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Perspektivpapier der Kinderschutzzentren zum sexuellen Missbrauch an Kindern
Kinder sind weit häufiger von sexuellem Missbrauch in ihren Familien und ihrem sozialen Umfeld betroffen als von kommerzieller sexueller Ausbeutung.
Und sexueller Missbrauch von Kindern in ihrem sozialen Nahraum durch Personen, die sie kennen und denen sie vertrauen, stellt einen erheblichen Risikofaktor für kommerzielle Sexuelle Ausbeu-tung dar. Das bedeutet, dass wirksame Hilfen bei der Überwindung von familiären Gewaltbeziehungen im sozialen Nahraum eine wichtige Bedeutung für die Prävention von kommerzieller sexueller Ausbeutung von Kindern haben.
Meine Anregungen und programmatischen Thesen für unsere Diskussion auf dieser Konferenz beziehen sich –dieser Blickrichtung folgend- auf nichtkommerzielle Sexuelle Gewalt an Kindern. Ich möchte im Folgenden Aspekte benennen, die mir für die Fortschreibung eines Nationalen Aktionsplans II und weitere Maßnahmen gegen sexuellen Missbrauch an Kindern in Deutschland besonders wichtig zu sein scheinen.
Zunächst zur Ausgangslage: Standortbestimmung „Umgang mit Sexuellem Missbrauch an Kindern“
Wir blicken zurück auf fast 30 Jahre Enttabuisierung des Themas „Sexueller Missbrauchs von Kindern in ihren Familien“ (und ihrem unmittelbaren Lebensumfeld).Vergegenwärtigen wir uns, wo wir jetzt stehen und was wir erreicht haben:
Wir konstatieren
o deutlich gewachsenes öffentliches und fachliches Bewusstsein ( die „Kultur des Schweigens“ und „Beschuldigung der Opfer“ sind nicht mehr an der Tagesordnung wie vor 30 Jahren…)
o eine Vielfalt an Maßnahmen, Projekten, Hilfeeinrichtungen, die im Bereich primärer, sekundärer und tertiärer Prävention von sexuellem Missbrauch aktiv sind (Beratungs- und Therapieangebote, Präventionsprojekte für Kinder, Elternarbeit…)
o zahlreiche Verbesserungen hinsichtlich (straf-)rechtlicher Rahmenbedingungen und Verfahren des institutionellen Umgangs mit Opfern sexuellen Missbrauchs (Verfahrensrecht, Zeugenbegleitung, Videoaufzeichnung bei polizeilicher Vernehmung etc.,...)
o spezifischeres Wissen über die Betroffenheit von Kindern und Jugendlichen von sexualisierter Gewalt im sozialen Nahraum ( Praxiswissen, Forschung, Kriminalstatistiken…)
o Entwicklung fachlicher Standards in der Hilfepraxis für Kinder bei sexueller Gewalt ( qualifizierte Praxis von Beratung und Behandlung von Kindern: Wissen um Dynamiken und Erleben sexueller Miss-handlung, um Risiken und Ressourcen, Symptome, Entwicklungs-beeinträchtigungen und Schutzfaktoren von Kindern in gefährdenden Beziehungen..)
Der Sachstandsbericht zum Aktionsplan der Bundesregierung zum Schutz von Kindern vor sexueller Gewalt und Ausbeutung gibt hier einen anschaulichen Ein- und Überblick.
Für die Arbeit in den kommenden Jahren scheint mir folgendes besonders wichtig:
1. Stand an erreichter qualifizierter Praxis erhalten und absichern
Wie bereits in den Vorkonferenzen zum Weltkongress in Rio festgestellt, ist es erforderlich, den Stand an entwickelter spezifischer Fachpraxis im Umgang mit Fällen, in denen Kinder sexuell missbraucht werden zu erhalten und auszubauen. Die vorhandenen Hilfs- und Beratungsangebote und - einrichtungen der Unterstützung von Kindern und Familien mit ihren langjährigen Erfahrungen und Kompetenzen müssen –vor allem finanziell- abgesichert werden. Neue Aufgaben der Unterstützung von Kindern und Jugendlichen und ihren Familien sind im Zusammenhang mit dem Thema Pornografie im Internet von diesen Beratungseinrichtungen zu leisten.
