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Familiendynamik bei spätadoptierten Kindern
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Bei der Studie handelt es sich um eine psychoanalytisch orientierte empirische Untersuchung zur Psychodynamik der Spätadoption. Die Autorin geht der Frage nach, was eine Spätadoption charakterisiert, wie der Prozess des familiären Zusammenfindens zwischen Eltern und Kind erlebt wird und welche Aspekte das Gelingen oder Misslingen eines Adoptionsverhältnisses beeinflussen.
In fünf Einzelfallstudien geht die Autorin ausführlich darauf ein, wie die einzelnen Familienmitglieder den Verlauf der Adoption erlebt und welche Problemlösungsstrategien sie gefunden haben. Ein theoretischer Überblick über den momentanen Stand der Forschung und ausführliche Schlussfolgerungen aus der Studie für die Praxis runden die ausgesprochen lesenswerte Arbeit ab.
Erfreulicherweise haben wir vom Psychosozial-Verlag und der Autorin, Celina Rodriguez Drescher, die Erlaubnis bekommen, eine Leseprobe zu veröffentlichen. Wir entschieden uns für einen theoretischen Teil, die Definition des Begriffs der Spätadoption sowie einen praktischen Teil, einen Auzug aus einer der fünf Einzelfallstudien.
Kapitel 2.5.1 Definition Spätadoption
Unter Spätadoption verstehen wir hier gemäß der Sprachregelung des Jugendamtes Frankfurt die Adoption von Kindern im Alter zwischen drei und zwölf Jahren.
Wie kommt es zu einer Spätadoption?
Häufig lebt das Kind einige Jahre bei der leiblichen Mutter bzw. den leiblichen Eltern, bevor es - aus unterschiedlichen Gründen - in ein Heim oder aber zu Pflegeeltern gegeben wird. Manchmal wird es auch kurz nach der Geburt aus seiner leiblichen Familie entfernt. In diesen Fällen der stark verzögerten Freigabe des Kindes zur Adoption hofft die leibliche Mutter oft trotz der Abgabe in ein Heim oder zu Pflegeeltern, das Kind später doch noch wieder aufnehmen zu können. Außerdem, wie Wittland-Mittag (1992) pointiert und etwas polemisch anmerkt,
»ist eine Frau, die ihr Kind vernachlässigt und es jahrelang in der rechtlich und psychisch ungesicherten Position eines Pflegekindes belässt, offensichtlich weniger gesellschaftlich geächtet, als eine, die ihrem Kind ein chancenreiches Leben in einer Adoptionsfamilie eröffnet, indem sie der Freigabe zustimmt« (S. 159).
Die hier angesprochene soziale Sanktionierung der definitiven Abgabe eines leiblichen Kindes spielt sicherlich eine wichtige Rolle bei den eventuell teilweise vermeidbaren Faktoren der Verzögerung einer Adoption. Festgehalten werden sollte jedoch schon hier, dass eine Übergangszeit im Heim durchaus sinnvoll sein mag.
Es bestehen gravierende Unterschiede zwischen einer Spätadoption und der Adoption zu einem früheren Zeitpunkt: Im Gegensatz zum Säugling bzw. Baby kann und muss sich das Kleinkind oder Kind quasi selber - aktiv - übereignen oder aber es kann sich verweigern, es muss seinerseits auch seine Adoptiveltern »adoptieren«. Hier findet also ein bilateraler Prozess statt.
Das ältere Adoptivkind hat oft eine dramatische, gar traumatische Vorgeschichte hinter sich, die es mit in die neue Familie bringt, und fast immer mehrere Trennungserfahrungen nicht nur von den leiblichen Eltern bzw. der leiblichen Mutter, sondern auch von Pflegefamilien und Heimerziehern erlebt.
»Während der von seinen leiblichen Eltern zur Adoption freigegebene Säugling unbelastet von Gedächtnisleistungen den Erwachsenen ansprechen kann, hat das ältere Kind seine traurige Geschichte gespeichert und ordnet die neue Objekt-Situation früheren Erfahrungen zu« (Hoffmann-Riem 1984, S. 166).
Es hat eine eigene Persönlichkeit, die auf die Welt, in der es vor seiner Adoption lebte, schließen lässt und die die Phantasien der Adoptiveltern, wie diese Welt ausgesehen haben könnte, mobilisieren muss. Und Hodges et al. (1985) schreiben:
»One of the ways in which late adoptions differ from adoptions in early infancy is that in late adoptions it is not just the adoptive parents, it is also the child who brings to the adoption placement conscious expectations and unconscious wishes in relation to the new family. In addition, the older child may have experienced a series of losses, not only of objects but of a whole familiär milieu, and as a result may feel powerless to affect the decisions imposed by adults upon his or her life« (S. 169).
