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25.10.2019
Stellungnahme

Stellungnahme von Careleaver e.V. zur geplanten Änderung der Kostenerstattung

Stellungnahme zur Kostenheranziehung nach § 92 ff. SGB VIII in Bezug auf den Gesetzentwurf zu § 94 Absatz 6 Achtes Buch Sozialgesetzbuch im Rahmen der Änderung des Neunten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Rechtsvorschriften. des Vereins Careleaver e.V. - ein Verein für junge Volljährige aus der Jugendhilfe.

Stellungnahme von Careleaver e.V.

Der Careleaver e. V. ist eine bundesweite Interessenvertretung von jungen Menschen, die in Einrichtungen oder Pflegefamilien aufwachsen oder diese bereits verlassen haben. Der Verein setzt sich für die Interessen dieser jungen Menschen ein und möchte ihnen in der (Kinder- und Jugendhilfe-)Politik eine Stimme geben. Die Kostenheranziehung ist ein wichtiges Thema, das viele Jugendliche und junge Volljährige in der stationären Jugendhilfe beschäftigt.

Der Careleaver e. V. hat hierzu bereits am 23.07.2018 eine Stellungnahme geschrieben und sich für eine Streichung der Kostenheranziehung ausgesprochen. Mit Sorge mussten wir feststellen, dass jetzt im Eilverfahren die Kostenheranziehung zu Ungunsten der jungen Menschen durch das Gesetz zur Änderung des Neunten und des Zwölften Sozialgesetzbuches und anderer Rechtsvorschriften geändert werden soll. Wir möchten an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen und uns hierzu noch einmal positionieren. Das aktuelle Vorgehen ist intransparent und bedenklich! Ein wichtiger Stützpfeiler unserer Demokratie ist unser aller Vertrauen in ebendiese. Vertrauen, welches mit dem Einbringen der Änderung des § 94 Abs. 6 SGB VIII erschüttert wurde. Das Thema der Kostenheranziehung wurde im Rahmen der SGB VIII-Reform diskutiert und sowohl die AG SGB VIII: Mitreden – Mitgestalten als auch das Dialogforum Pflegekinderhilfe haben sich mehrheitlich für eine Streichung oder zumindest für eine spürbare Reduzierung der Kostenheranziehung ausgesprochen. Durch Legitimation bisheriger rechtswidriger Praxis werden junge Menschen in der Kinder- und Jugendhilfe benachteiligt!

Unserer Erfahrung nach ist es in den meisten Jugendämtern schon lange gängige Praxis, das aktuelle Monatseinkommen heranzuziehen und nicht das durchschnittliche Monatseinkommen des Vorjahres nach § 93 Abs. 4 SGB VIII. Und das passiert weiterhin, obwohl es mehrere Urteile von Verwaltungsgerichten und ein Urteil vom OVG Sachsen (09.05.19 3 A 751/18) gibt, die bestätigen, dass das durchschnittliche Monatseinkommen des Vorjahres auch bei jungen Menschen berechnet werden muss.  

Für uns wirkt es daher wie ein Versuch, eine rechtswidrige Praxis an der SGB VIII-Reform vorbei zu legitimieren zu Lasten der betroffenen jungen Menschen.

Im Übrigen benötigt die Berechnung des aktuellen Monatseinkommens einen höheren Verwaltungsaufwand gegenüber dem aktuellen aber kaum umgesetzten Modell. Nach aktueller Rechtslage muss das Einkommen des jungen Menschen nur einmal im Jahr berechnet werden. Wenn das aktuelle monatliche Einkommen berechnet wird, muss das meist mehrfach im Jahr getan werden. Uns sind Kommunen bekannt, in denen der Verwaltungsaufwand bei der Berechnung des aktuellen Monatseinkommens den Ertrag aus der Kostenheranziehung übersteigt. Den meisten jungen Menschen in stationären Hilfen zur Erziehung würde diese Gesetzesänderung auch nicht zugutekommen – im Gegenteil. In der Regel wird im Alter von 16 Jahren eine Ausbildung oder Maßnahme angefangen. Und ein Großteil dieser Menschen möchte, oft ebenfalls aus Gründen rechtswidriger Praxis, nicht über das 18. Lebensjahr im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe weiter betreut werden. Also verbleiben für die meisten zwei Jahre, in denen sie während ihrer Hilfe ein Einkommen beziehen.

Bei gesetzeskonformer Umsetzung des § 93 Abs.4 SGB VIII würde den jungen Menschen ein Jahr übrig bleiben ihr Einkommen anzusparen. Mit der neuen Gesetzesänderung wäre dies unmöglich. Es ist aber zwingend notwendig, dass junge Menschen in stationären Hilfen Geld für den Übergang in ein selbstbestimmtes Leben ansparen können. Dieses Geld ist für die Einrichtung und Kaution der ersten Wohnung und für einen Führerschein, wenn er gebraucht wird, unerlässlich. Eine gleichberechtigte soziale Teilhabe von Careleavern würde somit erschwert werden. Stattdessen werden damit soziale Ungleichheit und die Armutsspirale verstärkt.

Ein Rechenbeispiel: Folgendes fiktives Beispiel soll dies verdeutlichen: einem Sechzehnjährigen, der im September eine Ausbildung mit einer Vergütung von 400 Euro pro Monat beginnt, hätte im ersten Ausbildungsjahr keine Abgaben, vorausgesetzt er hatte im Vorjahr kein anderes Einkommen. Im zweiten Jahr würden nach Abzug von 75% des durchschnittlichen Monatseinkommens des Vorjahres ihm noch 100 Euro im Monat übrigbleiben. Nach geplanter Änderung des § 94 Abs.6 SGB VIII, kann er in dem Jahr, in dem er die Ausbildung angefangen hat, den Großteil seines Einkommens nicht ansparen. Wenn jedoch im zweiten Jahr das durchschnittliche Monatseinkommen des Vorjahres als Berechnungsgrundlage verwendet wird, so darf er ca. 300 Euro pro Monat behalten.

Für einen jungen Menschen macht diese Differenz einen gewaltigen Unterschied. Um genau zu sein macht es in diesem fiktiven Beispiel einen Unterschied von 3600 Euro in einem Zeitraum von 16 Monaten. Bei der Berechnung nach aktueller Rechtslage dürfte der junge Mensch 5200 Euro behalten. Bei der Berechnung des aktuellen monatlichen Einkommens wären es hingegen nur 1600 Euro. Bereits jetzt führt die aktuelle gesetzliche Regelung dazu, dass junge Menschen vor der Entscheidung stehen, wenn sie das gesamte Lehrgeld behalten wollen, die Jugendhilfemaßnahme mit 18 Jahren zu beenden. Die geplante Gesetzesänderung würde dies aus unserer Sicht weiter verstärken und in der Umsetzung wären junge Volljährige einer höheren Gefahr ausgesetzt, Jugendhilfemaßnahmen zu früh zu beenden, so dass das Risiko von Brüchen in der Bildungsbiografie für sie steigen würde. Aus oben genannten Gründen sind wir gegen die geplante Gesetzesänderung. Daher fordern wir, dass diese Gesetzesänderung restlos gestrichen wird.

Careleaver e.V.