2.Weitergabe der Erfahrungen und Qualitätsstandards zu Risikoeinschätzung und Gestaltung von Hilfeprozessen bei sexueller Gewalt
Das entwickelte spezifische Wissen über Risikoeinschätzung und Gestaltung von Hilfeprozessen bei sexueller Misshandlung von Kindern muss im Rahmen von Qualifizierung weiter verbreitet und weitergegeben werden (Stichwort: Generationswechsel...). Dies bedeutet gezielte Einbeziehung und Berücksichtigung des Themas in Aus- und Fortbildung.
3.Spezifische Fachstandards der Hilfepraxis bei sexueller Gewalt an Kindern vertiefen und deutlicher differenzieren
Wir brauchen einen vertiefenden Fachdiskurs über die bisher erreichten fachlichen Standards bei sexueller Gewalt an Kindern im sozialen Nahraum sowohl in der primär-, als auch in der sekundär- und tertiarpräventiven Arbeit. Fachliche Kontroversen sollten gezielt aufgegriffen werden, um Weiterentwicklungen zu ermöglichen.
Beispiele:
o Umgang mit dem Begriff „sexueller Missbrauch/ Sexuelle Gewalt“ (vgl. die unterschiedlich verwandten Begrifflichkeiten z.B. im StGB, diversen fachlichen Handbüchern und auch im Sachstandsbericht der Bundesregierung, in dem synonym formuliert wird: sexueller Missbrauch, sexueller Gewalt, sexualisierte Gewalt, sexuelle Übergriffe…) Es muß klarer differenziert werden (Vergewaltigung, sexuelle Nötigung, sexuelle Übergriffe, sexualisierte Berührungen, etc. sind zu unterscheiden...). Wie hilfreich ist in der Arbeit mit den betroffenen Kindern das Konstrukt „Sexueller Missbrauch“? Verstellt es möglicherweise den Blick auf die jeweiligen Handlungen, den Hintergrund, die Bedeutung, den Beziehungs-kontext und die sich daraus ergebenen Schutz-, Hilfe- und Bewältigungsperspektiven für das betroffene Kind? Es geht hierbei weniger um formale Definition als um Verständnis- und Handlungsansätze in der Praxis. Eine differenzierte Problemsicht ist die Grundlage für Ziel gerichtetes Handeln.
o Aufgreifen fachlicher Kontroversen / Diskussion um die Art und Weise der Einbeziehung von Familien in die Gestaltung der Hilfeplanung bei familialer sexueller Gewalt - insbesondere die Einbeziehung derer, die die sexueller Misshandlung ausgeübt haben
o Weiterentwicklung spezieller Fragestellungen bei denen der fachliche Umgang verbessert werden muss, wie z.B. Hilfen für Kinder mit Behinderungen oder Hilfen für Familien mit multi-ethnischem Hintergrund.
4.Internationale Erfahrungen einbeziehen - Internationalen Austausch fördern
Die Konferenz in Rio hat gezeigt, dass ein Austausch über nationale Grenzen hinweg erforderlich ist. Qualifizierung und Fachdiskurse in der Jugendhilfe sind noch viel zu sehr begrenzt auf den regionalen bzw. nationalen Rahmen. Ein Austausch über Hilfepraxis auf internationaler Ebene unterstützt dabei, den Horizont zu erweitern und neue Anregungen für die nationalen Hilfesysteme
und die Gestaltung von Praxis vor Ort aufgreifen zu können. Dies sollte unbedingt Standard werden.
5.Dialog Praxis: Wissenschaft – mehr qualifizierte Praxisforschung
Die Beispiele erfolgreicher Praxis der Hilfeprozesse bei sexueller Misshandlung von Kindern in Familien müssen mehr publik gemacht und diesbezügliche Erfahrungen und Erkenntnisse im Hinblick auf ausbaufähige Perspektiven analysiert werden.
Es ist dringend erforderlich, dass bewährte Praxis auch in Deutschland Gegenstand von qualifizierter Praxisforschung wird (gemeint sind nicht Schmalspurprojekte zu Legitimationszwecken …). Jugendhilfe braucht mehr Kontakt zu Forschung und vor allem umgekehrt: Forschung braucht mehr Kontakt zu konkreter Hilfe-praxis. Dabei sollte weniger das Phänomen sexueller Misshandlung an sich als vielmehr die Frage, wann und unter welchen Um-ständen, welche Hilfen wirksam sind, Gegenstand von Praxis-forschung sein. Klinische Studien sind i.d.R. eher auf isoliert herausgefilterte Faktoren bezogen und bilden die Komplexität der Problemlagen, mit der Jugendhilfe zu tun hat kaum ab. Deshalb brauchen wir qualitative und anspruchsvolle Praxisforschung.
