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Diese eine Blume, die uns verbindet: Abenteuer Pflegefamilie
Beteiligte:
Themen:
Das Flechtwerk menschlicher Beziehungen
Der zweite Band dieser "einen Blume, die uns verbindet" ist in erster Linie den Pflegeeltern und ihrer Perspektive gewidmet: "Es sind ganz unterschiedliche Geschichten, die hier erzählt werden: Pflegemütter, Pflegeeltern und Pflegekinder schreiben aus ihren Perspektiven; eine ganze Pflegefamilie zeigt uns ihren jeweiligen Blick auf die gemeinsame Zeit" (S. 11).
Die Geschichten verdeutlichen, wie Beziehungen und Bindungen entstehen, gehalten und erhalten werden und sich, wenn auch nicht in allen Pflegefamilien, zu tragbaren Netzen für das Leben entwickeln. "Das Zusammenspiel beider Perspektiven (Pflegekinder/ Pflegeeltern) verdeutlicht auf bemerkenswerte Art und Weise, welch großartige Arbeit in den Pflegefamilien geleistet wird, welch beachtliche Entwicklungschancen im Aufwachsen als Pflegekind liegen können und wie bedeutsam eine gute fachliche Begleitender Familie wiegt" (Klappentext).
Die Geschichten der Pflegeeltern zeigen, welche Lebensverantwortung Pflegeeltern für ihre Pflegekinder übernehmen und wie achtsam sie sich die ihnen anvertrauten jungen Menschen herantasten. Die Pflegemutter Marion beschreibt wie und in welcher innerer Stimmung sie das erste und neue Pflegekind Anna erwartet: "… und ich warte darauf, dass es endlich 11 Uhr wird. An der Wohnungstür hängen Luftballons und ein Schild mit Herzlich Willkommen. .. Es schellt und ich laufe extrem schnell und glücklich die drei Etagen aus unserer Wohnung den Hausflur herunter. Ich reisse die Tür auf und strahle in zwei völlig aufgelöste Gesichter. Das werde ich in Menem ganzen Leben niemals mehr vergessen. Wie nah in diesem Moment Glück und Unglück waren. Anna (9 Jahre alt) stand mit ihrem an Demenz erkrankten Vater in der Tür. Das deutlich spürbare herzliche Willkommen der Pflegemutter trifft auf die für Anna traurige Realität: ein Vater der ihr kognitiv und emotional entschwindet, zu dem sie aber den Kontakt halten wird, solange es ging. "Bis zu seinem Tod besuchte Anna ihren Vater regelmäßig in der WG.. Sie musste erleben, wie ihr Vater bei jedem Besuchskontakt ein kleines Stückchen mehr von ihr ging" (S. 72/73). Der leibliche Vater von Anna wird indirekt so auch Teil der Lebenswelt der Pflegeeltern. Mit der Aufnahme eines Pflegekindes betritt ein junger Mensch mit seinem Beziehungsgeflecht die Bühne der Pflegefamilie. Die Voraussetzung für die Aufnahme eines Pflegekindes ist die Bereitschaft der ganzen Pflegefamilie, sich anderen Menschen mit ihrem Beziehungsgefüge und ihrer Beziehungsdynamik zu öffnen und diese über einen längeren Zeitraum mitzutragen.
Die aufmerksame Wahrnehmung und den achtsamen Umgang mit traumatisierten Kindern schildert die Pflegemutter Ute: "Schon im ersten Urlaub hatte sie (gemeint ist die neue Pflegetochter) vor allem Angst. .. Sie hatte Angst vor dem Einschlafen, vor Rolltreppen, Fahrstühlen, vor dem Einsteigen in den Zug, vor Ertrinken im Wasser. Ihre grösste Angst war, von uns verlassen zu werden. In ihrer Fantasie könnten wir sie irgendwo aussetzen, oder wir schmeissen sie sowieso irgendwann raus, weil sie nichts wert ist. .." An einer Tankstelle wird die Pflegetochter kurz allein gelassen und schon tauchen die Ängste wieder auf (S. 158-159). Beruhigt hat sie, dass die neuen Eltern den Hund da gelassen hatten. Wut, Zorn, Ängste, Impulsausbrüche lassen den Zauber des Anfangs verfliegen, bringen die Pflegeeltern an ihre Grenzen: "Unser Fachberater riet dringend dazu, Denise abzugeben, z.B. in ein Internat oder direkt in eine Wohngruppe. Sie hielte Familie nicht aus und das wäre ja auch kein Familienleben mehr. Das stimmte beides. Wir waren total geschafft, aber wir konnten uns nicht trennen". Und die Pflegetochter Denise wird weiterhin mitgetragen.