Viele ältere Kinder wünschen sich Adoptiveltern, doch haben die meisten Kinder gleichzeitig auch Angst vor der Adoption (vgl. z.B. Borgman 1981, S. 397), denn in den meisten Fällen hat das Kind bereits mehrere Beziehungsabbrüche erlebt und tritt einem neuen Angebot gegenüber entsprechend misstrauisch auf. Auch diese Ambivalenz unterscheidet die Spät- von einer Frühadoption.
Auf Seiten der Adoptiveltern kommt es zu einer Spätadoption meist, weil keine Kleinkinder beziehungsweise Säuglinge vermittelbar sind. Oft muss man in diesen Fällen zumindest zum Zeitpunkt der Aufnahme des Kindes wirklich von einer »zweiten Wahl« sprechen. (Den Begriff des »Second Hand« bei Adoptierten verwendet der Adoptivvater von Ulf, dessen Fall in Kapitel 4 dargestellt wird; vgl. auch Flynn 2002, S. 214.) In einigen Fällen wünschen sich die Adoptiveltern jedoch auch explizit ein älteres Kind, weil dies besser zu ihrem eigenen Alter passt oder aber weil sie sich die Pflege eines Kleinkindes aus verschiedenen Gründen nicht zutrauen. Oft liegen beide Motive zugrunde: Die Adoptiveltern bekommen kein kleineres Kind »angeboten«, in der Folge machen sie für sich verstärkt Vorteile einer Spätadoption aus. So z.B. die Eltern von Elvis:
»Und wir haben auch gesagt, ja, wir waren damals eben selber in einem Alter, wo wir gedacht haben, es hat keinen Sinn. Also erstmal wussten wir, dass eh auf jeden Säugling, also, damals hat man gesagt, acht Eltern kommen, und wir hatten schon deswegen gesagt: >Das hat keinen Sinn<, und dann haben wir auch gesagt, >wir sind auch in dem Alter, wo ältere Kinder wirklich einfach besser zu uns passen würden<. Also, das macht mehr Sinn.«
So ist der Beginn des Adoptivfamilienlebens zwangsläufig geprägt von den vorangegangenen Beziehungserfahrungen des Kindes, was die Anfänge des Zusammenlebens in der neuen Familie erschwert. Für die neuen Eltern bedeutet eine Spätadoption, dass sie besonders viel Geduld aufbringen müssen. Sie müssen damit rechnen, dass ihr Kind unter Umständen eine längere Zeit benötigt, um Vertrauen zu ihnen zu fassen.
»Having been disappointed before, and having had their first tentative manifestations of trust abused, some of the children needed reiterated and repeated assurance that the adoptive parents wanted them and loved them« (Kadushin 1970, S. 187).
Und: »Because of the child's fear and mistrust, adoptive parents of older children need the patience and self-confidence which permits them to move at the child's somewhat slower pace in reciprocating affection« (Kadushin 1970, S. 188).
Ich erinnere in diesem Zusammenhang an das Zitat Winnicotts (1990) in Kapitel 2.3.2: »Wenn die frühe Erfahrung nicht gut genug gewesen ist, dann übernimmt die Pflegemutter nicht nur ein Kind, sondern auch einen Fall, und indem sie Mutter wird, wird sie zugleich Therapeutin eines vernachlässigten Kindes« (S. 177).
Um die Chancen der Adoption älterer Kinder zu verbessern, wird seit einigen Jahren zunehmend die Möglichkeit von »offener Adoption« diskutiert, bei der der Kontakt zu vorherigen Bezugspersonen, v. a. zur leiblichen Mutter, eingeschränkt aufrechterhalten werden kann. Die offene Adoption wird jedoch von verschiedenen Autoren eher skeptisch beurteilt (z.B. Textor 1989).
Ein anderes Charakteristikum der Aufnahme eines älteren Kindes ist, dass diese nach außen hin immer sichtbar ist, es sei denn, dass zeitgleich ein Umzug und Arbeitsplatzwechsel der Adoptivfamilie stattfindet. In dieser Tatsache ist neben all den Problemen, die sie beinhaltet, auch eine Entlastung zu sehen, da dies eine offene Situation darstellt und insbesondere die Schwierigkeit ausschließt, wann und wie das Kind selber, doch auch Nachbarn und Kollegen, über die Adoption informiert werden sollten.
Die Mehrzahl der genannten Aspekte scheint also eine Spätadoption erst einmal mit Schwierigkeiten zu belasten. Zu den Adoptiveltern, die bereit sind, sich hierauf einzulassen, bemerkt M. Geller (1992), dass es sich nach der Aussage eines Adoptionsvermittlers bei Adoptionsbewerbern mit der Bereitschaft, ein älteres Kind aufzunehmen, um einen besonderen Typus von Bewerbern handelt: »... die also auch gar nicht so, sagen wir mal... reflektieren, was könnte alles sein, was trau' ich mir zu und was trau' ich mir nicht zu ... Die (Bewerber für ältere Kinder; die Verf.) sind offener« (S. 89).
