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Kein Tier ist in der Lage die Angst so hartnäckig und lange zu verdrängen wie der Mensch
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Damian ist drei Jahre alt, als er mit einem Oberarmbruch in der Kinderklinik aufgenommen wird. In der Aufnahmeuntersuchung fallen dem behandelnden Arzt, zahlreiche alte und frische Blutergüsse auf. Mit dem Verdacht eines Battered Child Syndroms (Misshandlung) wird Damian zur Behandlung und vor allem zur weiteren Diagnostik stationär aufgenommen.
Die vorgenommenen Röntgenuntersuchungen zeigen zahlreiche alte Verletzungen und bestätigen schließlich den Verdacht. Damian muss durch seine Eltern erhebliche körperliche Misshandlung erlebt haben. Der Arzt verständigt das zuständige Jugendamt, das Damian in Obhut nimmt. Fassungslos beobachtet der Arzt, wenn Damian auf der Station Besuch von seinen Eltern bekommt, dass er diesen freudestrahlend um den Hals fällt, obwohl beide an der Misshandlung beteiligt waren. Die zuständige Sozialarbeiterin erklärt dem Arzt: „Natürlich haben Kinder Bindungen an ihre Eltern entwickelt, und sie sind anhänglich, egal, wie sich diese Eltern verhalten haben. Da ist doch eine Bindung, und die muss erhalten werden.“
Der Familienrichter sieht das ähnlich. Zwar entzieht er den Eltern das Aufenthaltsbestimmungsrecht, um Damian in einer Pflegefamilie unterbringen zu können, spricht den Eltern aber ein vierwöchiges Besuchsrecht zu.
Der Kinderarzt trifft bei einer Fortbildung seinen Kollegen, der in der Kieferchirurgie arbeitet. Der erzählt ihm ebenfalls fassungslos von seiner Patientin Ulrike P., 32 Jahre alt, die er sechs Wochen stationär wegen eines komplizierten Kieferbruchs, den der gewalttätige Ehemann ihr zugefügt hatte, behandelte. Nach der Entlassung aus der stationären Behandlung lehnte die Patientin das angebotene Frauenhaus trotz wiederholter Gewalterfahrung ab und kehrte mit der Begründung, dass sie ihren Mann immer noch liebe zu diesem zurück.
Der hinzugezogene Sozialdienst erklärte dem Kiefernchirurgen, dass er in diesem Fall nichts für die Frau tun könne. Natürlich handele es sich um eine pathologische, krank machende Beziehung zwischen Ulrike P. und ihrem Mann. Ohne den räumlichen Abstand des Frauenhauses sei Frau P. aber wohl nicht in der Lage, sich aus dieser pathogenen Bindung zu lösen.
Warum binden sich Menschen an andere Menschen, die sie bedroht, verletzt, gequält haben?
Menschen suchen gesteigert nach Nähe und Schutz, wenn sie sich fürchten. Dies gilt ganz besonders für Kinder. Bindungstheoretiker würden jetzt von einer Aktivierung des Bindungsverhaltens sprechen. Wenn niemand anderes zur Verfügung steht, sucht ein Kind wie Damian Trost bei denjenigen, die ihm gleichzeitig soviel Angst machen.
Auch vor einem Lerntheoretischen Hintergrund ist Damians Verhalten verständlich: Wenn ein Kind lernt, dass ein aggressiver Elternteil aggressiver wird, wenn es Angst und Schmerz zeigt, aber beschwichtigt werden kann, wenn es Angst und Schmerz leugnet, kann beim erneuten Zusammentreffen dieses Verhalten wieder ausgelöst werden. Nienstedt/ Westermann sprechen in diesem Fall von einer Angstbindung, einer beobachtbar angstmotivierten Anpassung. Die Kinder haben Angstabwehrmechanismen entwickelt, um psychisch zu überleben: Verleugnung, Identifikation mit dem Aggressor oder mit der Opferrolle, Größenfantasien und Pseudoautonomie oder auch Denkstörungen binden ein Kind an die misshandelnde Bezugsperson.
