Sie sind hier

01.09.2012
Kommentar

Zehn Gedanken zum Fall Chantal und seinen Folgen

Die Berichterstattung und die vorläufigen Maßnahmen nach dem Fall Chantal haben viele Pflegeeltern aufgewühlt und führten zu lebhaften Diskussionen in Pflegeelterngruppen. Eine dieser Gruppen hat daraus ein Zehn-Punkte-Papier formuliert und es dem blickpunkt pflegekinder zur Verfügung gestellt – verbunden mit der Bitte, dass die AutorInnen anonym bleiben dürfen.

Relevant in:

Themen:

Die Berichterstattung und die vorläufigen Maßnahmen nach dem Fall Chantal haben viele Pflegeeltern aufgewühlt und führten zu lebhaften Diskussionen in Pflegeelterngruppen. Eine dieser Gruppen hat daraus ein Zehn-Punkte-Papier formuliert und es dem blickpunkt pflegekinder zur Verfügung gestellt – verbunden mit der Bitte, dass die AutorInnen anonym bleiben dürfen.

Dieser Beitrag stammt aus der Juni-Ausgabe von ‚Blickpunkt Pflegekinder‘ zum Thema: "Nach Chantal: Wohin steuert Hamburgs Pflegekinderhilfe?" Wir danken der Redaktion des Blickpunkt für die freundliche Überlassung des Beitrages.

1. Ein solcher Anlass: Chantals Tod, offenbar verursacht durch Vernachlässigung in der Familie und möglicherweise nicht verhindert durch Nachlässigkeiten von anderen Seiten, ein solcher Anlass macht betroffen, nachdenklich, traurig; man möchte nicht zuallererst reden, schon gar nicht lautstark. Wenn aus einem solchen Anlass trotzdem eine schrille öffentliche Diskussion mit unüberlegten Wortmeldungen losbricht und sich hektischer Aktionismus breit macht, kann dennoch der Wunsch entstehen, Stellung zu beziehen.

2. Ein Kind lebt in einer Familie mit drogenabhängigen Eltern, kommt an eine Packung Methadon, schluckt zu viele Tabletten und stirbt. Dieses tragische Ereignis wäre den Medien normalerweise höchstens eine knappe Meldung wert gewesen. Wer davon gehört hätte, wäre vielleicht insgeheim erleichtert, dass die eigenen Kinder unbedacht liegen gelassene Medikamente nicht eingenommen haben, und würde sich vornehmen, in Zukunft weniger unachtsam zu sein. Vermutlich hätte es keine öffentliche Diskussion gegeben.

3. In diesem Fall hatten aber ein Jugendamt und vielleicht andere Stellen offenbar Hinweise, die darauf hindeuteten, dass das Kind in verwahrlostem Zustand lebte, Hinweise, denen das Jugendamt nicht nachgegangen zu sein scheint. Der Tod Chantals wäre also möglicherweise zu verhindern gewesen. Natürlich ist es richtig und sehr notwendig, dass nun, auch durch öffentlichen Druck, alles daran gesetzt werden muss, dass Behörden ihrer Fürsorgepflicht in Zukunft besser nachkommen und früher einschreiten, wenn sie Hinweise darauf haben, dass das Wohl von Kindern gefährdet ist. Ganz besonders vor dem Hintergrund, dass 2009 in Hamburg ein anderes Kind (Lara-Mia) an Unterernährung gestorben war, was bei näherem Hinsehen durch die Behörden vielleicht auch zu verhindern gewesen wäre.

