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Provozieren, um zu testen - Pflegekinder haben oft Probleme in der Schule
Studie beleuchtet Hintergründe
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Pflege- und Adoptivkinder sind eine belastete Klientel. Das hat Konsequenzen für ihr Auftreten in der Schule: Ihr Leistungsniveau ist oft niedrig – und ihr Verhalten auffällig. Forscher der Uni Siegen haben jetzt eine Langzeitstudie gestartet, um mehr über das Leben von Pflegekindern erfahren. Das erscheint nötig: Das Zahl der Betroffenen ist in den vergangenen Jahren drastisch gestiegen.
„Ich weiß noch, als wir eine Klassenfahrt unternommen haben, da brauchte ich ein Schreiben von der Schule, was ich meiner Pflegemutter geben konnte, die das wiederum beim Jugendamt beantragen musste – und ich weiß noch gut, dass ich mich gewunden hab wie ein Aal, dieses Schreiben zu bekommen und erinnere mich, dass der Lehrer fragte, ja wofür brauchst du das denn. Das war ganz furchtbar für mich, vor der ganzen Klasse zu sagen, ich brauche das für meine Pflegemutter.“
Diese Begebenheit aus der Grundschulzeit eines Pflegekindes, protokolliert von der Diplom-Pädagogin Daniela Reimer (die die neue Langzeitstudie leitet, siehe unten), ist eine Schlüsselszene, die das Kernproblem der meisten Pflege- und Adoptivkinder anschaulich macht: Bindungen zu den sie umgebenden Menschen können von ihnen nicht als stabil und selbstverständlich erlebt werden. Selbstsicherheit und Widerstandsfähigkeit, Grundvoraussetzungen für erfolgreiche Lernprozesse, sind massiv angekratzt. So wird alles, was das ohnehin als fragil erlebte Beziehungsgeflecht infrage stellt (wie ein Antrag beim Jugendamt), als besonders schmerzlich erlebt. Die Betroffene: „Dann wurde ich dann natürlich in der Pause drauf angesprochen, und ich weiß schon, dass das einigen sehr komisch vorkam und ich glaube auch, dass einige das zuhause erzählt haben und da auch entsprechend geimpft wurden. So nach dem Motto: Wenn die nicht mehr bei ihren Eltern wohnt, dann stimmt da irgendwas nicht.“
„Peinliche“ Situationen
Solche von Pflege- und Adoptivkindern als besonders „peinlich“ erlebten Situationen treten immer wieder in der Schule auf. Wenn Mitschülern auffällt, dass der Nachname der Pflegefamilie von dem des Kindes abweicht (weshalb viele betroffene Kinder darauf bestehen, den Namen der Pflegeeltern für schulische Zwecke zu nutzen, auch wenn keine offizielle Namensänderung erfolgt ist). Wenn die Lehrkraft vor dem Elternsprechtag klären muss, dass die Pflegeeltern überhaupt Auskünfte bekommen dürfen. Oder wenn Kinder Fotos von ihrer Familie zum Unterricht mitbringen sollen – und dann das Thema Familienähnlichkeit in der Klasse diskutiert wird. Natürlich können Lehrkräfte nicht jede solcher Situationen vermeiden. Sie können allerdings sensibel damit umgehen (anders etwa als jener Grundschulleiter, der Pflegeeltern unvermittelt fragte, wann das Kind denn wieder zu den leiblichen Eltern zurückmüsse – in dessen Beisein).
Die Zahl der betroffenen Kinder ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Das Statistische Bundesamt meldete für 2015 bundesweit mehr als 52.000 Inobhutnahmen aufgrund einer akuten Gefährdungslage in der Herkunftsfamilie – 2009 waren es lediglich rund 33.000.
„Die (…) Frage, ob ein Pflegekind ein besonderes Schulkind sei, muss mit einem deutlichen Ja beantwortet werden: Ein Pflegekind ist ein besonders Schulkind!“, so schreibt der im Umgang mit Pflegekindern erfahrene Sozialpädagoge Heinzjürgen Ertmer. „Es (das Pflegekind) kommt erstens aus einem komplizierten Zwei-Familien-System und ist vor und neben der Schulzeit noch mit ganz besonderen Umständen beschäftigt. Zweitens hat das Pflegekind, bevor es die Schulzeit beginnt, öfter schon schicksalsschwere Erlebnisse durchlitten, hat vielleicht schon früh sich mit Verlust, Unklarem und viel Fremden auseinandersetzen müssen. Daher benötigen Pflegekinder auch von Kindergarten und Schule besonders viel Wissen, Einfühlungsvermögen, Verständnis, Lob und Anerkennung.”
