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Urteil zum erweiterten pädagogischen Förderbedarf - erhöhtem Erziehungsbedarf
In einigen Bundesländern z.B. in Berlin, Brandenburg und Thüringen wird eine Erhöhung des Pflegegeldes bei einem ‚erweiterten pädagogischen Förderbedarf‘ vom Jugendamt den Pflegeeltern gezahlt. Dieser erweitere Förderbedarf bezieht sich auf die rechtliche Vorgabe des § 33 SGB VIII. Nach Satz 2 der Vorschrift sollen für besonders entwicklungsbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche geeignete Formen der Familienpflege geschaffen und ausgebaut werden. Der ‚erweiterter Förderbedarf‘ muss regelmäßig überprüft und von den Pflegeeltern nachgewiesen werden. Dies geschieht meist durch entsprechende Gutachten als Vorlage für die Entscheidung des Jugendamtes. Sieht das Jugendamt keinen erhöhten Bedarf mehr, so wird das Pflegegeld im Anteil der Kosten der Erziehung (auf den einfachen Satz) verringert.
In der Praxis erleben Pflegeeltern hierzu u.a. folgende Begründungen:
Der Förderbedarf bestehe nicht mehr, weil
1. das Erziehungsdefizit des Kindes
a) dank der guten bisherigen Arbeit der Pflegeeltern geringer geworden ist
b) das Kind in ein Alter kommt (z.B. Pubertät) wo es eh schwieriger wird
c) es mehr die Pflegeeltern sind, die die Probleme sehen
2. das Kind aufgrund seiner Beeinträchtigung für nicht mehr erziehungsfähig angesehen wird.
Da das Jugendamt als leistungserbringende Stelle den Bedarf des einzelnen Kindes und Jugendlichen definiert und damit entscheidet, ob ein erweiterter Förderbedarf auch weiterhin besteht, kann der Empfänger der Hilfe ( der Sorgeberechtigte) diese Entscheidung im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens anfechten.
Dies haben die Sorgeberechtigten eines schwerbehinderten Kindes getan, als der erweiterte pädagogische Förderbedarf diesem Kind durch das Jugendamt in seinem Bescheid aberkannt wurde.
Das Verfahren lief durch mehrere Instanzen bis hin zum Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, welches keine Revision mehr zugelassen hat, so dass das Urteil nun rechtkräftig ist.
In der Begründung des Urteils wurden einige wichtige Erläuterungen zum § 33 Satz 2 SGB VIII und zum erweiterten Förderbedarf dargelegt, die wir hier in Ausschnitten aufführen wollen.
Urteil: OVG Berlin Brandenburg AZ: OVG 6 B 31.12 vom 6.5.2013
Auszüge aus dem Urteil :
Mit der Festsetzung unterschiedlicher Pauschalbeträge für die laufenden Kosten der Pflege und Erziehung im Sinne des § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII trägt die Richtlinie des Beklagten der Differenzierung in § 33 SGB VIII Rechnung. Nach Satz 2 der Vorschrift sollen für besonders entwicklungsbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche geeignete Formen der Familienpflege geschaffen und ausgebaut werden. Die Einrichtung solcher „geeigneten Formen“ der Familienpflege kann sinnvollerweise nur unter Einsatz von Fachkräften erfolgen, was eine höhere Honorierung der erzieherischen Leistung rechtfertigt. Dementsprechend ist der unbestimmte Rechtsbegriff „besonders entwicklungsbeeinträchtigte Kinder“ nach Maßgabe eines eine verstärkte therapeutische Betreuung erfordernden Bedarfs auszulegen, der eine erhöhte fachliche Qualifikation der Pflegeeltern erfordert. Damit steht es im Einklang, dass die Richtlinie des Beklagten für solche Fälle von dem nahezu dreifachen Satz der „einfachen“ Erziehungspauschale ausgeht. Durch diese nahezu verdreifachte „einfache“ Erziehungspauschale wird nicht lediglich ein höherer zeitlicher Aufwand abgegolten. In Anbetracht der stets den gesamten Tag umfassenden Vollzeitpflege wäre die Annahme eines derart vervielfachten Aufwandes für die Erziehung nicht naheliegend. Der massive Erhöhungssprung bei den Kosten der Erziehung dient insoweit vielmehr in erster Linie als finanzieller Anreiz, Fachkräfte für die Arbeit als sozialpädagogische Pflegefamilie mit besonderen fachlichen Kenntnissen, hoher Motivation und Belastbarkeit zu gewinnen (vgl. auch OVG Bautzen, Urteil vom 6. April 2005 - 5 B 86/04 -, 2. Orientierungssatz und Rn. 26 bei juris). Mit dem Pauschalbetrag nach § 39 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII sollen laufende „Kosten der Erziehung“ im Sinne eines „Marktpreises der Erziehung“ zusammengefasst werden (BVerwG, Beschluss vom 26. März 1999 - 5 B 129/98 -, FEVS 51, S. 10 f., Rn. 3 bei juris). Dem Pauschalbetrag wohnt insoweit demnach weniger ein quantitatives als ein qualitatives Moment inne (OVG Bautzen, a.a.O., Rn. 29 bei juris).Vor dem dargelegten Hintergrund stellt die Richtlinie des Beklagten für die Annahme eines erweiterten Förderbedarfs zutreffend darauf ab, ob die Vollzeitpflege besondere Anforderungen an die Erziehungsperson stellt und darüber hinaus die Erziehung des Kindes erheblich erschwerende Beeinträchtigungen vorliegen.
cc. Soweit der Beklagte dem Pflegesohn der Klägerin einen erweiterten pädagogischen Förderbedarf offenbar mit dem Argument absprechen will, dieser sei gewissermaßen nicht erziehungsfähig, weil bei ihm letztlich keine Entwicklungsfortschritte mehr zu verzeichnen seien, steht dies im Widerspruch zu den vorliegenden Unterlagen. Nach diesen Unterlagen ist ohne weiteres von der Erziehungsfähigkeit des Pflegesohns der Klägerin auszugehen.
