Sie sind hier

11.03.2009
Interview

Erst Pflegekind – dann Pflegemutter

Interview mit einem erwachsenen Pflegekind über die eigene Geschichte und die Aufnahme eines Pflegesohnes.
HH: Vor einiger Zeit haben wir uns kennen gelernt. Sie erzählten, dass Sie selbst einmal Pflegekind waren und dann später ein Pflegekind aufgenommen haben. Ich bat Sie damals, ob Sie unseren Lesern dazu einmal etwas erzählen würden. Sie sagten spontan zu.

SB: Ja, ich glaube, es ist wichtig, dass sich auch erwachsene Pflegekinder äußern und außerdem bin ich ja auch Pflegemutter, und da gibt es schon Zusammenhänge.

HH: Wissen Sie, warum Sie Pflegekind geworden sind?

SB: Ich bin von meiner Mutter misshandelt worden. Ich musste ins Krankenhaus, hatte eine Platzwunde am Kinn. Meine Mutter sagte, ich wäre irgendwo gegen gelaufen, die Ärzte haben das aber nicht geglaubt. Immer wenn meine Mutter damals ins Krankenhaus zu Besuch kam fing ich an zu zittern und die Ärzte haben darauf hin das Jugendamt benachrichtigt.

HH: Wo sind Sie nach dem Krankenhausaufenthalt hingekommen?

SB: Vom Krankenhaus aus bin ich in ein Kinderheim gekommen. Dort war ich zwei Jahre. Ich weiß nicht, warum ich dort so lange war. Dort habe ich dann auch meine Pflegeeltern kennen gelernt. Aber daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich kann mich nur daran erinnern, dass ich immer am Fenster gestanden habe und gesagt habe: „ Mama, wann kommst du“

HH: Wie lief der Kontakt zu ihren zukünftigen Pflegeeltern ab?

SB: Zuerst kamen die Pflegeeltern zu mir ins Heim, dann habe ich sie an Wochenenden besucht und nach einem halben Jahr bin ich dann ganz zu ihnen gezogen.

HH: Waren in der Pflegefamilie noch andere Kinder?

SB: Ja, ein leiblicher Sohn – Wissen Sie, ich war ein schwieriges Kind!

HH: Wissen Sie es, oder hat man das Ihnen gesagt?

SB: Ich kann mich erinnern. Ich war auch körperlich nicht so entwickelt. Ich musste auch zur Krankengymnastik und habe meinen (Pflege)Eltern ganz viele schlaflose Nächste gemacht.

HH: Was war schwierig?

SB: Ich glaube alles. Als ich zur Schule ging, bin ich nicht nach Hause gekommen, habe getrödelt, mir nichts dabei gedacht. Solche Sachen eben.

HH: Was waren ihre Pflegeeltern für Sie?

SB: Ich habe ja direkt „Mama“ und „Papa“ gesagt, weil mein Bruder das ja auch sagte und natürlich wollte ich das auch.

HH: Und in Ihrem Empfinden?

SB: Das sind meine Eltern, es gibt nichts anderes. Es sind ganz klar meine Eltern.

HH: Hatten Sie noch Kontakt zur Ihrer leiblichen Mutter?

SB: Nein, ich sollte eigentlich zur Adoption freigegeben werden, weil meine Eltern eigentlich nur adoptieren wollten. Dann hat sie aber einen Rückzieher gemacht.

HH: War das für Ihre (Pflege)Eltern schwierig?

SB: Ja, eigentlich wollten sie ja nur adoptieren. Als meine Mutter aber den Rückzieher gemacht hat, da kannten sie mich ja schon und wollten mich dann auch als Pflegekind aufnehmen.

HH: Wie alt waren Sie als sie in die Pflegefamilie umzogen

SB: ich war 4 Jahre alt

HH: und Ihr Bruder?

SB: mein Bruder ist zwei Jahre älter als ich

HH: War Ihr Bruder mit Ihnen einverstanden?

SB: (Frau B. schaut mich verblüfft an) Das weiß ich gar nicht, habe ihn nie danach gefragt.

HH: Das war nie ein Thema zwischen Ihnen?

SB: Nein, wir waren Geschwister und das war’s

HH: Wissen Sie was über Ihren leiblichen Vater?

SB: Nein ich habe keine Ahnung

HH: Erinnern Sie sich noch an Besuche durch das Jugendamt, als Sie in der Pflegefamilie lebten?

SB: Da erinnere ich mich dran. Ich war in der Schule schwierig, habe nie Hausaufgaben gemacht, bin faul gewesen und da waren meine Eltern zu recht auch überfordert. Dann kam die Dame des Jugendamtes auch mal und hat mit mir gesprochen. Ich mochte die Besuche nie.

HH: Hatten Sie zu einer Sozialarbeiterin näheren Kontakt?

