Stellungnahme von neun überregionalen Institutionen zum Bundesratbeschluss in der SGB VIII-Reform
Mit großer Sorge haben die unterzeichnenden zehn Fachverbände drei Empfehlungen der Ausschüsse und den Beschluss des Bundesrates zum Kinderschutz im Rahmen der Beratungen
des Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) zur Kenntnis genommen. Neben vielen wichtigen Hinweisen und Veränderungen gegenüber dem Entwurf der Regierung, fallen diese beschlossenen Regelungen leider deutlich hinter die Notwendigkeiten eines gelingenden Kinderschutzes zurück. Die zehn Verbände haben aus diesem Grund eine Stellungnahme zu den geplanten Vorschlägen erarbeitet.
Stellungnahme zum Bundesratsbeschluss vom 12.2.2021 Kinder – und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) Drucksache 5/1/21 Empfehlungen der Ausschüsse des Bundesrates / Beschluss des Bundesrates vom 12.02.2021
Bundesarbeitsgemeinschaft Die Kinderschutz-Zentren e. V.
Bundesverband für Erziehungshilfe e. V. (AFET)
Bundesverband katholischer Erziehungshilfeeinrichtungen e. V. (BVkE)
Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie e. V. (DGSF)
Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht e. V. (DIJuF)
Deutscher Sozialgerichtstag e. V. (DSGT)
Evangelischer Erziehungshilfeverband e. V. (EREV)
Internationale Gesellschaft für Erzieherische Hilfen e. V. (IGfH)
Mit großer Sorge haben die unterzeichnenden Fachverbände drei Empfehlungen der Ausschüsse und den Beschluss des Bundesrates zum Kinderschutz im Rahmen der Beratungen des Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) zur Kenntnis genommen. Neben vielen wichtigen Hinweisen und Veränderungen gegenüber dem Entwurf der Regierung, fallen diese beschlossenen Regelungen leider deutlich hinter die Notwendigkeiten eines gelingenden Kinderschutzes zurück. Wann suchen Kinder Hilfe und wann wenden sie sich an Erwachsene? Wie können Fachkräfte achtsam und zuverlässig Anzeichen von Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung wahrnehmen? Wann sind Hilfemaßnahmen für die Kinder und Familien in schwierigen Konflikt- 2 lagen erfolgreich? Wie kann Gewalt frühzeitig erkannt, beendet und Hilfe zur Veränderung ermöglicht werden? Wie kann die Beteiligung der Kinder und des gesamten Familiensystems sowie das interdisziplinäre Zusammenwirken der Fachkräfte konstruktiv im Sinne des Kinderschutzes gelingen? Solchen Fragen muss sich der Gesetzgeber stellen, wenn es um Maßnahmen zum Kinderschutz geht, die bei jungen Menschen ansetzen und in den Familien tatsächlich auch ankommen sollen! Die vom Bundesrat vorgelegten Regelungsvorschläge sind zur Beantwortung dieser Fragen nicht geeignet und hochproblematisch, denn sie konterkarieren den Ansatz des auf niedrigschwelligen Zugängen und in professioneller Breite dem Schutzauftrag verpflichteten deutschen Kinderschutzes. Sie erschüttern die Balance zwischen Hilfe, die nachhaltig gestaltet ist, und Kontrolle in ihren Grundfesten – zum Nachteil für den Schutz von Kindern.
1. Allgemeine Warnpflicht für Jugendämter:
§ 8a Abs. 3 S. 3 SGB VIII-BeschlussBR/6 Das Anliegen, Kinder und Jugendliche – insbesondere in Institutionen – vor sexualisierter Gewalt effektiv zu schützen und hierzu rechtssichere Informationsmöglichkeiten und -pflichten zu regeln, wird geteilt. Die vom Bundesrat vorgeschlagene Einführung einer Warnpflicht des Jugendamts in § 8a Abs. 3 SGB VIII-BeschlussBR hätte jedoch erhebliche, für einen effektiven Kinderschutz gefährliche, Nebenwirkungen.