4. Doch nun passiert das, was hierzulande unausweichlich zu sein scheint – der Fall gerät reflexartig in die Mühlen hektischen politischen Aktionismus. Die einen greifen an, ohne groß nachzudenken, die anderen verteidigen sich, ohne groß nachzudenken, alle Seiten mögen ja auch das Wohl von Kindern vor Augen haben, sie lassen sich ganz offensichtlich aber vor allem durch ihr politisches Machtkalkül leiten. Es wird , an die Öffentlichkeit appelliert, populistisch und opportunistisch. Und bei den Behörden bricht Angstschweiß aus: Bloß jetzt nichts falsch machen, Hauptsache man kommt öffentlichen Anwürfen zuvor, und dabei ist nicht wichtig, was getan wird, sondern dass irgendetwas getan wird. In einem solchen Klima ist es ganz schnell zweitrangig, ob das, was gesagt und getan wird, Kindern hilft, ja vielfach gerät der eigentliche Anlass völlig in Vergessenheit, es geht um anderes.

5. Hier folgt ein Beispiel für das irrationale Zusammenwirken von Medien, Politik und Behörden. In diesem Fall: Weshalb hatte das Jugendamt Hinweise darauf, dass Chantal in ihrer Familie in verwahrlostem Zustand lebte? Aha, es handelte sich um eine Pflegefamilie, in die das Kind, vermittelt durch einen freien Träger, von dem Jugendamt gegeben wurde. Also werden in aller Eile Schlagzeilen gedruckt, die diesen Sachverhalt herausheben: „Drogenabhängige Pflegeeltern“ klingt nun mal reißerischer als „Drogenabhängigkeit in der Familie“. Da wird natürlich der Ruf nach einer besseren Kontrolle von Pflegeeltern laut, und in diesen Ruf stimmen sie alle ein, die verantwortlichen Politiker, mit möglichst starken Worten. Im NDR (und in vielen anderen Medien) wird der Senator für Arbeit, Soziales, Familie und Integration unter dem Titel „scheele will Pflegefamilien unangemeldet prüfen“ zitiert: „Und wenn ich sage kontrollieren, dann meine ich in diesen Fällen auch kontrollieren. Ich meine damit: hingehen, unangemeldet, das Kind sehen und den Maßstab einer ordentlichen Familie anlegen“. Und schon gibt es die Kluft zwischen „ordentlichen Familien“ auf der einen Seite und „Pflegefamilien“ auf der anderen Seite, schon sind zumindest in Teilen der Öffentlichkeit Pflegeeltern pauschal unter Generalverdacht geraten. Und da ein freier Träger unter vielen möglicherweise nicht sorgsam vorgegangen ist, geraten alle freien Träger öffentlich unter Verdacht.

6. Hier soll nicht vorschnell verurteilt werden, deshalb sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das Zitat des Senators, wenn es im Kontext gelesen wird, vielleicht nicht mehr ganz so klingt, als ob es vor allem Stammtische erreichen sollte. Dennoch würde man von einem erfahrenen und verantwortlichen Politiker erwarten, dass er berücksichtigt, wie das, was er sagt, in einem gegebenen Diskussionsklima von den Medien verwendet und in der Öffentlichkeit angenommen wird.

7. Hätte ein Politiker, der als Senator für Arbeit, Soziales, Familie und Integration doch fachlich wissen muss, wovon er redet, nicht stattdessen einmal besonnen und ruhig darauf hinweisen können, dass es sehr viele Kinder drogenabhängiger Eltern gibt, die in Pflegefamilien leben, weil ihre Herkunftsfamilien sich nicht um sie kümmern können? Und dass darunter schwer kranke, teils behinderte Säuglinge sind, die als drogenabhängige Babys abhängiger Mütter auf die Welt gekommen sind, und für die in ihren neuen Familien mit sehr viel Einsatz gesorgt wird? Hätte er zum Wohle von Kindern und ihren Pflegefamilien nicht versuchen können, die Vorbehalte gegen Pflegeeltern zu entkräften, die im beschriebenen öffentlichen Klima entstanden sind, statt mindestens zu riskieren, dass durch seine Äußerung eine bestehende Kluft noch weiter aufgerissen wird? Und hätte genau das nicht zu seiner Fürsorgepflicht gehört, wo er doch eine Art „oberster Dienstherr“ der Pflegeeltern ist, die formal gesehen von staatlichen Behörden mit der Pflegschaft von Kindern beauftragt werden?

