Sie sind hier
Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e.V. - ein Interview
Themen:
Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e. V. (BVKJ) ist die Interessenvertretung der Kinder- und Jugendärzte in Deutschland. Über 10.000 Kinder- und Jugendärzte gehören dem Verband an. Der Berufsverband setzt sich für die bestmögliche gesundheitliche Versorgung der Kinder und Jugendlichen ein und kämpft für entsprechende Rahmenbedingungen. Moses-online interessierte die Meinung des Verbandes zu verpflichtenden Vorsorgeuntersuchungen und sprach darüber mit Herrn Dr. Hermann-Josef Kahl, dem Vorsitzenden des Ausschusses für Prävention und Frühtherapie.
moses-online: Herr Dr. Kahl, sie sind Vorsitzender des Ausschusses für Prävention und Frühtherapie des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte e. V. (BVKJ). Was ist die Aufgabe dieses Ausschusses?
Dr. Kahl: Die Aufgabe des Ausschusses ist es, dafür zu sorgen, dass die Inhalte der Prävention dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand entsprechen. So haben wir beispielsweise alle bestehenden Vorsorgeuntersuchungen einer gründlichen Revision unterworfen. Dieses neue, deutlich verbesserte inhaltliche Konzept endlich umsetzen zu können, ist uns ein großes Anliegen.
moses-online: Zweck der Vorsorgeuntersuchungen für Kinder ist die Früherkennung von Krankheiten, die die normale körperliche oder geistige Entwicklung der Kinder gefährden. Momentan gibt es 10 solcher Untersuchungen (9 im Vorschulalter, 1 im Jugendalter), die von den Krankenkassen bezahlt werden. Reichen diese Untersuchungen aus, um die Gesundheit der Kinder sicherzustellen? Soviel ich weiß, fordert der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte schon seit längerer Zeit zusätzliche Untersuchungen.
Dr. Kahl: Ganz klar, die momentan vorgeschriebenen Vorsorgeuntersuchungen reichen nicht aus. Unser Verband fordert vier weitere Untersuchungen und ist mit den Krankenkassen in Verhandlung, dass diese anerkannt werden. Außerdem muss das Gesetz (§ 26 SGB V) so geändert werden, dass wir eine vorausschauende Beratung in den verschiedenen Altersgruppen durchführen können.
Konkret sollte eine weitere Untersuchung mit drei Jahren, zwei weitere im Schulalter und eine im späten Jugendalter mit 16 bis 17 Jahren durchgeführt werden.
Momentan gibt es zwischen der U7 mit zwei Jahren und der U8 mit vier Jahren eine Spanne von zwei Jahren ohne Vorsorgeuntersuchung. Gerade in dieser Zeit passiert in der Entwicklung eines Kindes jedoch sehr viel. Eine weitere extrem lange Phase ohne Vorsorgeuntersuchung gibt es zwischen dem fünften und dreizehnten Lebensjahr. In den Schulen finden keine schulärztlichen Untersuchungen statt, so dass es von keiner Seite eine Prävention während dieser Jahre gibt. Schließlich fordern wir einen Check-Up beim Kinder- und Jugendarzt im späten Jugendalter, bevor der Jugendliche zum Allgemeinarzt überwechselt.
moses-online: Die Kinder-Vorsorgeuntersuchungen sind aufgrund der erschreckenden Fälle von Kindesmisshandlung zu einem aktuellen Thema für die Politik geworden. Wie die politische Entwicklung aussieht, werden Vorsorgeuntersuchungen für alle Kinder im Vorschulalter bundesweit zur gesetzlichen Pflicht. Reichen Pflichtuntersuchungen für Vorschulkinder aus, um zu garantieren, dass Kinder vor Misshandlung und Verwahrlosung bewahrt werden? In gewisser Weise scheinen die Pflichtuntersuchungen ein Allheilmittel für die momentane Politik zu sein.
Dr. Kahl: Der Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte ist für ein Meldesystem mit verpflichtenden Vorsorgeuntersuchungen. Diese Maßnahme allein reicht jedoch nicht aus, um Kinder vor Misshandlung und Verwahrlosung zu schützen. Die Vorsorgeuntersuchungen müssen inhaltlich verbessert und in ein Netz der Betreuung installiert werden. Die vom Ausschuss neu konzipierten Vorsorgeuntersuchungen enthalten Instrumente, die – korrekt eingesetzt – die Identifizierung von Risikofamilien erheblich erleichtern können.
Der Staat muss dafür Sorge tragen, dass Eltern mit ihren Kindern zu den Vorsorgeuntersuchungen gehen. Erfahrungsgemäß vergessen viele Eltern die Untersuchung ganz einfach. Werden sie daran erinnert, gehen sie zur Untersuchung.