Die Regelung passt schon systematisch nicht in die Logik des § 8a SGB VIII, denn sie vermischt den Schutzauftrag für ein konkretes Kind mit allgemeinen Gefahrenabwehraufgaben für andere Kinder. § 8a Abs. 3 SGB VIII bezieht sich auf die Konstellation, dass zur Abwendung einer konkreten Gefahr (die das Jugendamt nach Abs. 1 festgestellt hat) für eines oder mehrere bestimmte Kinder eine Einbeziehung Dritter erforderlich ist. Die Ergänzung hat eine vollständig andere Zielrichtung.
Die Schwelle zur Informationspflicht bleibt unklar und entspricht nicht der bekannten Terminologie. Es bleibt völlig unklar, ob das Jugendamt in Bezug auf ein bestimmtes Kind bereits eindeutig eine Kindeswohlgefährdung festgestellt haben muss oder ob auch eine vermutete Gefährdung ausreicht („über den konkreten Kindeswohlgefährdungsfall hinaus“). Weiter sind Unsicherheiten vorprogrammiert, ob es Unterschiede zwischen „Anhaltspunkten“ und „Tatsachen, die nahelegen …“ gibt. Die Terminologie ist dem SGB VIII sowie dem deutschen Kinderschutzrecht nicht nur bislang fremd, sondern auch unklar, wenn nicht irreführend.
„Tatsachen“ – ein nur scheinbar bestimmter Begriff: Wenn die Schwelle für die Warnpflicht mit Tatsachen beschrieben werden, dann können dies unspezifische Äußerungen von Kindern oder eindeutige, rechtsmedizinisch gesicherte Spuren, abzuklärende Belastungsanzeichen bei Kindern oder sichergestelltes, explizites Videomaterial sein. Die daraus abgeleiteten zwingenden Handlungspflichten nach § 8a Abs. 3 S. 3 SGB VIII-E sind die gleichen, unabhängig davon, mit welchem Grad der Wahrscheinlichkeit anderen Kindern Gefahr droht.
„konkreten Kindeswohlgefährdungsfall“ – jeder 8a-Fall ist konkret: Scheinklarheit vermittelt auch der Bezug auf einen konkreten Kindeswohlgefährdungsfall. Jedes Verfahren, das ein Jugendamt nach § 8a SGB VIII eröffnet, ist konkret. Dies sagt jedoch nichts darüber aus, wie gewichtig die Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung sind, wie wahrscheinlich das Vorliegen der Kindeswohlgefährdung ist oder ob davon auszugehen ist, dass die Gefährdung bereits als sicher anzunehmen ist.
„Tätigwerden“ Dritter erforderlich: Erforderlichkeit eines Tätigwerdens Dritter wird an eine uneingeschränkte, zwingende Pflicht zur Einschaltung gekoppelt. Eine Abwägung bei dieser regelmäßig schwierigen, oft dilemmatischen Entscheidung ist nicht vorgesehen. Eine solche ist aber unbedingt notwendig. Zu berücksichtigen wären der Grad der Sicherheit in Bezug auf die Gefährdung des konkreten Kindes, um das es im 8a-Verfahren geht, die Schwere der Gefährdung für das konkrete Kind, die Auswirkungen einer Warnung auf den Schutz für das konkrete Kind, der Grad der Sicherheit in Bezug auf die 3 Gefährdung weiterer, unbestimmter Kinder, die Schwere der Gefährdung weiterer, unbestimmter Kinder und die Auswirkungen der Warnung auf die Persönlichkeitsrechte der betroffenen Person. Diese Abwägungsaufgabe wäre sinnvollerweise gesetzlich zu normieren und hierbei ein Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte vorzusehen.
