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Auszug aus einem Gerichtsurteil zur Verbleibensanordnung
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Das OLG Stuttgart hat im Mai 2013 ein ausführliches Urteil zu den Bedingungen und Möglichkeiten einer Verbleibensanordnung erlassen.
Auszüge aus dem Urteil:
Leitsätze
Im Mittelpunkt der bei einer Verbleibensanordnung nach § 1632 Abs.4 BGB erforderlichen Interessenabwägung steht das Wohl des bei Pflegeeltern untergebrachten Kindes.
Allein der Umstand eines langen Verbleibs des Kindes in der Pflegefamilie (hier: 3 Jahre) genügt nicht, dass ein Schaden für das Kind durch eine Rückführung in die Herkunftsfamilie mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht auszuschließen ist. Vielmehr müssen über den bloßen Betreuungswechsel hinaus weitere Risikofaktoren hinzutreten, die gegen eine Herausnahme des Kindes und für eine Verbleibensanordnung in der Pflegefamilie sprechen.
Nachfolgend eine starke Kürzung der bisherigen Lebenssituation von Mutter und Sohn,die im Urteil sehr ausführlich dargestellte wurde:
Die bei der Geburt des Kindes 17jährige Mutter war aufgrund ihrer damaligen instabilen Lebenssituation mit der Unterbringung des Kindes in der Pflegefamilie einverstanden. Dann schloss sie erfolgreich die Hauptschule ab und begann die Ausbildung zur Kinderpflegerin. Inzwischen lebt sie mit ihrem Verlobten im Haus der Schwiegereltern. Die Mutter hat das Kind regelmäßig wöchentlich in der Pflegefamilie besucht. Als sie die Rückführung des Kindes zu sich plante, stellte das zuständige Jugendamt einen Antrag auf teilweisen Entzug des Sorgerechtes, weil es die Mutter nicht für ausreichend erziehungsfähigg hielt. Dann stellten die Pflegeeltern einen Verbleibensantrag. Das Familiengericht wies das Herausgabeverlangen der Mutter ab und erließ eine unbefristete Verbleibensanordnung für das Kind in der Pflegefamilie.
Die Mutter ging gegen diesen Beschluss in Beschwerde. Es folgte ein neues Sachverständigengutachten. Entsprechend der Empfehlung des Sachverständigen Prof. Dr... wurde das Kind M. am 26.04.2013 in den Haushalt der Kindesmutter zurückgeführt.
Trotz der kurz vor Verkündung des Urteils erfolgten Rückführung, die von den Pflegeeltern nun unterstützt wurde, hat der Senat ein Urteil gefällt und begründet:
Gründe
Gemäß § 1632 Abs.1 BGB kann der Inhaber der Personensorge für ein Kind dessen Herausgabe von jedem verlangen, der es den Eltern oder einem Elternteil widerrechtlich vorenthält. Gemäß Abs.4 der genannten Vorschrift kann das Familiengericht, wenn ein Kind seit längerer Zeit in Familienpflege lebt und die Eltern es von der Pflegeperson wegnehmen wollen, von Amts wegen oder auf Antrag der Pflegeperson anordnen, dass das Kind bei der Pflegeperson verbleibt, wenn und solange das Kindeswohl durch die Wegnahme gefährdet wäre. Bei Aufeinandertreffen beider Normen sind die jeweils verfassungsrechtlich geschützten Positionen der Beteiligten zu beachten:
So steht den Eltern gemäß Art. 6 Abs.2 Satz 1 GG das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder zu. Den Pflegeeltern steht dieses Recht in dieser Form zwar grundsätzlich nicht zu. Doch ist anerkannt, dass auch sie - jedenfalls bei länger dauernder Familienpflege - den Schutz des Art. 6 Abs.1 GG genießen, wonach Ehe und Familie den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung unterstehen...
Beiden Rechten steht die ebenfalls grundrechtlich geschützte Position des Kindes gegenüber. Gemäß Art. 2 Abs.1 i.V.m. Art. 1 Abs.1 GG hat jeder Mensch das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, seine Würde ist unantastbar.