Erziehung im hier maßgeblichen Kontext ist in einem weiten Sinne zu verstehen. Der Umstand, dass der Pflegesohn der Klägerin geistig und mehrfach körperlich schwerstbehindert ist, schließt seine Erziehungsfähigkeit nicht aus. Die Frage der Erziehungsfähigkeit in diesem Sinne hat nicht lediglich Kinder und Jugendliche im Blick, deren Befähigung zu einem selbstständigen Leben in der Gemeinschaft durch erzieherische Maßnahmen mehr oder weniger erreicht werden kann. Erziehungsfähigkeit in diesem Sinne ist bereits dann anzunehmen, wenn durch besondere Zuwendung Beeinträchtigungen einer Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft wenigstens teilweise ausgeglichen werden können. Ausgangspunkt ist dabei das in § 1 Abs. 1 SGB VIII formulierte Recht jedes jungen Menschen, auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Dementsprechend soll die Jugendhilfe insbesondere junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen (§ 1 Abs. 3 Nr. 1 SGB VIII). Das kommt weiter in den Vorschriften über die Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche des § 35a SGB VIII zum Ausdruck, der Hilfe unter anderem dann gewährt, wenn die Teilhabe eines Kindes oder Jugendlichen am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Dieser integrative Charakter liegt auch dem Begriff der Erziehung im Sinne des § 39 Abs. 1 SGB VIII zu Grunde. Erziehung in diesem Sinne umfasst daher alle Maßnahmen, die der Förderung der Entwicklung eines jungen Menschen dienen und geeignet sind, zu seiner Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beizutragen. Das Vorliegen geistiger und mehrfacher körperlicher Schwerstbehinderung steht der Annahme von Erziehungsfähigkeit in diesem Sinne grundsätzlich nicht entgegen.
[...]Die Leistungen der Pflegeversicherung haben grundsätzlich keinen abschließenden Charakter. Mit ihnen wird eine Vollversorgung der Pflegebedürftigen weder angestrebt noch erreicht, da die Pflegeversicherung nur eine soziale Grundsicherung in Form der unterstützenden Hilfeleistungen darstellt (BVerwG, Urteil vom 15. Juni 2000 - 5 C 34/99 -, BVerwGE 111, 241 ff., Rn. 16 bei juris; VGH München, Urteil vom 10. November 2005 - 12 BV 04.1638 -, Rn. 29 bei juris). Im Hinblick auf den im Sozialleistungsrecht geltenden Grundsatz, dass Doppelleistungen ausgeschlossen werden sollen, würde etwas anderes allerdings dann gelten, wenn die Leistungen nach § 37 SGB XI wegen eines Sonderbedarfs gewährt werden, für den der Hilfeempfänger Leistungen nach dem SGB VIII begehrt. Ein solcher Doppelleistungscharakter ist im Hinblick auf die hier streitigen Leistungen der Jugendhilfe für die Erziehung eines besonders entwicklungsbeeinträchtigten Kindes und die Leistungen der Pflegeversicherung nach dem SGB XI indes nicht anzunehmen.
Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 SGB XI werden die Leistungen der Pflegeversicherung für den Bedarf an Grundpflege und hauswirtschaftlicher Versorgung gewährt. Dementsprechend sind gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB XI Pflegebedürftige der Pflegestufe III Personen, die - wie der Pflegesohn der Klägerin - bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität täglich rund um die Uhr, auch nachts, der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Die Leistungen nach der Pflegeversicherung beschränken sich demnach im Wesentlichen darauf, die menschlichen Grundbedürfnisse, was Ernährung, Körperpflege, hauswirtschaftliche Versorgung und Mobilität anbelangt, zu befriedigen. Demgegenüber geht es aus den bereits dargelegten Gründen bei der Erziehung eines Kindes oder Jugendlichen im Sinne des SGB VIII um die Förderung der Entwicklung seiner Persönlichkeit und seiner geistigen Fähigkeiten sowie der Ausschöpfung der jeweiligen Möglichkeiten einer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Letztlich geht es dabei um Maßnahmen, die sich deutlich von einer bloßen ernährungstechnischen und hauswirtschaftlichen Grundversorgung, wie sie die Leistungen der Pflegeversicherung bezwecken, unterscheiden.
Ob etwas anderes dann gilt, wenn das Pflegegeld nach § 37 SGB XI zumindest auch wegen des Sonderbedarfs gewährt wird, mit dem die Erhöhung des pauschalierten Pflegegeldes nach § 39 Abs. 4 Satz 3 SGB VIII begründet wird (so der VGH München, a.a.O., Rn. 30 bei juris), kann vorliegend auf sich beruhen. Der Sonderbedarf des Pflegesohns der Klägerin besteht hier nicht in dem erheblichen Betreuungsaufwand, der auch die von der Pflegeversicherung bezweckte Hilfe für die gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens umfasst, sondern er bezieht sich auf die hiervon zu unterscheidenden Maßnahmen der Förderung und Entwicklung im Bereich der Erziehung.
von:
Empfehlungen des Deutschen Vereins zum Pflegegeld 2014