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11.08.2018
Politik

Fehleinschätzungen und Versäumnissen im "Fall Staufen"

Anlässlich des Urteils im „Missbrauchsfall Staufen“ gegen die Mutter des betroffenen Kindes Berrin T. und ihres Lebensgefährten Christian L. fordert der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), Johannes-Wilhelm Rörig, eine umfassende Aufarbeitung der gerichtlichen und behördlichen Versäumnisse.

Pressemitteilung vom 7.8.2018 - Missbrauchsbeauftragter Rörig zu Urteilsverkündung im Hauptprozess gegen Haupttäter Berrin T. und Christian L. im „Fall Staufen“:

Rörig: „Mit dem Urteil ist der „Fall Staufen“ nicht abgeschlossen. Er wirft ein Schlaglicht auf gerichtliche und behördliche Versäumnisse, aus denen wir bundesweit Lehren ziehen müssen.“

Anlässlich des Urteils im „Missbrauchsfall Staufen“ gegen die Mutter des betroffenen Kindes Berrin T. und ihres Lebensgefährten Christian L. fordert der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), Johannes-Wilhelm Rörig, eine umfassende Aufarbeitung der gerichtlichen und behördlichen Versäumnisse.

Rörig: „Ich erwarte mit großer Spannung die Urteilsverkündung und auch, wie es mit der Aufarbeitung des Staufener Falles weitergeht. Der Fall darf nicht als regionaler Einzelfall betrachtet werden. Es gab offensichtlich strukturelle Probleme im Zusammenspiel von Gerichten und Behörden, die jetzt umfassend untersucht und aufgearbeitet werden müssen. Es geht um grundlegende Fragen der Zusammenarbeit und personellen Ausstattung von Gerichten und Behörden im Kampf um das Kindeswohl sowie der Qualifizierung beteiligter Fachkräfte. Der „Fall Staufen“ legt eine Reihe von Fehleinschätzungen und Versäumnissen offen. Wir sind es dem Kind schuldig, jetzt die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Das betrifft das Land Baden-Württemberg, alle anderen Länder und auch die Bundesjustizministerin.“

Erste Ergebnisse der Aufarbeitung wurden für September angekündigt. Ein Bericht einer Arbeitsgruppe, bestehend aus Richtern des Oberlandesgerichts Karlsruhe, des Amtsgerichts Freiburg sowie aus Mitarbeitenden des Jugendamts Breisgau-Hochschwarzwald, zur Kommunikation zwischen den Gerichten und Behörden sowie zur Einhaltung von gerichtlichen Anweisungen soll dann von einer interministeriellen Arbeitsgruppe diskutiert und mögliche Konsequenzen daraus abgeleitet werden. „Es ist notwendig“, so Rörig, „dass die Landesregierung Baden-Württembergs jetzt alles daran setzt, den „Fall Staufen“ vollständig auszuleuchten. Wir brauchen Antworten auf die Fragen: Warum wurden Mitteilungspflichten verletzt? Warum alarmierten die Verstöße gegen Bewährungsauflagen nicht die richtigen Stellen? Warum wurde das Kind nicht angehört und kein Verfahrensbeistand bestellt? Warum vertraute das Gericht darauf, dass die Mutter das Kind vor dem Täter schon schützen werde?“

Der „Fall Staufen“ zeigt eindrücklich, welche weitreichende Bedeutung die Entscheidung der Familiengerichte für Kinder und Jugendliche und ihre Familien hat. „Ich hoffe sehr“, so Rörig, „dass von den Ländern zügig gesetzliche Regelungen zur familienrichterlichen Fortbildungspflicht

verabschiedet werden. Eine bessere Qualifikation und die damit einhergehende fachliche Sicherheit würde die richterliche Unabhängigkeit erheblich stärken und keineswegs beeinträchtigen.“

Rörig unterstützt die Festlegungen im Koalitionsvertrag der Bundesregierung zu verbindlichen Regelungen zur Fortbildung von Richtern insbesondere an Familiengerichten. Dies müsse jetzt von Bundesjustizministerin Dr. Barley und der Justizministerkonferenz vorangebracht werden. Rörig: „Wir müssen uns fragen, wie viel ist uns der Kinderschutz wert? Wenn wir eine bessere Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen Jugendämtern, Polizei und Justiz haben wollen, brauchen wir mehr und entsprechend qualifiziertes Personal.“ Als Bundesfamilienministerin habe sich Barley für den Kinderschutz sehr stark gemacht und entsprechende Fortbildungen gefordert. Als Bundesjustizministerin sehe er sie weiterhin in der Pflicht, sich uneingeschränkt für das Kindeswohl einzusetzen. Rörig würde begrüßen, wenn Baden-Württemberg den „Fall Staufen“ zum Anlass nehmen würde, eine Bundesrats-Initiative zu Richterfortbildungen und Eingangsvoraussetzungen für Familienrichter auf den Weg zu bringen.

„Dass die Mutter selbst, wie im Fall von Berrin T., aktiv ein Kind missbraucht und auch anderen Männern für Missbrauchstaten anbot, konnte sich das Familiengericht wohl nicht vorstellen. Ein fataler Trugschluss!“, so Rörig. Es fehle vielfach an Wissen. Experten gingen davon aus, dass es 10 bis 20 Prozent weibliche Täterinnen gebe. Eine Zahl, die in der Öffentlichkeit und unter Fachkräften wenig bekannt sei. Frauen seien oft Mitwisserinnen, die den Missbrauch duldeten aus Scham, Unsicherheit oder Angst, ihre Kinder und/oder die Beziehung zu verlieren. Sie missbrauchten aber auch selbst Kinder wie im „Fall Staufen“.

Es sei wichtig, so Rörig, dass alle Fachkräfte, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, aber auch Eltern und die breite Öffentlichkeit mehr Wissen zu sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche haben. Rörig plant deshalb eine auf Dauer angelegte Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagne der Bundesregierung im Umfang der Anti-Aids-Kampagne, mit der Menschen darüber informiert werden, was sexueller Missbrauch ist, wo er anfängt und was man tun kann, wenn man eine Vermutung oder einen Verdacht hat. „Es ist wichtig, dass Menschen nicht mehr wegschauen. Hierfür braucht es Wissen und Unterstützungs- und Hilfeangebote, die allen bekannt sind.“

Rörig: „Pädokriminelle Sexualstraftäter dürfen sich nicht mehr sicher fühlen, weder im Internet, noch im Darknet oder in der realen Welt. Zur Sicherstellung des Kindeswohls und zur Eindämmung sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche müssen bei allen Verantwortlichen sämtliche Handlungsoptionen ausgeschöpft werden. Der „Fall Staufen“ sollte uns eine Lehre sein.“

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Hilfsangebot des Missbrauchsbeauftragten

Betroffene, Angehörige, Fachkräfte und weitere Interessierte können sich kostenfrei und anonym an das Hilfetelefon des Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung wenden: 0800 - 22 55 530. Informationen zu Unterstützungs- und Hilfeangeboten vor Ort gibt es unter:

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