Das Kind als Wesen mit eigener Menschenwürde und eigenem Persönlichkeitsrecht bedarf des Schutzes und der Hilfe, um sich zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft zu entwickeln. Dieses Ziel wird am ehesten erreicht, wenn die Erziehung und Betreuung des minderjährigen Kindes durch Mutter und Vater innerhalb einer harmonischen Gemeinschaft erfolgt . Wenn Kinder in einer Pflegefamilie aufwachsen, kann dies gegebenenfalls anders zu beurteilen sein. In diesem Fall gebietet es das Kindeswohl, die gewachsenen Bindungen des Kindes zu seinen Pflegepersonen zu berücksichtigen und das Kind aus seiner Pflegefamilie nur herauszunehmen, wenn die körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigungen des Kindes als Folge der Trennung von seinen bisherigen Bezugspersonen unter Berücksichtigung der Grundrechtsposition des Kindes noch hinnehmbar sind.
Die Vorschrift des § 1632 Abs. 4 BGB soll im Interesse des Kindeswohls verhindern, dass das Kind zur Unzeit aus der Pflegefamilie genommen wird. Demgegenüber ist für die leiblichen Eltern die Trennung von ihrem Kind der stärkste vorstellbare Eingriff in das Elternrecht, der nur bei strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Bei Pflegekindschaftsverhältnissen hat die Trennung geringeres Gewicht. Diese sind institutionell auf Zeit angelegt, so dass bei einer Herausgabe des Pflegekindes aus der Familie des Pflegeelternteils diesem grundsätzlich zuzumuten ist, den mit der Trennung verbundenen Verlust zu ertragen . Für ein Kind ist mit seiner Herausnahme aus der gewohnten Umwelt ein schwer bestimmbares Zukunftsrisiko verbunden.
ff.). Es bedeutet einen tiefen Einschnitt in der Biografie eines jeden betroffenen Kindes.
Das Bundesverfassungsgericht hat als Prüfungsmaßstab der Kindeswohlgefährdung folgende Kriterien aufgestellt: So darf das Prognoserisiko in Bezug auf etwaige Schädigungen des Kindes infolge eines etwaigen Wechsels nicht dazu führen, dass die Herausgabe immer schon dann ausgeschlossen ist, wenn das Kind in den Pflegeeltern seine „sozialen“ Eltern gefunden hat. Steht die Rückführung zu den leiblichen Eltern an, ist deshalb ein größeres Maß an Unsicherheit über mögliche Beeinträchtigungen des Kindes hinnehmbar als beim bloßen Wechsel der Pflegefamilie. Die Risikogrenze ist aber dann überschritten, wenn im Einzelfall mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht auszuschließen ist, dass die Trennung des Kindes von seinen Pflegeeltern psychische oder physische Schädigungen nach sich ziehen kann. Ein solches Risiko ist für das Kind nicht hinnehmbar. Allein der Umstand eines langen Verbleibs des Kindes in der Pflegefamilie genügt nicht, dass ein Schaden für das Kind durch eine Rückführung in die Herkunftsfamilie mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht auszuschließen ist. [....]
Bezogen auf vorliegenden Fall scheidet eine Rückführung M.s demnach nicht schon dann aus, wenn nur eine geringe Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass er hierdurch psychisch oder physisch geschädigt wird („Restrisiko“); vielmehr ist die oben aufgezeigte Risikogrenze erst bei einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit der Schädigung des Kindes durch die Rückführung überschritten. Dass aber über die bloße Trennungsproblematik hinaus weitere Risikofaktoren hier gegeben sind, vermag der Senat nicht zu erkennen.
Das zu dieser Fragestellung zweitinstanzlich eingeholte Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. verneint nicht nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit der Kindeswohlgefährdung. Der Gutachter ist sogar zu der sicheren Überzeugung gelangt, dass die Rückführung M.s zu seiner leiblichen Mutter zwar eine Belastung für das Kind bedeute und auch Risiken beinhalte, jedoch nicht solche, die als Schaden im Sinne des Kindeswohls klassifiziert werden müssten.