8. Eine Hintergrundinformation zum Zulassungsverfahren für Pflegeeltern: Um als Pflegeeltern zugelassen zu werden, müssen Kandidaten ein formalisiertes Verfahren durchlaufen, das u.a. den Besuch mehrerer Informationsveranstaltungen und Seminarreihen bzw. -blöcke, mehrere Einzelgespräche, die oft tief in die Privatsphäre der Kandidaten führen, das Einreichen eines schriftlichen autobiographischen Überblicks und einer schriftlichen Motivation und Begründung des Wunschs, ein Pflegekind aufzunehmen, umfasst. Es muss ein polizeiliches Führungszeugnis vorgelegt und es müssen mehrere Fragebögen ausgefüllt werden, die sehr viele Bereiche des privaten Lebens betreffen. Es finden diverse Hausbesuche und ein Rundgang durch alle häuslichen Räumlichkeiten statt.
Mit der Zulassung von Bewerbern als Pflegeeltern und ggf. der Vermittlung eines oder mehrerer Pflegekinder endet normalerweise die behördliche Überprüfung der Pflegeeltern nicht: Es finden in den meisten Fällen, in denen die Vormundschaft des Pflegekindes nicht bei den Pflegeeltern liegt, regelmäßige Kontakte zwischen dem eingesetzten Vormund und den Pflegeeltern (u.a. regelmäßige Hausbesuche) statt. Normalerweise besteht regelmäßiger Kontakt zwischen der Pflegefamilie und einer zuständigen PflegeelternberaterIn, der ebenfalls regelmäßige Hausbesuche einschließt. Im Jugendamt finden regelmäßige Hilfeplangespräche statt, in denen sich Mitarbeiterinnen des Jugendamts, leibliche Eltern, PflegeelternberaterInnen, Pflegeeltern, ggf. das Pflegekind und manchmal weitere beteiligte Fachleute treffen. Darüber hinaus befinden sich Pflegekinder häufig in ärztlicher, ergo-, psychotherapeutischer oder anderer Behandlung. Pflegefamilien werden deshalb oft sprichwörtlich als „gläserne“ Familien bezeichnet.

9. Die Behörden haben sämtliche Akten aller Pflegefamilien daraufhin überprüft, ob ein Verdacht auf Drogenabhängigkeit bestand. Dazu wurden von den Jugendämtern auch externe Hilfskräfte aus anderen Behörden hinzugezogen, die sich durch die datenschutzrechtlich hoch sensiblen Daten der Pflegeeltern hindurchgearbeitet haben. Diese Daten wurden im Rahmen der Zulassungsverfahren z.T. bei freien Trägern unter hohen Datenschutzauflagen erfasst. Ohne in Kontakt mit den Pflegeeltern zu treten, haben die Behörden diese Daten von den freien Trägern eingefordert. Nicht alle, aber einige freie Träger haben die Daten wiederum ohne Rücksprache mit den von ihnen betreuten Pflegeeltern weitergegeben. Alle Pflegeeltern, die wir kennen, unterstützen eine verantwortliche und besonnene Überprüfung der familiären Verhältnisse von Pflegekindern in jeder Weise (nicht zuletzt, indem sie die beschriebenen Zulassungsverfahren und die folgende dauerhafte Supervision des Pflegeverhältnisses durch die Behörden, ja sogar eine Ausweitung der Zulassungsvoraussetzungen z.B. durch ein Gesundheitszeugnis, für richtig halten). Einige von uns haben aber doch den Eindruck, dass mit ihren Daten und ihrer Privatsphäre behutsamer umgegangen werden sollte, und dass Kindern nicht damit gedient ist, dass Behörden auf aktionistische Weise irgendwie irgendetwas unternehmen, sondern dass es vielmehr darauf ankommt, was wie unternommen wird. Wir wissen aus der Antwort auf eine entsprechende Anfrage, dass Hamburger Behörden mit solchen Bedenken zumindest z.T. (wir wollen wiederum nicht verallgemeinern) denkbar unsensibel umgegangen sind.