6.Evaluation von primärpräventiven Programmen
Es werden zahlreiche Präventionsprogramme unterschiedlichster Anbieter zu sexuellem Missbrauch an Schulen, Kindergärten durchgeführt. Indes gibt es wenig Erkenntnisse über deren Effektivität. Bei einigen Angeboten bestehen Zweifel an der fachlichen Ausgewiesenheit. Die von K. Lalor zusammengestellte Literaturstudie 5 verweist darauf, dass es international wenig Hinweise auf Wirksamkeit gibt und bei allen untersuchten Präventionsprogrammen vor allem Informationsgewinn aber kaum Zunahme an Verhaltenssicherheit festgestellt wurde. Auch hier wäre eine qualifizierte Evaluation mit follow-up-design zu begrüßen.
7.Fachkompetenz erweitern durch Bezugnahme auf /Integration in andere Fachdiskurse
Gegenläufig zu mehr Vertiefung und Differenzierung sollte der erreichte Stand an spezieller Fachkompetenz beim Erkennen und Umgang mit sexueller Gewalt gegen Kinder in Familien systema-tisch erweitert und bezogen werden auf andere Fachdiskurse. Sexuelle Übergriffe und missbräuchliche Beziehungen zu Kindern gehen häufig einher mit anderen (familiären) Problemkonstella-tionen wie Vernachlässigung, Sucht- und psychische Erkrankungen. Deshalb brauchen wir einen Fachdiskurs mit weiterem Horizont zusammen mit anderen Fachdisziplinen und Diskussionskontexten.
8.Ganzheitliches Problemverstehen bei Sexueller Misshandlung von Kindern und integrierte Hilfegestaltung im Rahmen von Maßnahmen der Jugendhilfe
Sexuelle Misshandlung nimmt eine merkwürdige Sonderrolle im Kinderschutz ein. Das hängt zum einen mit der Geschichte der Enttabuisierung des Themas und zum anderen mit ihrer spezifischen Dynamik zusammen: Bei Sexuellem Missbrauch ist eine Psychodynamik wirksam, die – anders als bei anderen Formen der Gewalt gegen Kinder- außerordentlich geprägt ist von Scham und Schuld sowie insbesondere Spaltung und Polarisierung. Das bedeutet spezielle Anforderungen. Gleichzeitig gilt es aber, die speziellen Herausforderungen einzubetten in einen breiteren Horizont und eine ganzheitlichere Sicht auf Hilfen für Kinder bei Gefährdungen durch ihre Familien. Sexuelle Misshandlung von Kindern geht häufig einher mit anderen Formen der Gewalt : Kinder sind häufig neben sexueller Gewalt gleichzeitig auch noch von anderen Gewalterfahrungen in ihren Familien, wie Vernachlässigung, Partnerschaftsgewalt u.a.m. betroffen. Was heißt das für die Gestaltung von Hilfen? Macht es Sinn, sexuelle Misshandlung als einzige Problemstellung aus einer mehrschich-tigen Problemkonstellation einzeln herauszupicken?
Wir brauchen deshalb eine ganzheitliche Sicht, sowohl was das Problemverstehen, als vor allem auch, was die Gestaltung von Hilfeprozessen und das Zusammenwirken im Hilfesystem der Jugend- und Gesundheitshilfe betrifft.
Dies gilt insbesondere, wenn die Kinder aus besonders belasteten Familien mit Multiproblemkonstellationen erreicht werden sollen – wie sie das Klientel der Jugendhilfe darstellen. Es sind immerhin dieselben Kinder und Familien, die häufig mit einem Nebeneinanderher an Spezialmaßnahmen konfrontiert werden.