Auch der Senat sieht die Risiken, die bei Verbleib M.s in der Pflegefamilie in Kauf zu nehmen wären, und gewichtet sie höher und schwerwiegender als die durch die Trennung von den Pflegeeltern zu erwartende Belastung des Kindes. Die Erfahrung aus einer Vielzahl ähnlich gelagerter Fälle zeigt, dass ein älter werdendes, in Dauerpflege lebendes Kind sich immer fragen wird, warum es nicht bei der leiblichen Mutter aufwachsen kann und darf. Wie der Sachverständige zutreffend und nachvollziehbar ausführt, berühren diese Fragen den Selbstwert und die Identität sowie das Vertrauen zur Pflegefamilie. Zwar sind diese langfristigen Risiken des Verbleibs in einer Pflegefamilie in Kauf zu nehmen, wenn die Rückgabe eines Kindes zur leiblichen Mutter als zu riskant erscheint. Jedoch ist letzteres vorliegend weder für den Senat noch für die beiden erst wie zweitinstanzlich einbezogenen Gutachter erkennbar.
Wie schon die Sachverständige K. erstinstanzlich festgestellt hat, ist M. dank der guten Betreuung in der Pflegefamilie sozial und emotional sehr gut und altersentsprechend entwickelt. Er verfügt über eine gut ausgebildete Konzentrations- und Sprachfähigkeit sowie über einen großen Wortschatz. Er merkt die zwischen den Beteiligten herrschenden Unstimmigkeiten und ist, wie die Pflegeeltern selbst schildern, dadurch bereits jetzt verunsichert.
Andererseits hat M. nicht nur zu seinen Pflegeeltern und deren leiblichen Kindern Beziehungen aufgebaut, sondern auch zu seiner leiblichen Mutter und deren Partner. Aufgrund des seit M.s Geburt bestehenden Pflegeverhältnisses ist seine Beziehung zu den Pflegeltern naturgemäß zwar besonders eng. Jedoch hatte M. immer auch zu seiner leiblichen Mutterregelmäßigen Kontakt und steht zu ihr in einer besonderen Beziehung. Wie der Sachverständige Prof. Dr. nachvollziehbar ausführt, fand diese zwar zunächst eher auf einer „geschwisterlichen“ Ebene statt. Jedoch hat die Mutter seit der Geburt von M. eine erstaunlich positive Persönlichkeitsentwicklung erfahren. Sie hat angesichts ihres jugendlichen Alters und ihrer schwierigen Biografie eine ungewöhnliche Zielstrebigkeit an den Tag gelegt, was sowohl ihr Privatleben als auch ihre Ausbildungslaufbahn betrifft. Privat ist sie seit rund 3 Jahren mit ihrem jetzigen Verlobten S. B. liiert und lebt mit diesem in einer gemeinsamen Wohnung im Haus der zukünftigen Schwiegereltern. Auch S. B., der ihr schon bei M.s Geburt beigestanden hat, akzeptiert M. offensichtlich wie ein eigenes Kind. Er steht als Mechaniker in einem festen Anstellungsverhältnis in der Metallbranche, so dass die Zukunft der kleinen Familie gesichert erscheint. Beruflich hat die Mutter nach der Geburt von M. das Ziel weiterverfolgt, einen besseren Hauptschulabschluss zu erlangen, was ihr auch bei regelmäßigen Umgangskontakten mit M. ohne weitere familiäre Unterstützung gelungen ist. Nach einer kurzen Berufsorientierungsphase hat sie sich dafür entschieden, den Beruf der Kinderpflegerin zu ergreifen und ein Vorpraktikum in einem Kindergarten in W. mit sehr guter Beurteilung absolviert. Mittlerweile besucht sie, wie geplant, die Berufsfachschule für Kinderpflege in B. Physische oder psychische Unzulänglichkeiten der Mutter sind bisher ebenso wenig zutage getreten wie etwaige Drogen- oder Alkoholprobleme. Soweit das Familiengericht die Mutter als labile und leicht beeinflussbare Person einschätzt, widerlegt die junge Mutter dies mittlerweile durch ihr derzeit langfristig angelegtes Privatleben und die Umsetzung ihrer Berufspläne. Nach Ansicht des Senats kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass sie nicht die Erziehungskompetenz hat, die Belastungsreaktionen von M., die bei einer Rückführung kurzfristig entstehen, aufzufangen.