Die in dem Vorschlag formulierte quasi präventive Warnfunktion des Jugendamts steht in Konflikt mit den Schutz- und Hilfeaufgaben des Jugendamts. Die Bereitschaft, sich dem Jugendamt gegenüber zu öffnen und Hilfe anzunehmen, setzt Vertrauen voraus.
Nicht ausreichend in den Blick genommen scheint bislang auch das Verhältnis zum Persönlichkeitsrecht der Person, vor welcher gewarnt werden soll. Es müsste klargestellt sein, dass die Person vor der Weitergabe anzuhören und zu informieren ist bzw. wann zur Sicherstellung des Schutzes ausnahmsweise davon abgesehen werden kann.
Schließlich erfasst der Vorschlag nur Konstellationen, in denen das Jugendamt überhaupt informiert wurde, und ein „konkreter Kindeswohlgefährdungsfall“ vorliegt. Was gilt z. B., wenn der Fall nur in der Einrichtung (z. B. einem Sportverein) bekannt wird? Was gilt, wenn es kein aktueller Fall ist, sondern nur bekannt wird, dass der/die Mitarbeitende in der Vergangenheit wegen einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Kindern verurteilt wurde?
Durch den Vorschlag ist es nicht mehr möglich, zwischen gerechtfertigten und falschen Verdächtigungen zu entscheiden. Das Risiko, dass unbescholtene Familien fälschlicherweise beschuldigt werden, ist immens. Es wird daher dringend angeregt, nicht vorschnell eine wenig effektive, weitere Rechtsunsicherheit schaffende sowie das Vertrauen in die Institution Jugendamt erschütternde, allgemeine Warnpflicht der Jugendämter ins SGB VIII aufzunehmen. Stattdessen braucht es eine breite Fachdebatte, ob und wie ein verlässlicher rechtlicher Rahmen geschaffen werden kann, wer unter welchen Voraussetzungen wen über den Verdacht eines sexuellen Missbrauchs durch den/die Mitarbeitende einer Institution informieren darf.
2. Informationspflicht für Berufsgeheimnisträger*innen:
§ 4 Abs. 3 KKGBeschlussBR/53 Bei der vorgeschlagenen Neuregelung handelt es sich nicht, wie die Begründung zur Bundesratsentschließung vorgibt, um die „Schließung einer Schutzlücke“, sondern um eine Norm mit einem komplett neuen Gehalt und mit verheerenden Auswirkungen auf die Hilfepraxis an der Schnittstelle zwischen Jugendamt und Beratungsstellen, Angebote der Frühen Hilfen und andere wichtige Einrichtungen, in denen erste Zugänge zu Kindern aus belasteten Familiensystemen und von Gewalt Betroffenen, hergestellt werden. Diese Regelung schützt Kinder nicht, sondern schürt Ängste vor Helfer*innensystemen! Die bisherige Befugnisnorm des § 4 Abs. 3 KKG dient dem Schutz der vertrauensvollen Arbeitsbeziehung (z. B. in der Arbeit eines/einer Kinder- und Jugendtherapeut*in, eines Kinderarztes oder Kinder- und Jugendpsychiaters, einer Beraterin in einer Schwangerschaftsberatungsstelle oder in einer Fachberatungsstelle bei sexualisierter Gewalt) und birgt zugleich die Möglichkeit der Übermittlung gewichtiger Informationen an das Jugendamt, sollte eine Hilfe mit den eigenen Mitteln nicht mehr ausreichend oder nicht mehr möglich sein.
Gerade die Gestaltungen dieser Übergänge sind die zentralen Weichenstellungen auf dem Weg von niedrigschwelligen Zugängen bis zur kooperativen Sicherstellung des Schutzes. Sie dürfen nicht durch verschärfende „Soll“-Regelungen verschüttet werden! Wenn die Regelung eine Pflicht zur „unverzüglichen“ Meldung vorsieht, scheinen dabei ganz bestimmte Konstellationen im Fokus zu stehen, in denen tatsächlich ein sofortiges Tätigwerden 4 des Jugendamts für einen effektiven Schutz erforderlich ist. In anderen Fällen verbaut die unverzügliche Hinzuziehung des Jugendamts hingegen den Weg zum Schutz.