„Mangelnde Fügsamkeit“
Allerdings fangen hier häufig die schulischen Probleme an: Denn das Verhalten von Pflege- und Adoptivkindern ist allzu oft eben gerade nicht darauf ausgelegt, „Einfühlungsvermögen, Verständnis, Lob und Anerkennung” bei seinen Lehrerinnen und Lehrern hervorzurufen – im Gegenteil.
„Ein Kind, das in seiner frühen Kindheit der Willkür seiner Bezugspersonen ausgesetzt war und dabei existenzbedrohende Erfahrungen gemacht hat, wird sich keinesfalls wieder gerne in die Rolle des Abhängigen begeben. Dies aber wird spätestens in der Schule verbindlich von ihm erwartet. Das Kind wird weiter versuchen, unter allen Umständen über sich selbst zu bestimmen, die Kontrolle zu behalten. Dieses Bestreben ist mit dem schulischen Alltag nicht vereinbar. Es führt zu Schwierigkeiten, angemessenes Verhalten zu zeigen, zu mangelnder Fügsamkeit, Unsteuerbarkeit, nervösen Verhaltensproblemen (zum Beispiel Ticks) oder emotionaler Fehlanpassung. Ein Aufgeben dieser Haltung ist erst möglich, wenn das Kind durch seine eigene Leistung ein wenig Selbstachtung und Selbstwertgefühl erlangen konnte“, so berichtet die Erzieherin und Sonderschullehrerin Maike Lohmann. Weil allerdings sein unangepasstes Verhalten in der Schule in der Regel eher Reaktionen hervorruft, die es als Zurückweisung erlebt, ist es für das betroffene Kind kaum möglich, die fürs Lernen notwendige Widerstandskraft zu entwickeln. Ein Teufelskreis.
Zumal Pflege- und Adoptivkinder häufig anderes (für sie wichtigeres) im Kopf haben, als gute Leistungen in der Schule zu zeigen. „Sie müssen in der Gegenwart ankommen, sie müssen sich mit Vergangenem auseinandersetzen. Sie müssen sehr verschiedene Welten miteinander in Einklang bringen, zum Beispiel durch Besuchskontakte“, so heißt es im „Ratgeber Schule für Kinder in Familienpflege und Adoption“ von Henrike Hopp. Besuchskontakte – das sind meist regelmäßig stattfindende Treffen mit den leiblichen Eltern, die für die Kinder stark belastend sind. Denn Besuchskontakte stellen für sie immer wieder die Beziehungen zur Pflegefamilie infrage. Kein Wunder also, dass nach solchen Treffen häufig Auffälligkeiten in der Schule festzustellen sind.
Rückschritte drohen
Das bedeutet zum einen: Das ohnehin meist relativ niedrige Leistungsniveau bricht ein (Maike Lohmann: „Das Kind mit einem Bindungstrauma und demzufolge einhergehender mangelnder Ansprache in der frühen Kindheit wird große Schwierigkeiten haben, das Gehörte aufzunehmen und zu verarbeiten.“) Zum anderen: Das Sozialverhalten kann sich nochmal verschlechtern. Sowieso haben viele Pflege- und Adoptivkinder Probleme, sich in den Klassenverbund einzufügen. „Themen wie Schulängste, (...) andauernde Hausaufgabenproblematik, psychosomatische Leiden außerhalb der Ferien, starke Aggressionen, den Unterricht störendes Verhalten oder Kontaktlosigkeit in der Schule wiederholen sich“, so berichtet Lohmann.
Was Lehrkräfte unbedingt wissen müssen: Gerade wenn sich die Situation für ein Pflege- und Adoptivkind zu stabilisieren scheint, drohen dramatisch erscheinende Rückschritte. Denn: Ein solches Kind testet die Standfestigkeit der ihm wichtigen Beziehungen aus – immer wieder. „Gerade einen Lehrer, zu dem das Kind begonnen hat, eine positive Beziehung aufzubauen, wird es provozieren, um zu sehen, ob er es mit dem Wohlwollen gegenüber auch wirklich ernst meint. Ein Verhalten, das Pflegeeltern aus den ersten Jahren mit dem Kind nur zu gut kennen“, schreibt Maike Lohmann, „und das, bleibt man standhaft, meist dazu führt, dass das Kind langsam beginnt, eine tragfähige Beziehung aufzubauen“. Heißt: viel Geduld aufbringen!
bibo / Agentur für Bildungsjournalismus
Quelle: news4teacher vom 4. August 2017