Vielmehr verfügt die Mutter aufgrund der kontinuierlichen und zuverlässig eingehaltenen Umgangskontakte über eine gute Bindung zu M., ein entsprechendes Einfühlungsvermögen und offensichtlich auch über eine Bindungstoleranz hinsichtlich der Pflegeeltern. Wie der in den Akten befindliche BildundTonträger zu den Interaktionen der leiblichen Mutter mit M. anschaulich zeigt, nimmt diese inzwischen eine aktive und selbstbewusste Position zu ihrem Sohn M. ein. So weist auch der Sachverständige Prof. Dr. zutreffend auf die besonders günstige Prognose für die Kindesmutter hin. Sie sei weder lebensuntüchtig noch sozial verwahrlost. Sie sei psychisch wie physisch gesund. Sie weise zwar im Hinblick auf ihre eigene schwierige Biografie Risiken im zukünftigen Bindungsverhalten auf, habe sich aber in den Schutz einer anderen Familie begeben, der Familie ihres Verlobten, und halte an dieser Partnerschaft schon seit längerer Zeit fest. In dem von ihr gewählten sozialen Beruf einer Kinderpflegerin habe sie die Möglichkeit, zu lernen, wie man anderen Kindern Zuwendung, Verständnis und Betreuung zuteilwerden lässt. Wie der Sachverständige hat deshalb auch der Senat keine Zweifel daran, dass diese Mutter ein Kleinkind selbstständig aufziehen kann. Die frühere biografische Krise einer sehr jungen Mutter, die durch die Schwangerschaft und Geburt eines Kindes überfordert war, hat sie, wie der Sachverständige nachvollziehbar erläutert, weitgehend überwunden.
Den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen folgend hält der Senat somit die Rückführung M.s zu seiner leiblichen Mutter trotz der seelischen Belastung eines Kindes, das eine Pflegestelle nach mehreren Jahren verlässt, aus kinderpsychologischer Sicht für vertretbar. Der Sachverständige würdigt in seinem Gutachten die Pflegeeltern als diejenigen Bezugspersonen, bei denen M. seine Grundsicherheit gefunden habe. Diese hätten ihre Aufgabe in sehr überzeugender Art und Weise und mit hohem Einsatz ausgeübt. Auch der Senat anerkennt die jahrelangen Erziehungs- und Betreuungsleistungen der Pflegeltern für M.. Dieser ist wie ein eigenes Kind in die Pflegefamilie aufgenommen und integriert worden. Der Kontakt zur ehemaligen Pflegefamilie sollte M. auch nach der Rückführung zur Mutter erhalten bleiben.
Die Beteiligten haben das ausführliche und fundierte Gutachten des Sachverständigen bereits zum Anlass genommen, M. in den Haushalt seiner leiblichen Mutter zurückzuführen. Sie haben dadurch ihre eigene hohe Bindungstoleranz unter Beweis gestellt.
Die Verbleibensanordnung war daher aufzuheben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 81 Abs.1 Satz 2 FamFG. Bei einer Verbleibensanordnung nach § 1632 Abs.4 FamFG sollen Pflegeeltern nur dann zur Tragung von Gerichtskosten verpflichtet werden, wenn diese die Aussichtlosigkeit des Verfahrens von vorneherein erkannt haben oder das Verfahren durch grob schuldhaftes Verhalten veranlasst haben. Vorliegend ist dies schon deshalb auszuschließen, weil das Familiengericht erstinstanzlich dem Antrag der Pflegeeltern entsprochen hat.
OLG Stuttgart Beschluß vom 10.5.2013, 18 UF 125/12
Zu den Anforderungen und Folgen einer Verbleibensanordnung nach 1632.4 BGB in einer Bereitschaftspflege