Einige Krankenkassen haben ein so genanntes Re-Call-System eingerichtet, das die Eltern an die Vorsorgeuntersuchungen erinnert. Die ist auf jeden Fall sinnvoll, reicht aber natürlich auch nicht aus.
Mit den Hardlinern, die auch nach einer Erinnerung nicht in die Praxis zur Untersuchung kommen, muss sich das Gesundheitsamt auseinandersetzen. Dies können nicht die Kinder- und Jugendärzte leisten. Die Kinderärzte dürfen nicht zu einer Instanz gemacht werden, die die Familien überwacht.
moses-online: Können Kinderärzte durch gesetzlich vorgeschriebene Vorsorge-Untersuchungen denn tatsächlich dazu beitragen, gefährdete Kinder aus problematischen Familienverhältnissen vor Gewalt oder Verwahrlosung zu schützen? Wenn ich an die vollen Wartezimmer und die knappen Zeitressourcen vieler Kinderärzte denke, frage ich mich, ob diese Vorstellung in der Realität unter den momentanen Bedingungen verwirklicht werden kann.
Dr. Kahl: In Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsamt ist es möglich, dass die Kinder gesund aufwachsen. Wie gesagt, ganz wichtig ist die Vernetzung des Hilfesystems, die Zusammenarbeit von Kinder- und Jugendärzten und dem Gesundheitsamt, bei Bedarf auch mit dem Jugendamt und anderen Hilfsinstanzen. Im Vordergrund steht immer das Kindeswohl.
Unser Verband spricht sich gegen ein Bonussystem aus. Ein Vergleich mit Österreich zeigt, dass eine solche Maßnahme nicht sinnvoll ist. In Österreich gibt es ein Bonussystem, die Vorsorgeuntersuchungen werden dort jedoch weniger besucht, als in Deutschland.
moses-online: Ein noch zu lösendes Problem bei den gesetzlich vorgeschriebenen Untersuchungen ist es, sicherzustellen, dass Eltern mit ihren Kindern tatsächlich zu den Untersuchungen in der Kinderarztpraxis erscheinen. Die politischen Vorschläge dazu reichen von Beratung, schriftlichen Einladungen durch Ämter bis hin zu Bestrafung der Eltern bei Nicht-Erscheinen durch Kürzung des Kindergeldes. Welche Handhabung erachtet der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e. V. (BVKJ) als sinnvoll?
Dr. Kahl: Wir schlagen eine Form des Meldesystems vor, das folgendermaßen aussehen sollte: Eine neu zu schaffende „Clearingstelle“, die im Gesundheitsamt angesiedelt sein könnte, dient sozusagen als Zentrale für die Vorsorgeuntersuchungen. Haben Eltern eine Vorsorgeuntersuchung mit ihrem Kind besucht, bestätigt der Kinderarzt den Besuch durch seine Unterschrift. Diese Unterschrift wird der „Clearingstelle“ zugeschickt oder dort eingereicht. Die „Clearingstelle“ wird diejenigen Familien, die eine Untersuchung vergessen haben, daran erinnern. Erscheint das Kind immer noch nicht zur Untersuchung, ist es Aufgabe der „Clearingstelle“, sich um die Familie zu kümmern und gegebenenfalls weitere Hilfsinstanzen hinzuzuziehen.
Selbstverständlich müssen die Eltern – beispielsweise in einem Vordruck im gelben Heft – eine schriftliche Einverständniserklärung geben, dass sie mit einer Weitergabe ihrer Daten an die „Clearingstelle“ einverstanden sind.
moses-online: Sicherlich hat der Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte als Vertreter derjenigen, die die Vorsorge-Untersuchungen durchführen und direkt betroffen sind, Vorschläge dazu, wie verpflichtende Vorsorge-Untersuchungen sinnvoll in ein gesundheitspolitisches System eingebaut werden können, das die Kinder tatsächlich erreicht und schützt. Lässt sich dies kurz beschreiben?
Dr. Kahl: Die Frage beantwortet sich durch die vorhergehenden Fragen schon von selbst. Noch einmal: durch den Aufbau einer Netzstruktur kann dafür gesorgt werden, dass den Familien und damit den Kindern geholfen wird.
Wir Kinderärzte sind auf jeden Fall bereit, an diesem Netzwerk mitzuwirken. Das Kindeswohl steht über dem Elternrecht und liegt uns sehr am Herzen. Es geht uns nicht darum, Familien, die die Vorsorgeuntersuchungen versäumen, zu bestrafen, sondern sie zu unterstützen und dadurch den Kindern ein gesundes Aufwachsen zu ermöglichen.
Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e. V. im Internet: www.kinderaerzteimnetz.de
Herr Dr. Kahl, ich bedanke mich ganz herzlich dafür, dass Sie sich Zeit für das Interview genommen haben!
Astrid Hopp-Burckel (Das Interview wurde im Januar 2007 telefonisch geführt und anschließend niedergeschrieben.)