SB: Nein, wollte ich auch nicht haben.

HH: Zurückblickend – war es für Sie etwas Besonderes ein Pflegekind zu sein?

SB: Ja, ich wollte immer so heißen wie meine Familie. Da habe ich drunter gelitten. Ich wurde immer gefragt, warum ich so heiße und die so. Dann habe ich immer erzählt, dass ich ein Pflegekind war. Und da habe ich dann drunter gelitten.

HH: Wurden Sie dann gehänselt?

SB: Ja, die Kinder haben hinter mir hergerufen, sind ja gar nicht deine richtigen Eltern und so

HH: Ist durch den Namen der Unterschied zu den anderen Kindern entstanden?

SB: Ja genau, sonst wäre es ja nicht aufgefallen.

HH: Hatten Sie zuhause nie an eine Namensänderung gedacht?

SB: Irgendwie war das früher noch gar nicht so. Wissen Sie, das war in den 80Jahren. Da war auch nicht viel Hilfe. Irgendwie hat man die Pflegefamilien damals mehr im Regen stehen lassen als uns heute. Ich bin mit dem Namen meiner Mutter rumgelaufen und habe zu meiner Hochzeit gesagt: „jetzt bin ich den endlich los“.

HH: Heute vertreten viele Fachleute die Meinung, dass das Pflegekind seinen Namen nicht wechseln sollte, damit es über den Namen seine Identität als Pflegekind finden könne. Wie sehen Sie das?

SB: ich habe nie darüber nachgedacht. Ich habe mich in meiner Familie wohlgefühlt. Familie war das wo ich war und wo ich lebte und ob ich da meine Identität suchen musste – ich weiß es nicht, ich habe bisher nie das Bedürfnis gehabt und ich bin jetzt 32 Jahre alt.

HH: Aber es war Ihnen durchaus klar, dass Sie ein Pflegekind waren?

SB: Ja, ich bin von Anfang an damit aufgewachsen. Ich wusste dies, aber es hatte innerhalb der Familie keine Bedeutung.

HH: Spielte es eine Rolle innerhalb der weiteren Verwandtschaft?

SB: Das war wie in jeder Familie auch, Omas waren Omas, Tanten und Onkel waren Tanten und Onkel, genauso, ganz normal.

HH: Ist nie irgendetwas zum „Pflegekind-Sein“ gesagt worden?

SB: Nein, diese Erfahrung habe ich innerhalb der Familie nie gemacht.

HH: Und wie war es mit den Nachbarn?

SB: Meine Eltern mussten ja nun erklären, wo das zweite Kind herkam, da wurde schon mal bei Freunden und Bekannten getuschelt.

HH: Wurde mal etwas über Ihre leibliche Familie gesagt?

SB: Nein, es wurde nicht darüber gesprochen, nicht weil wir es nicht wollten, es war einfach nicht wichtig. Ich war zuhause, das war und ist meine Familie.

HH: Was war – was ist – Ihre leibliche Mutter für Sie?

SB: Eigentlich gar nichts mehr. Die hat sich nie gekümmert, nie nachgefragt, eigentlich gar nichts mehr.

HH: Sie mussten doch auch mal Bescheinigungen bekommen z.B. als Sie geheiratet haben. Ging das alles so?

SB: Ja, darüber musste ich nicht mit ihr in Kontakt treten und das war mir auch wirklich kein Bedürfnis.

HH: Sie wissen das Sie von ihr misshandelt worden sind. Wie geht es Ihnen mit dem Wissen?

SB: Im Prinzip macht es mich wütend, wie ein Mensch so etwas machen kann. Das macht mich aber weniger wütend für mich selbst, sondern überhaupt – wie einer so was machen kann.

HH: Hat das Jugendamt mal auf Kontakte hingewiesen?

SB: Nein, nie. Meine Mutter hat immer gesagt: Wenn Du zu deiner leiblichen Mutter Kontakt haben willst, dann helfe ich dir. Aber ich wüsste nicht, das mal vom Jugendamt was gekommen wäre.

HH: Wenn Sie so zurück schauen ?

SB: ich bin froh, dass das alles so gelaufen ist.

HH: So wie es sich anhört, war es eine gute Vermittlung und sie passten zusammen

SB: Ja, das war gut, wir passten zusammen, es wurde sogar gesagt, ich sähe meinem Bruder ähnlich. Wir haben uns richtig ergänzt, waren und sind Geschwister. Vater und Mutter waren die Eltern und Bruder war Bruder.

HH: Sie haben vorhin von vielen Schulschwierigkeiten erzählt. Konnten Sie eine Ausbildung machen?

SB: Ja, das hat gut geklappt, ich bin gelernte Konditorin und habe auch in diesem Beruf gearbeitet.

HH: Wann sind Sie zuhause ausgezogen?