Bei Ulrike P. können wir davon ausgehen, dass sie vor dem Hintergrund eigener kindlicher Gewalterfahrungen sich eine Beziehung gesucht hat, in der sie das vertraute Muster der Gewalt wieder findet. Oder um es mit den Worten von Anette Streek-Fischer auszudrücken „Alles Neue ist potentiell bedrohlich. Was vertraut ist, wird tendenziell als Sicherheit gesucht, selbst dann, wenn das Vertraute eine Vorhersehbare Quelle des Schreckens ist.“
In bedrohlich erlebten Situationen wird Bindungsverhalten aktiviert und zielt auf Schutz und Fürsorge. Diagnostisch ergibt sich in der Kontaktsituation nun das Problem, dass sich das Kind im Gegensatz zu Kindern mit z. B. desorganisiertem Bindungsverhalten daher unauffällig im Kontakt mit den ehemals misshandelnden Eltern verhält und an diese gebunden wirkt.
Dies gilt auch für Erwachsene Täter-Opfer-Konstellation und ist unter dem Begriff Stockholm-Syndrom bekannt. Unter dem Stockholm-Syndrom versteht man ein psychologisches Phänomen, bei dem Opfer von Geiselnahmen ein positives emotionales Verhältnis zu ihren Entführern aufbauen. Dies kann dazu führen, dass Opfer mit den Tätern kooperieren, Mitleid fühlen oder sogar Liebesgefühle für sie entwickeln.Der Begriff des Stockholm-Syndroms geht auf die fünftägige Geiselnahme von vier Angestellten einer schwedischen Kreditbank im August 1973 zurück. Die Medien berichteten damals ausführlich über die Angst der Geiseln. Dabei zeigte sich, dass die Geiseln eine größere Angst gegenüber der Polizei als gegenüber den Geiselnehmern entwickelt hatten. Trotz ihrer Angst empfanden die Geiseln auch nach der Geiselnahme keinen Hass gegen die Geiselnehmer. Vielmehr waren sie ihnen sogar dankbar für ihre Freilassung, baten später um Gnade für die Täter und besuchten sie im Gefängnis.
Als Erklärung für dieses paradox wirkende Verhalten, werden verschiedene Erklärungsansätze diskutiert. Sowohl Opfer als auch Täter verfolgen das Ziel, den Vorfall zu überleben, deshalb kooperieren sie. Opfer versuchen sich im Rahmen einer unkalkulierbaren Situation zu schützen, indem sie versuchen, die Wünsche eines Täters zu erfüllen. Täter werden sich Opfern gegenüber oftmals wohlwollend verhalten, um eine Eskalation der Situation zu vermeiden. Hieraus kann eine emotionale Bindung und Dankbarkeit von Opfern gegenüber Tätern entstehen. Der maximale Kontrollverlust bei einer Geiselnahme ist nur schwer verkraftbar. Erträglicher wird dies, wenn sich das Opfer einredet, es sei zum Teil auch sein Wille, z. B. da es sich mit den Motiven der Entführer identifiziert.
Die Motive, sich an die Täter zu binden sind bei Kindern und Erwachsenen sehr ähnlich. Während es uns aber absurd erscheint, dass eine erwachsene Frau, zu dem Menschen, der sie bedroht und in höchste Angst versetzt hat, nach Beendigung der Gefahrensituation noch Kontakt hält, gehen wir bei einer gewaltgeprägten Eltern- Kind-Beziehung automatisch davon aus, dass es sich hierbei um eine schützenswerte Bindung handelt, die durch Kontakt auf jeden Fall aufrecht erhalten werden sollte.
Dass diese Bindung hauptsächlich aus Angst und dem Bedürfnis besteht, das Gegenüber nicht zu reizen, lässt sich nur erkennen, wenn man die Situation aus den Augen des betroffenen Kindes betrachtet.