10. Allzu oft wird in unserer Gesellschaft mit Vorbehalten gegen hartz vi-Empfänger reagiert, wenn Einzelpersonen unberechtigter Weise staatliche Hilfe beanspruchen, mit Vorbehalten gegen Ausländer, wenn sich ein Jemand aus dieser Personengruppe etwas zuschulden kommen hat lassen, nun offenbar mit Vorbehalten gegen Pflegeeltern, wenn es einen schlimmen Todesfall in einer Pflegefamilie gab. Aber mit unbedachten Reflexen werden Scherben geschlagen, genaues Hinsehen und verantwortliches Handeln können zu Verbesserungen führen.

Die AutorInnen.

Dieser Text ist in einer 14köpfigen Pflegeelterngruppe entstanden, die sich einmal im Monat trifft. Er bildet die Grundlage einer Resolution, die die Pflegeeltern von pfiff in einer Vollversammlung verabschiedet und an Sozialsenator Detlef Scheele geschickt haben. In dieser Resolution fordern die Pflegeeltern u. a., auch weiterhin frei zwischen der Begleitung durch ein Jugendamt oder durch einen freien Träger wählen zu dürfen

Das Dokument und weitere Informationen finden Sie auf www.pflegekinder-hamburg.de

Das könnte Sie auch interessieren

Erfahrungsbericht

Manchmal absurd, manchmal grenzwertig: die vorläufigen Maßnahmen nach dem Fall Chantal.

Der Fall Chantal hat die Pflegekinderhilfe in Hamburg in ihren Grundfesten erschüttert und zu vorläufigen Maßnahmen der zuständigen Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration (BASFI) geführt. Wie erleben Pflegefamilien und die Mitglieder der Redaktionsgruppe diese vorläufigen Maßnahmen?
Erfahrungsbericht

Maßnahmen zur Feststellung der Eignung von Pflegefamilienbewerbern

Nach dem tragischen Tod eines Pflegekindes in Hamburg hat es von vielen Stellen Kommentare zur Frage gegeben, wie so etwas Schreckliches überhaupt passieren konnte. Thesen wurden formuliert, ein „Systemversagen“ diagnostiziert, verschiedene Vorschläge für eine „systematische Veränderung der gesetzlichen Grundlagen und Verfahren in der Kinder- und Jugendhilfe“ gemacht.
Erfahrungsbericht

Fachkräfte gaben sich in den Familien die Klinke in die Hand

Bei mehreren Familien wurden kurzfristig, neben den regulären Hausbesuchen vom Pflegekinderdienst (PKD), Termine von ASD-Kollegen bzw. als ASD-Vertretung von nicht zuständigen PKD-Kollegen gemacht, um vor Ort zu kontrollieren. Die Erklärungen für diese Besuche entsprachen nicht dem Beratungs-/Betreuungsbedürfnis der Familie, sondern dienten offenkundig der Erfüllung formaler Vorgaben.
Erfahrungsbericht

Die Innenrevision wird zur „Aktenfresserei“.

Bemerkenswerte Zahlen aus der Innenrevision im Jugendamt Hamburg-Bergedorf: 130 Akten Pflegekinderdienst + 130 Akten ASD – fünf MitarbeiterInnen lesen in 20 Tagen geschätzte 13 000 Seiten und geben Anregungen!
Erfahrungsbericht

Begegnung mit FAS und Gründung der Regionalgruppe Hamburg

Herr und Frau Rosenke nahmen 2002 ihr Patenkind bei sich auf. Es stellte sich heraus, dass das Mädchen am fetalen Alkoholsyndrom leidet. Um für mehr Aufklärung und Unterstützung der Betroffenen zu sorgen, hat das Ehepaar Rosenke die Regionalgruppe Hamburg und Umgebung von FASWorld ins Leben gerufen.
Aktualisierte Finanzvorschrift

Entlastungsangebot für Pflegeeltern

Die Stadt Hamburg bietet seit Kurzem erweiterte Leistungsangebote zur Stabilisierung und Entlastung von Pflegefamilien an.