den Mann für die inzwischen drei Töchter.
Anfang 2020 wurden alle fünf Kinder nach einem Polizeieinsatz mit der Zustimmung der Mutter in einem Heim untergebracht, nachdem erneut Vorwürfe wegen Gewalt und möglicherweise sexuellem Missbrauch aufkamen.
Beide Eltern hatten während des Heimaufenthaltes ihre jeweiligen neuen Partner aufgegeben und lebten nun wieder in der Wohnung zusammen, allerdings in getrennten Bereichen.
Das Amtsgericht benannte eine Verfahrensbeiständin, die berichtete, dass keiner der Kinder das Bedürfnis habe, die Eltern zu besuchen und zurückzukehren.
Ein vom Gericht bestellter Gutachter stellte fest, das es keine enge Bindung zwischen Eltern und Kindern gäbe und stellte eine eingeschränkte Erziehungsfähigkeit beider Eltern fest.
Während der Vater nach Abschluss der Gutachten und Stellungnahmen damit einverstanden war, dass die Kinder im Heim verblieben, lehnte die Mutter dies ab. Daraufhin entzog das Amtsgericht Northeim beiden Eltern das Aufenthaltsbestimmungsrecht, die Gesundheitssorge sowie das Recht zur Antragstellung nach SGB VIII für alle fünf Kinder. Der Landkreises N. wurde zum Pfleger benannt.
Seine Entscheidung stützt das Amtsgericht auf §§ 1666, 1666a BGB und begründet diese damit, dass die weitere Unterbringung der Kinder außerhalb des elterlichen Haushalts wegen der Defizite der Eltern in ihrer Persönlichkeitsstruktur und ihrem Erziehungsverhalten unvermeidbar sei, weil diese bei den Kindern bereits zu nachhaltigen Störungen in der geistigen, körperlichen und seelischen Entwicklung geführt hätten und bei einer Rückkehr in den elterlichen Haushalt zu weiteren Schäden in der kindlichen Entwicklung führen würden.
Die Mutter ging gegen diese Entscheidung in Beschwerde.
Das OLG gab der Entscheidung des Amtsgerichtes recht und begründete wie folgt:
Das Amtsgericht hat den Eltern zutreffend das Aufenthaltsbestimmungsrecht, die Gesundheitssorge und das Antragsrecht nach SGB VIII gemäß §§ 1666, 1666a BGB für alle fünf gemeinsamen Kinder entzogen und auf das Jugendamt des Landkreises N. als Ergänzungspfleger übertragen. Die Voraussetzungen für den Entzug der genannten Sorgerechtsteile liegen auch weiterhin vor.
Nach § 1666 Abs. 1 BGB hat das Familiengericht in Fällen, in denen das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährdet wird, und die Eltern nicht gewillt oder in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden, die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind.
Da der Sorgerechtsentzug als Eingriff in das Elternrecht nach Art. 6 Abs. 2 GG nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts strenger Überprüfung unterliegt, ist ein Sorgerechtsentzug nur bei einer gegenwärtigen, in einem solchen Maß vorhandenen Gefahr, dass sich bei weiterer Entwicklung ohne Intervention eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt, gerechtfertigt (BVerfG) [....]
Dabei dient der staatliche Eingriff nach § 1666 BGB nicht dazu, dem Kind optimale Entwicklungsbedingungen zu verschaffen (BVerfG Stattgebender Kammerbeschluss vom 19.11.2014, 1 BvR 1178/14, FamRZ 2015, 112 Rn. 29). Ob die Voraussetzungen des § 1666 BGB vorliegen, entscheidet sich in Fällen der Vernachlässigung vielmehr nach deren Ausmaß, der Schutzbedürftigkeit des Kindes und inwieweit bereits schädigende Folgen für das Kind eingetreten sind. [....]
Zudem gebietet der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, dass die anzuordnende Maßnahme zur Gefahrenabwehr effektiv geeignet ist (BVerfG, Teilweise stattgebender Kammerbeschluss vom 27.08.2014, 1 BvR 1822/14, FamRZ 2014,1772 ff.) Eine Maßnahme, die mit einer Trennung des Kindes von der elterlichen Familie verbunden ist, ist nach § 1666a BGB darüber hinaus nur zulässig, wenn der Gefahr für das Kindeswohl nicht auf andere Weise, auch nicht durch öffentliche Hilfen begegnet werden kann.