Drei Beispiele:
Für einen alleinerziehenden Vater, der sich nach einer Trennung an eine Erziehungsberatungsstelle wendet, da er aufgrund einer depressiven Verstimmung erhebliche Schwierigkeiten mit der Versorgung seiner drei Kinder hat, kann es zum Schutz notwendig sein, mit ihm in der Beratungsstelle den Weg zur erforderlichen Inanspruchnahme von Hilfe beim Jugendamt zu erarbeiten.
Wenn eine Jugendliche einer Schulsozialarbeiterin gegenüber anvertraut, dass sie von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht wird und entschieden hinzufügt, dass sie alles abstreiten werde, wenn die Schulsozialarbeiterin dies jemand anderem erzählt, muss es möglich sein, vor der erforderlichen Einschaltung des Jugendamts mit ihr zu erarbeiten, wie sie diesen Weg mitgehen kann.
Eine Schwangere wendet sich an eine Schwangerschaftsberatungsstelle, weil sie verzweifelt ist. Aufgrund ihrer psychischen Erkrankung sieht sie erhebliche Schwierigkeiten bei der Erziehung ihres zweijährigen Sohnes und hat Angst, dass sie völlig überfordert sein würde, wenn ein weiteres Kind hinzukommt. Sie will lieber abtreiben, bevor das Jugendamt ihr den Sohn wegnimmt. Die Schwangerschaftsberatungsstelle arbeitet mit der schwangeren Mutter an den Ängsten vor dem Jugendamt, um die erforderliche Einbeziehung zu ermöglichen. Rechtliche Einschätzung In der Begründung zur vorgeschlagenen Änderung von § 4 KGG wird beklagt, der bisherige Regelungsgehalt der Vorschrift sei unklar gewesen und habe Rechts- und Handlungsunsicherheit bewirkt. Eine Umstellung der Reihenfolge der Absätze bei im Wesentlichen gleich gebliebenem Inhalt der Vorschrift verschärfe diese Problematik noch. Überdies müsse eine Schutzlücke in § 4 Abs. 3 KKG geschlossen werden und die bestehende Handlungspflicht der Angehörigen bestimmter Berufsgruppen bei erkannter Kindeswohlgefährdung ausdrücklich klargestellt werden. Der genaue juristische Blick auf die Änderungsvorschläge ergibt unter Einbeziehung der Begründung, dass diese keineswegs Rechts- und Handlungssicherheit herstellen, sondern ihrerseits zur Rechtsunklarheit beitragen.
Die Vorschrift soll laut Begründung zur Schließung einer Schutzlücke die bestehende Handlungspflicht ausdrücklich klarstellen. Es soll klargestellt werden, dass nicht nur eine Befugnis, sondern eine Verpflichtung zur Information des Jugendamtes besteht, wenn dies zur Abwendung der Gefährdung aus Sicht der Berufsgeheimnisträger*innen erforderlich ist (Kann- zu Soll-Regelung). Es handelt sich dabei nicht um Klarstellungen des Inhalts einer unklaren Norm, sondern um eine gezielt gewollte Neuregelung mit grundlegenden Auswirkungen für das gesamte deutsche Kinderschutzsystem. Berufsgeheimnisträger*innen waren bisher zur Information des Jugendamtes befugt und gerade nicht verpflichtet. Eine Begründung sollte eine präzise Ausdrucksweise verwenden und nicht den Anschein erwecken, als habe sich der frühere Gesetzgeber nur unpräzise ausgedrückt und etwas anderes gewollt. Nach dem Vorschlag des Bundesrats ist vielmehr die Einführung einer Meldepflicht und damit ein Paradigmenwechsel gewollt.