SB: Während meiner Lehre lernte ich meinen späteren Mann kennen. 2 Tage nach Beendigung der Lehre zogen wir zusammen in eine Wohnung. Wir haben zusammen gelebt, gearbeitet und später geheiratet.

Eigentlich wollten wir auch Kinder bekommen, aber nach zwei Jahren stellte sich heraus, dass wir selber keine Kinder bekommen können.

Ich brauchte ein Jahr um das zu verarbeiten. Es war unser größter Wunsch und wir brauchten viel Zeit um das zu verkraften.

HH: Dann haben Sie sich überlegt, ob Sie ein Kind annehmen würden?

SB: Ja, an sich hatte ich damit kein Problem, ich wusste ja, dass dies gut sein kann.
Wir haben uns dann beim Jugendamt beworben und Anfang 2000 das Vorbereitungsseminar gemacht. Dann kam ein Anruf von Frau B., dass ein Kind für uns da ist, 11 Tage alt und läge noch im Krankenhaus. Da die Mutter drogenabhängig war, war dieses Kind zur Dauerpflege vorgesehen. Sie hatte schon mehrere Kinder, die in Pflegefamilien lebten. Sie wollte das Kind von Anfang an nicht, hat’s gekriegt und ist gegangen.

HH: und dann haben Sie es kennen gelernt

SB: 2 Tage später haben wir das Baby im Krankenhaus gesehen. Da standen wir vor diesem kleinen Wesen und ich habe den Schock fürs Leben gekriegt, weil es so schlecht ausgehen hat.

HH: Was war mit dem Kind?

SB: Das Baby – ein Junge – war ja drogenabhängig und auf Entzug. Er war 49 cm groß, ganz eingefallen im Gesicht, er war ganz rot gewesen und ich war geschockt. Am Tag darauf war es vorbei. Er sah zwar immer noch so aus, aber meine Gefühle waren anders. Zuerst habe ich mich gefragt, ob ich dieses Kind überhaupt lieben kann, weil es ja so schrecklich aussah. Aber am nächsten Tag war, wie gesagt, alles vergessen.

HH: Er musste dann aber noch eine Weile im Krankenhaus liegen?

SB: Ja, noch einen Monat. Genau als er einen Monat alt war konnten wir ihn mit nach Hause nehmen.

HH: Als Sie ihn mitnahmen, haben Sie sich da an irgendetwas von früher erinnert?

SB: Nein eigentlich nicht, aber ich hatte ja immer schon gesagt, dass wir schon noch ein Kind aufnehmen würden, auch als wir noch nichts über unsere eigene Kinderlosigkeit wussten.
Oder doch, vielleicht: Ich war ein Problemkind und Christoph ist auch eins. Also nicht ein so schlimmes, aber doch, er braucht viel mehr Zuwendung und das war auch so bei mir.

HH: Kennen Sie die leibliche Mutter des Kindes?

SB: Sie starb gut 3 Monate später an einer Überdosis, denn sie war in einem schrecklichen Gesundheitszustand. Ein Wunder, dass Christoph nicht noch mehr mitbekommen hat.

HH: Sie haben sie also nie kennen gelernt?

SB: Nein, ich habe ein Foto von ihr als es ihr noch gut ging. Dieses Foto haben wir im Ordner von Christoph. Auf grund des Todes der Mutter konnten wir dann später adoptieren. Der Vater von Christoph ist unbekannt.

HH: Glauben Sie, dass Sie Christoph besser verstehen können, weil Sie selbst ein angenommenes Kind sind?

SB: Ich glaube ja, später, wenn er mal Fragen stellen wird.

HH: Wie ging es Ihren Eltern, als Sie Christoph aufnahmen?

SB: Als sie erfuhren, dass wir ein Pflegekind aufnehmen würden sagten meine Eltern immer: überlegt euch das gut, wir hatten Glück gehabt, du bis bei uns geblieben, aber er kann euch auch weggenommen werden.

HH: Das war die Sorge Ihrer Eltern und nicht die Angst vor Schwierigkeiten?

SB: Ja, es war die Wegnahme. Die Angst, ein Kind wieder zu verlieren.

HH: Aber Sie haben sich durch diese Angst nicht beeindrucken lassen

SB: Nein, es war ja eigentlich mit Christoph auch klar. Es gab ja schon andere Kinder der Mutter in Pflegefamilien. Die Mutter war bekannt. Es war eigentlich sicher. Die Adoption dauerte ja noch was und zwischendurch ist das Jugendamt ja auch gekommen. Aber sie waren nicht oft hier. Christoph war so pflegeleicht, wir brauchten keine Hilfe.

HH: Aber das Jugendamt war Vormund?

SB: Ja, wir hatten immer das Gefühl, dass wir uns auch ans Amt hätten wenden können.