Bei der Bewertung der Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme ist auch der Grad der Wahrscheinlichkeit der Gefährdung zu überprüfen. Eine auch teilweise Entziehung der elterlichen Sorge ist nur bei einer erhöhten Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts, nämlich mit ziemlicher Sicherheit, verhältnismäßig. [....]
Auch sind die negativen Folgen einer Trennung des Kindes von den Eltern und einer Fremdunterbringung zu berücksichtigen, sie müssen durch die hinreichende Aussicht auf Beseitigung der festgestellten Gefahr aufgewogen werden, so dass sich die Situation des Kindes in der Gesamtbetrachtung bessert [....]
Neben diesen generellen Aussagen beschrieb der OLG eindeutig die Vernachlässigung der KInder in der Familie. Es wies ausführlich daraufhin, dass die Kinder unzureichendes Essen und zu wenig medizinischer Versorgung bekamen, massive schulische Fehlzeiten hatten und generell keine ausreichende Förderung erhielten. Darüber hinaus stehe zweifelsfrei fest, dass die Kinder dort auch emotional vernachlässigt worden sind und massiver Verängstigung durch Vorfälle häuslicher Gewalt ausgesetzt waren. Aufgrund der geringen Bindungen und des nicht vorhandenen Trennungsschmerzens der Kinder (und der Eltern) wäre auch eine emotionale Vernachlässigung nicht ausschließbar.
Weiter schreibt das Gericht in seiner Begründung:
Es besteht auch kein Zweifel, dass die Schäden sich weiter vertiefen, wenn die Kinder jetzt in den Haushalt der Mutter zurückkehren, denn die Defizite der Mutter in ihrer Erziehungsfähigkeit bestehen fort. Diese ist unstreitig psychisch krank und nicht bereit, die erforderliche Diagnose stellen und sich helfen zu lassen.
Das Gericht erwähnt ergänzend, dass die Mutter ihre eigene Befindlichkeit über das Wohl der Kinder stelle und erläutert seinen Beschluss auch damit, dass eine andere Entscheidung nicht angemessen sein würde.
Der vorgenommene Sorgerechtsentzug mit dem Ziel der Fortführung der Fremdunterbringung der Kinder ist zur Abwendung der bestehenden Kindeswohlschädigungen auch erforderlich, denn mildere, gleich geeignete Mittel stehen nicht zur Verfügung.
Als milderes, gleich geeignetes Mittel kommt grundsätzlich die Zustimmung der sorgeberechtigten Eltern zur Fortdauer der Fremdunterbringung der Kinder in Betracht, eine solche verweigerte die Mutter jedoch mehrfach und nachdrücklich.
Ein milderes, gleich geeignetes Mittel zur Abwendung der Kindeswohlgefährdung ist insbesondere nicht die Installation ambulanter Hilfen. Die bloße verbale Bereitschaft der Mutter unter dem Druck des laufenden Verfahrens, öffentliche Hilfen anzunehmen, ist nicht ausreichend.
Die erneute Gefährdung des körperlichen und seelischen Kindeswohls durch weitere Vorfälle häuslicher Gewalt kann im Fall einer Rückführung der Kinder in den mütterlichen Haushalt auch nicht durch ambulante Hilfen allein abgewendet werden, da jede ambulante Hilfe, selbst wenn sie engmaschig installiert wird, lediglich einen Zeitraum von wenigen Stunden pro Woche abdeckt und Eskalationen von Konflikten außerhalb dieser Zeitfenster hierdurch nicht verhindert werden können.
Der Sorgerechtsentzug ist schließlich auch angemessen, die Schwere des Eingriffs steht dabei in einem ausgewogenen Verhältnis zu dem erstrebten Schutz der Rechtsgüter auf Seiten der Kinder, nämlich deren körperlicher, geistiger und seelischer Unversehrtheit. Die Angemessenheit des Eingriffs in das Erziehungsrecht der Eltern ergibt sich aus der Intensität der Kindeswohlgefährdung, denn es sind – wie bereits ausgeführt – schon Schädigungen des Kindeswohls bei allen fünf Kindern eingetreten, und zwar in körperlicher, seelischer und geistiger Hinsicht, die durch die getroffenen sorgerechtlichen Maßnahmen teilweise beseitigt, jedenfalls aber deren Vertiefung abgewendet werden konnten.
von:
Empfehlungen der NRW-Landesjugendämter zum Kinderschutz