Nach § 4 Abs. 3 KKG-BeschlussBR „sollen“ nunmehr Angehörige einer der maßgeblichen Berufsgruppen „unverzüglich“ das Jugendamt informieren, wenn sie/er ein Tätigwerden des Jugendamtes für erforderlich hält. Mit anderen Worten kann von der Pflicht nur in atypischen Ausnahmefällen abgewichen werden.
Mit der Forderung nach einem interkollegialen Austausch wird eine Norm befördert, die im gesamten Reformprozess und den Beteiligungsforen nicht zur Sprache kam und die schon in der 5 Einführung von Landeskinderschutzgesetzen aufgrund rechtlicher Mängel nicht durchgesetzt werden konnte (NRW 2015). Aus rechtssystematischer Sicht ist die Norm hoch bedenklich, da sie eine Vielzahl unbestimmter Begriffe bereitstellt, die unklar erscheinen lassen, unter welchen Bedingungen, welche Informationen an wen weitergegeben werden sollen. Schon jetzt haben Ärzt*innen und andere Berufsgeheimnisträger*innen ausreichende Befugnisse, Mitteilungen an das Jugendamt zu machen oder sich mit anderen über Verdachtsmomente auszutauschen. Zudem gibt es in allen Berufssystemen die Möglichkeit, schwierige Fälle supervisorisch begleiten zu lassen. Die Herabsenkung der Datenschutzschwelle, sich interkollegial beraten zu können, ist deshalb gar nicht notwendig.
Vor allem drei Gründe sprechen dagegen:
Die Forderung der interkollegialen Beratung der Kinderärzt*innen untereinander führt zu einer weiteren Abschottung des professionellen medizinischen Systems, geht damit in eine falsche Richtung und steht dem kooperativen Kinderschutzgedanken kontraproduktiv entgegen!
Eine Herabsenkung der Datenschutzschwelle gefährdet die Vertrauensbeziehung zwischen Arzt/Ärztin und Kind/Eltern. Es besteht die absehbare Gefahr der Verunsicherung von Eltern, die in den interkollegialen Austausch zwischen Ärzt*innen nicht einbezogen werden, mit der möglichen Folge, dass sie sich und ihren Kindern notwendige ärztliche Untersuchungen entziehen bzw. ärztliche Hilfe erst gar nicht in Anspruch nehmen werden. Dies widerspricht fundamental dem im SGB VIII basal eingeführten Grundprinzip der Beteiligung von Eltern und Kindern.
Am medizinischen Diagnoseinventar ausgerichtete und risikobasierte Datenbanken (www.riskid.de/kinderschutz-in-der-warteschleife/) sind nicht nur datenschutzrechtlich bedenklich, sondern auch in ihrer diagnostischen Aussagekraft unzulänglich, da es sich bei Kindeswohlgefährdung in der Regel um einen Zusammenhang von medizinischen, sozialen und familialen Problemlagen handelt. Durch die Reduktion einfacher medizinischer Zusammenhänge und die Nichtbeteiligung von Betroffenen erwachsen nicht nur Gefahren der Stigmatisierung ganzer Familien, sondern auch falschpositiver Zuschreibungen, die sich dann als diagnostische Fehler äußern können – mit teilweise fatalen Folgen für die betroffenen Menschen.
4. Fazit
Kindeswohlgefährdende Situationen sind grundsätzlich hochkomplex und systemübergreifende Maßnahmen zum Kinderschutz nicht linear-kausal ableitbar. Gesetzliche Normierungen sollten sowohl die fachliche Autonomie von Fachkräften für individuelle, bedarfsgerechte Entscheidungen für Familien als auch die kontextuellen Bedingungen (Qualifizierung, Personalschlüssel, verbindliche Kooperation- und Netzwerkarbeit) in Jugendhilfe und Gesundheitswesen stärken. Eltern und Kinder, denen es mit ihren Eltern nicht gut geht, haben ein Recht auf ein vertrauliches Gespräch mit dem/der Ärzt*in oder Psychotherapeut*in, der Familienhebamme, der Lehrkraft etc. und auf ein gemeinsames Suchen nach Lösungen und ggf. eine abgestimmte Information an das Jugendamt.