Die Schilderungen der Geschichten zeigen, wie Pflegeeltern im Alltag mit den vielfältigen Symptomen, der ganzen Bandbreite menschlicher Gefühle, die als Ausdruck seelischer Verletzungen im Kindesalter verstanden werden können, angerührt, gefordert und teilweise überfordert werden, und reflektierend lernen, diese Kinder behutsam und achtsam begleitend ins Leben zu führen und mit ihnen zu leben.
In den Geschichten der Pflegeeltern und der Pflegekinder zeigt sich, wie Menschen lernen, sich aufeinander einlassen, einander im Alltag umfassend wahrzunehmen und zu begreifen und miteinander zu leben. Das Zentrum der Perspektiven ist das gemeinsame Leben miteinander, diese eine Blume, die uns verbindet.
Die Pflegeeltern schildern mit anerkennenswerter Ehrlichkeit Momente der Trauer und des Schmerzes, wenn die Beziehungen zwischen Pflegeeltern und Pflegekindern auseinander brechen, und notwendige Entwicklungsprozesse erst getrennt voneinander durchlebt werden.
Die Beziehungserfahrungen zwischen den natürlichen Kindern und den Pflegekindern der (Pflege)Familie führen zu einer wachsenden Vertrautheit und emotionalen Akzeptanz: die anfangs einander fremden jungen Menschen werden durch die gemeinsamen Erfahrungen zu Geschwistern. Alex (S.99) beschriebt das so: "Um endlich zur Kernfrage zu kommen, wie es war, mit einer Pflegeschwester aufzuwachsen: Ich bin nicht mit einer Pflegeschwester aufgewachsen. Ich bin mit einer Schwester aufgewachsen…"
Pflegekinder haben ihre eigenen leiblichen Geschwister, die eventuell noch in ihren Herkunftsfamilien leben oder auch, getrennt voneinander, in verschiedenen Pflegefamilien aufwachsen. So können über die leiblichen Geschwister er Pflegekinder Bindeglieder (Kontaktbrücken) zu anderen Pflegefamilien sein,
Pflegeeltern nehmen Kinder aus verschiedenen Herkunftsfamilien auf. Dies bedeutet, sich zeitgleich oder zeitlich verschoben, auf unterschiedlichste Persönlichkeiten und ihre jeweilige Dynamik, die diese aus ihren jeweiligen Herkunftsfamilien mitbringen, einzulassen. Veranschaulicht wird dies in dem reflektierenden Erfahrungsbericht der Pflegeeltern Conny und Willi (S. 122 - 138), die über einen Zeitraum von 22 Jahren Pflegeeltern waren. Sie nehmen Stellung zu Punkten wie: Kindeswahl - Kindeswohl, Elternwahl-Elternwohl; leibliche Eltern/ Geschwister, biographische Annäherung, die Bedeutung von diagnostischer Einschätzung durch Fachleute sowie Begleitung durch Löwenzahn.
Die Geschichten lösen in mir Respekt aus für Familien, in der die Eltern und die leiblichen Kinder bereit sind, sich für andere Menschen zu öffnen. Pflegefamilien haben mit der Annahme eines Pflegekindes nicht nur neue Kinder und Geschwister. Das gesamte Beziehungsnetz verändert sich. Die leiblichen Kinder erleben ihre Eltern in persönlichen und -in Erziehungsstellen - hautnah in professionellen Beziehungskontext.
Die Erfahrungsberichte werden ergänzt durch einen fachlich reflektierenden Epilog.
Auch dieses Buch ist, wie der erste Band der Reihe RückBlickPunkte, ansprechend gestaltet. Das Buch weist wieder den gleichen gelben Umschlag wie der erste Band auf. Die Schrift ist angenehm groß, der Text wird aufgelockert durch durchweg schöne Fotos und mehrfach die Pusteblume.