In Rio wurde in dieser Hinsicht auf die Notwendigkeit hingewiesen, integrierte Maßnahmen mit einem breiten Fokus und Bezugnahme auf das gesamte Kinderschutz- und Hilfesystem zu entwickeln. Es müsse darum gehen, das Hilfesystem in Richtung integrierter und integrierender Versorgung weiterzuentwickeln, die die Entwicklung der Kinder begleitet (reviewing the development), eine frühe Aufmerksamkeit gewährleistet (Einbeziehung des Themas in die „Frühen Hilfen“...), auf den laufenden Regeldiensten und -einrichtungen basiert, Zugang zu allen Kindern Familien im Blick hat und dabei möglichst bezogen ist auf konkrete Lebensphasen (Lifecycle approach) und sensible Schlüsselmomente und Übergänge im Leben der Kinder und Familien (Keytransition points).
9. Sexuelle Misshandlung und Risikoeinschätzung von Kindeswohlgefährdung nach §8a SGB VIII
Fragen zum Vorgehen bei Vermutungen von sexueller Misshand-lung im Rahmen der Risikoabschätzung von Kindeswohlgefährdung nach §8a SGB VIII müssen sowohl im Rahmen der Verfahrens-standards der Jugendhilfe als auch bei den diesbezüglichen Fortbildungen und derzeitigen bundesweiten Qualifizierungs-maßnahmen aufgegriffen werden. Insbesondere hinsichtlich der Einbeziehung und direkten Ansprache von Eltern und Kindern besteht große Unsicherheit. (Die Einbeziehung von Eltern und Kindern – wie im §8a SGB VIII vorgegeben - wird bei Vermutungen von sexuellem Missbrauch z.T. gleich von vornherein ausge-schlossen, mit der fraglosen Annahme, dass dies per se eine Gefährdung darstelle. Dies ist fachlich so nicht zu rechtfertigen.) Kontakt im Konflikt herzustellen ist bei sexueller Gewalt gegen Kinder lediglich eine besonders große Herausforderung für die HelferInnen.
10.Hören was Kinder (nicht) sagen und „the best interest of the child“ in den Mittelpunkt stellen
Kinder, die im Zentrum von Hilfemaßnahmen stehen sollen, geraten leicht aus dem Blick. Hilfen und Hilfeverfahren, gehen schnell über ihre Köpfe und Seelen hinweg. Manchmal werden sie gar nicht angehört. Zum Teil bestehen große Unsicherheiten, mit Kindern über schwierige Dinge zu sprechen.
Was ist erforderlich:
- Zum einen und grundsätzlich, Kinder und Jugendliche als Dialogpartner und Experten in eigener Sache anzusehen und grundsätzlich partizipativ einzubeziehen (wie z.B. im KJHG und auch bei der Risikoabschätzung im Rahmen von §8a SGBVIII vorgegeben...).
- Zum anderen, die Kindgerechtigkeit von Hilfen, Verfahren und Maßnahmen überprüfen.
- Das heißt, den Blick auf Kinder zu richten: einen ganzheitlichen Blick auf das jeweilige Kind und seine Bedürfnisse, Entwicklungsbedarfe, -beeinträchtigungen und -ressourcen. Wenn wir das tun stellen wir fest, dass der Blick auf uns zurückfällt: Wenn Kinder schwierige oder schlimme Erfahrungen machen, erleben sie heftige Affekte, Verwirrung, Angst und vor allem Scham und Schuld. Sie brauchen, um sich anzuvertrauen, ein emotional verfügbares und belastbares Gegenüber, das mit den verwirrenden Ambivalenzerfahrungen ruhig umgehen und sie aushalten kann. Sie brauchen Orientierung und Halt gebende Resonanz. Sind wir dazu in der Lage oder sind wir mit unseren eigenen (heftigen) Affekten, Abwehr, Unsicherheit und Hilflosigkeit beschäftigt? Wie können wir damit umgehen?
In Rio wurde häufig geäußert: es gehe darum zu hören, was Kinder sagen - und was sie nicht sagen. Kinder erzählen und offenbaren so viel von dem, was sie beschäftigt, wie wir – ihre Ansprechpartner und Bezugspersonen aufnehmen, aushalten, sehen und verstehen können (und wollen). "Das beste Interesse des Kindes " und sein Wohl in den Mittelpunkt zu stellen bedeutet deshalb zunächst immer auch, seinen Blick auf uns und seine Beziehung zu uns wahrzunehmen.
_Cordula Stucke - Kinderschutzzentrum Hamburg
Stellungnahme zur pauschalen Infragestellung von Betroffenen sexuellen Kindesmissbrauchs in organisierten und rituellen Strukturen