Eine Vertrauensbeziehung zwischen Eltern, Kindern und professionellen Akteur*innen ist die Grundlage für die Annahme von Hilfe und eine nachhaltige Veränderung der familiären Situation. Das deutsche Kinderschutzsystem basiert auf der Grundannahme und nutzt den Umstand, dass Kinder, Jugendliche und Familien in vielfältiger Weise einen vertrauensvollen und nied- 6 rigschwelligen Zugang zu Fachkräften haben. Nur so erhöhen sich die Chancen, dass schwache Signale erkannt, verstanden und adäquat aufgegriffen werden. Dieses Prinzip vertrauensvoller Zugänge muss sich auch in der Zusammenarbeit der unterschiedlichen Akteur*innen als wichtiger Basis dieses Systems spiegeln! Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass die Zugänge vom Kind aus gedacht sind. Gesetzliche Normen sollen Kinderschutz rahmen, verbessern und stärken.
Die hier vorgeschlagenen Regelungen gehen am intendierten Ziel vorbei und erschüttern die fundamentalen Prinzipien des deutschen Kinderschutzes. Mehr noch forcieren sie einen Paradigmenwechsel und untergraben das Vertrauen in professionelles Handeln und seine Institutionen! Die unterzeichnenden Fachverbände fordern daher: 1. § 8a Abs. 3 S. 3 SGB VIII-BeschlussBR/6 streichen! 2. § 4 Abs. 3 KKG-BeschlussBR/53 streichen! 3. § 4a KKG-BeschlussBR/55 streichen!
Bundesarbeitsgemeinschaft Die Kinderschutz-Zentren e. V. Dr. Stefan Heinitz, heinitz@kinderschutz-zentren.org
Bundesverband für Erziehungshilfe e. V. (AFET) Dr. Koralia Sekler, sekler@afet-ev.de
Bundesverband katholischer Erziehungshilfeeinrichtungen e. V. (BVkE) Stephan Hiller, stephan.hiller@caritas.de
Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie e. V. (DGSF) Dr. med. Filip Caby, Anke Lingnau-Carduck und Birgit Averbeck, averbeck@dgsf.org
Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht e. V. (DIJuF) Katharina Lohse, lohse@dijuf.de
Deutscher Sozialgerichtstag e. V. (DSGT) Monika Paulat, praesidentin@sozialgerichtstag.de
Evangelischer Erziehungshilfeverband e. V. (EREV) Dr. Björn Hagen, b.hagen@erev.de
Internationale Gesellschaft für Erzieherische Hilfen e. V. (IGfH) Dr. Hans Ullrich Krause, krause@kinderhaus-b-b.de und igfh@igfh.de
von:
Stellungnahme von neun überregionalen Institutionen zum Bundesratbeschluss in der SGB VIII-Reform
Themen:
Stellungnahme zum Bundesratsbeschluss vom 12.2.2021 Kinder – und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) Drucksache 5/1/21 Empfehlungen der Ausschüsse des Bundesrates / Beschluss des Bundesrates vom 12.02.2021
Mit großer Sorge haben die unterzeichnenden Fachverbände drei Empfehlungen der Ausschüsse und den Beschluss des Bundesrates zum Kinderschutz im Rahmen der Beratungen des Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) zur Kenntnis genommen. Neben vielen wichtigen Hinweisen und Veränderungen gegenüber dem Entwurf der Regierung, fallen diese beschlossenen Regelungen leider deutlich hinter die Notwendigkeiten eines gelingenden Kinderschutzes zurück. Wann suchen Kinder Hilfe und wann wenden sie sich an Erwachsene? Wie können Fachkräfte achtsam und zuverlässig Anzeichen von Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung wahrnehmen? Wann sind Hilfemaßnahmen für die Kinder und Familien in