HH: Kannte Christoph die Sozialarbeiterin?

SB: Nein er kannte sie gar nicht. Er war ja auch noch ganz jung, als wir den Adoptionsantrag stellten. Die Adoption hat auch meine Eltern sehr beruhigt. Das Verhältnis meiner Verwandtschaft ( Pflegefamilie) ist ganz normal wie zu einem Enkelkind.

HH: Können Sie verstehen, dass es Pflege- oder Adoptivkinder gibt, die sich auf die Suche nach Ihrer Herkunft machen?

SB: Ja, ich denke, dass ich auch der Grund mit, warum wir von der leiblichen Mutter von Christoph das Foto haben. Ihre Todesanzeige haben wir auch ausgeschnitten. Er braucht dann nicht mehr zu suchen, ist ja keiner mehr da. Verstehen kann ich das, auf jeden Fall.

HH: Für Sie war „Suchen“ aber kein Thema?

SB: Ich habe nicht gesucht. Ich habe irgendwo auch einen Hass entwickelt, vielleicht auch eine Arroganz. Sie hat sich nie gemeldet, sie wollte mit mir nichts zu tun haben und warum sollte ich dann?

HH: Sie finden schon, dass so etwas wie eine Gegenseitigkeit dazu gehört?

SB: Auf jeden Fall, es bringt nichts, wenn die eine Seite möchte und die andere nicht. So lange ich Kind bin und keine eigene Meinung haben darf, muss ich ja. Aber als Erwachsener kann mich ja keiner mehr dazu zwingen einen Kontakt aufzunehmen oder nicht.

HH: Sie kennen die leibliche Mutter nicht mehr, den leiblichen Vater kannten Sie nie, haben Sie das Gefühl etwas verpasst zu haben?

EB: Dies Gefühl habe ich nicht, ich fühle mich auch nicht zerrissen. Für mich ist klar mein Platz ist in meiner Pflegefamilie – bis heute.

HH: Da gehören Sie hin

SB: Ja, das ist meine Familie. Ich kann jeden verstehen, der Kontakt sucht, der Gründe wissen will und jedes Kind hat auch ein Recht zu erfahren, warum und wieso es in einer Pflege- oder Adoptivfamilie lebt. Jeder muss seinen Weg finden, damit zurecht zu kommen. Ich glaube, es ist auch altersabhängig. Ein Säugling lernt ja nichts anderes, so wie unser Sohn. Aber wenn das Kind älter ist, dann lernt es ja erst andere Eltern kennen und das ist nicht einfach zu verstehen.

HH: Sie waren auch schon etwas älter, als Sie in Ihre Pflegefamilie kamen, Sie haben Ihre leibliche Mutter erlebt. Sie hat sich nie wieder bei Ihnen gemeldet. Was fühlen Sie dabei?

EB: Es kränkt mich schon, dass meine leibliche Mutter sich nie wieder gekümmert hat. Aber ich habe nicht das Bedürfnis hinzugehen und zu sagen „Warum hast Du das gemacht?“ Jetzt habe ich das Gefühl jedenfalls nicht, vielleicht kommt das ja noch irgendwann mal. Manchmal hört man ja, dass richtig ältere Erwachsene auch noch mal losgehen.

HH: Wissen Sie, wo die leibliche Mutter lebt?

EB: Sie lebt irgendwo in Süddeutland, sonst weiß ich nichts.

Das könnte Sie auch interessieren

Moses Online Themenheft
Kinder, die in Pflegefamilien aufwachsen, haben viele schwierige Erfahrungen hinter sich wie beispielsweise das Erleben von Misshandlung oder Vernachlässigung. Diese Erlebnisse werden von jedem Kind individuell verarbeitet, führen bei den Heranwachsenden jedoch häufig zu Traumatisierungen. Mit diesem Heft wollen wir aufzeigen, warum ein Kind ein Pflegekind wird. Wie der Weg von dem Gedanken, ein Kind aufzunehmen, hin zum Leben mit einem Pflegekind sein kann. Was sich für die Familie verändern wird, wenn ein Pflegekind kommt und welche Voraussetzungen und Bedingungen es gibt, wenn das Kind in der Pflegefamilie lebt. Dieses Themenheft ist Ihre perfekte Einführung in das Thema Pflegekinder.
Moses Online Themenheft
Das Pflege/Adoptivkind fühlt, denkt und handelt anders als die Pflege-/Adoptiveltern dies durch ihre leiblichen Kinder gewöhnt sind. Kinder reagieren auf das, was sie im Leben erfahren haben, und Erfahrungen dieser Kinder sind andere Erfahrungen, als die der leiblichen Kinder. Im Themenheft "Alltägliches Leben" erfahren Sie, wie Sie das Verhalten der Kinder verstehen und damit passend umgehen können.