schwierigen Konflikt- 2 lagen erfolgreich? Wie kann Gewalt frühzeitig erkannt, beendet und Hilfe zur Veränderung ermöglicht werden? Wie kann die Beteiligung der Kinder und des gesamten Familiensystems sowie das interdisziplinäre Zusammenwirken der Fachkräfte konstruktiv im Sinne des Kinderschutzes gelingen? Solchen Fragen muss sich der Gesetzgeber stellen, wenn es um Maßnahmen zum Kinderschutz geht, die bei jungen Menschen ansetzen und in den Familien tatsächlich auch ankommen sollen! Die vom Bundesrat vorgelegten Regelungsvorschläge sind zur Beantwortung dieser Fragen nicht geeignet und hochproblematisch, denn sie konterkarieren den Ansatz des auf niedrigschwelligen Zugängen und in professioneller Breite dem Schutzauftrag verpflichteten deutschen Kinderschutzes. Sie erschüttern die Balance zwischen Hilfe, die nachhaltig gestaltet ist, und Kontrolle in ihren Grundfesten – zum Nachteil für den Schutz von Kindern.
1. Allgemeine Warnpflicht für Jugendämter:
§ 8a Abs. 3 S. 3 SGB VIII-BeschlussBR/6 Das Anliegen, Kinder und Jugendliche – insbesondere in Institutionen – vor sexualisierter Gewalt effektiv zu schützen und hierzu rechtssichere Informationsmöglichkeiten und -pflichten zu regeln, wird geteilt. Die vom Bundesrat vorgeschlagene Einführung einer Warnpflicht des Jugendamts in § 8a Abs. 3 SGB VIII-BeschlussBR hätte jedoch erhebliche, für einen effektiven Kinderschutz gefährliche, Nebenwirkungen.
2. Informationspflicht für Berufsgeheimnisträger*innen:
§ 4 Abs. 3 KKGBeschlussBR/53 Bei der vorgeschlagenen Neuregelung handelt es sich nicht, wie die Begründung zur Bundesratsentschließung vorgibt, um die „Schließung einer Schutzlücke“, sondern um eine Norm mit einem komplett neuen Gehalt und mit verheerenden Auswirkungen auf die Hilfepraxis an der Schnittstelle zwischen Jugendamt und Beratungsstellen, Angebote der Frühen Hilfen und andere wichtige Einrichtungen, in denen erste Zugänge zu Kindern aus belasteten Familiensystemen und von Gewalt Betroffenen, hergestellt werden. Diese Regelung schützt Kinder nicht, sondern schürt Ängste vor Helfer*innensystemen! Die bisherige Befugnisnorm des § 4 Abs. 3 KKG dient dem Schutz der vertrauensvollen Arbeitsbeziehung (z. B. in der Arbeit eines/einer Kinder- und Jugendtherapeut*in, eines Kinderarztes oder Kinder- und Jugendpsychiaters, einer Beraterin in einer Schwangerschaftsberatungsstelle oder in einer Fachberatungsstelle bei sexualisierter Gewalt) und birgt zugleich die Möglichkeit der Übermittlung gewichtiger Informationen an das Jugendamt, sollte eine Hilfe mit den eigenen Mitteln nicht mehr ausreichend oder nicht mehr möglich sein.
Gerade die Gestaltungen dieser Übergänge sind die zentralen Weichenstellungen auf dem Weg von niedrigschwelligen Zugängen bis zur kooperativen Sicherstellung des Schutzes. Sie dürfen nicht durch verschärfende „Soll“-Regelungen verschüttet werden! Wenn die Regelung eine Pflicht zur „unverzüglichen“ Meldung vorsieht, scheinen dabei ganz bestimmte Konstellationen im Fokus zu stehen, in denen tatsächlich ein sofortiges Tätigwerden 4 des Jugendamts für einen effektiven Schutz erforderlich ist. In anderen Fällen verbaut die unverzügliche Hinzuziehung des Jugendamts hingegen den Weg zum Schutz.
Drei Beispiele:
3. Interkollegialer Fachaustausch, § 4a KKG-BeschlussBR/55
Mit der Forderung nach einem interkollegialen Austausch wird eine Norm befördert, die im gesamten Reformprozess und den Beteiligungsforen nicht zur Sprache kam und die schon in der 5 Einführung von Landeskinderschutzgesetzen aufgrund rechtlicher Mängel nicht durchgesetzt werden konnte (NRW 2015). Aus rechtssystematischer Sicht ist die Norm hoch bedenklich, da sie eine Vielzahl unbestimmter Begriffe bereitstellt, die unklar erscheinen lassen, unter welchen Bedingungen, welche Informationen an wen weitergegeben werden sollen. Schon jetzt haben Ärzt*innen und andere Berufsgeheimnisträger*innen ausreichende Befugnisse, Mitteilungen an das Jugendamt zu machen oder sich mit anderen über Verdachtsmomente auszutauschen. Zudem gibt es in allen Berufssystemen die Möglichkeit, schwierige Fälle supervisorisch begleiten zu lassen. Die Herabsenkung der Datenschutzschwelle, sich interkollegial beraten zu können, ist deshalb gar nicht notwendig.
Vor allem drei Gründe sprechen dagegen:
4. Fazit
Kindeswohlgefährdende Situationen sind grundsätzlich hochkomplex und systemübergreifende Maßnahmen zum Kinderschutz nicht linear-kausal ableitbar. Gesetzliche Normierungen sollten sowohl die fachliche Autonomie von Fachkräften für individuelle, bedarfsgerechte Entscheidungen für Familien als auch die kontextuellen Bedingungen (Qualifizierung, Personalschlüssel, verbindliche Kooperation- und Netzwerkarbeit) in Jugendhilfe und Gesundheitswesen stärken. Eltern und Kinder, denen es mit ihren Eltern nicht gut geht, haben ein Recht auf ein vertrauliches Gespräch mit dem/der Ärzt*in oder Psychotherapeut*in, der Familienhebamme, der Lehrkraft etc. und auf ein gemeinsames Suchen nach Lösungen und ggf. eine abgestimmte Information an das Jugendamt.
Eine Vertrauensbeziehung zwischen Eltern, Kindern und professionellen Akteur*innen ist die Grundlage für die Annahme von Hilfe und eine nachhaltige Veränderung der familiären Situation. Das deutsche Kinderschutzsystem basiert auf der Grundannahme und nutzt den Umstand, dass Kinder, Jugendliche und Familien in vielfältiger Weise einen vertrauensvollen und nied- 6 rigschwelligen Zugang zu Fachkräften haben. Nur so erhöhen sich die Chancen, dass schwache Signale erkannt, verstanden und adäquat aufgegriffen werden. Dieses Prinzip vertrauensvoller Zugänge muss sich auch in der Zusammenarbeit der unterschiedlichen Akteur*innen als wichtiger Basis dieses Systems spiegeln! Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass die Zugänge vom Kind aus gedacht sind. Gesetzliche Normen sollen Kinderschutz rahmen, verbessern und stärken.
Die hier vorgeschlagenen Regelungen gehen am intendierten Ziel vorbei und erschüttern die fundamentalen Prinzipien des deutschen Kinderschutzes. Mehr noch forcieren sie einen Paradigmenwechsel und untergraben das Vertrauen in professionelles Handeln und seine Institutionen! Die unterzeichnenden Fachverbände fordern daher: 1. § 8a Abs. 3 S. 3 SGB VIII-BeschlussBR/6 streichen! 2. § 4 Abs. 3 KKG-BeschlussBR/53 streichen! 3. § 4a KKG-BeschlussBR/55 streichen!
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