Göppel (1992) schreibt: »Mit der Zunahme der Vermittlungen älterer oder behinderter Kinder stieg auch die Zahl der abgebrochenen Adoptionsverhältnisse. Die Rate solcher >disruptions< schwankt zwischen den einzelnen Studien, wird aber meist mit 10-15% angegeben« (S. 65). In anderen Untersuchungen wird bei Spätadoptierten von ca. 19% abgebrochenen Adoptionsverhältnissen gesprochen, bei Frühadoptierten von ca. 15% (vgl. Howe 1998 und Kapitel 2.2). Die Vergleichszahl für den Abbruch von Adoptionsverhältnissen bei Frühadoptierten fehlt hier, die Zahlen weisen jedoch darauf hin, wie schwierig die Situation mit dem spätadoptierten Kind mitunter für die Familien sein mag.
Es ist hilfreich für Adoptiveltern älterer Kinder, wenn sie an eine starke, mit dem Alter wenig nachlassende Einflussmöglichkeit durch die jeweilige Umwelt glauben, denn die Auffassung, die frühkindlichen Erfahrungen hätten einen unkorrigierbaren Prägungscharakter, wirkt sich bei einer Spätadoption eher als hinderlich aus (vgl. Kapitel 2.2). Man kann mutmaßen, dass eine dies einbeziehende »Vorauswahl« der Adoptiveltern insgesamt einen positiven Effekt auf die weiteren Entwicklungsaussichten der Spätadoption mit ihren zweifellos schwierigen Startbedingungen mit sich bringen dürfte.
Andererseits besteht bei einem positiv-optimistischen Blick auf die Entwicklungsmöglichkeiten von Spätadoptierten natürlich auch die Gefahr der Enttäuschung über vermeintlich langsame Eingewöhnungsprozesse.
Kapitel 4.5 Elvis
Ich klingele an einem Donnerstag spät nachmittags bei der Familie Broch. Die Mutter begrüßt mich, sie ist etwa Anfang 40. Sie macht auf mich einen engagierten, lebhaften und couragierten Eindruck, ist eine attraktive Frau. Die Wohnung ist großzügig, geräumiger Altbau, teilweise etwas nachlässig eingerichtet, doch gemütlich - mit vielen Büchern, Videos und Bildbänden in den hohen Regalen.
Elvis ist ein zierlicher Junge, vierzehn Jahre alt. Er wirkt auf mich jünger, fast mädchenhaft, sowie ein wenig scheu und ängstlich, doch durchaus auch neugierig. Etwas zaghaft und beklommen begrüßt er mich. Die Adoptivmutter bietet Tee an, verschwindet in der Küche, um ihn zuzubereiten; später läuft Elvis auch dorthin, um etwas zu holen. Diese Alltäglichkeiten wirken entkrampfend auf uns alle. Elvis fängt in Abwesenheit der Adoptivmutter ein Gespräch mit mir an. Recht unvermittelt will er »seine Geschichte« erzählen, fühlt sich dann allerdings durch die Rückkehr der Adoptivmutter augenscheinlich am Fortfahren gehindert. Es kommt mir so vor, als koste es ihn Überwindung, überhaupt etwas zu erzählen; nun will er auch schnellstmöglich »loswerden«, was ihm widerfahren ist. Wir trinken Tee aus unterschiedlichen, angeschlagenen Tassen, die alle einen »eigenen Charakter« haben.
Etwas abrupt fordert Elvis die Mutter nach ersten Begrüßungsfloskeln und nachdem ich mein Anliegen formuliert habe, auf, das Zimmer zu verlassen, es sei ja »seine« Geschichte, die er mir auch ganz allein erzählen wolle. Die Mutter wirkt insgesamt auf mich verständnisvoll, aber dennoch ein wenig, aber wirklich nur leicht, gekränkt. Ich finde sie sympathisch und sie mich wohl auch, was uns beide erleichtert.
Elvis erzählt zügig, recht eloquent, jedoch teilweise etwas zusammenhangslos seine Geschichte. Einzelne Punkte erfahre ich durch Nachfragen, andere Details später von seinen Eltern. Er will mir auch unbedingt sein Fotoalbum zeigen, mit allen Bildern, die er besitzt. Dabei rückt er näher an mich heran, und wir blättern die Seiten durch. Ich empfinde die Atmosphäre als gedrückt. Als Elvis sich an ein Kätzchen erinnert, das durch seine Unwissenheit bei der Pflege erst verschwand und dann wahrscheinlich gestorben ist, wird die Stimmung noch ein wenig trauriger. Er denke selten an die Adoption und »solche Dinge«, aber doch viel an das kleine Tier. Wenn seine leibliche Mutter ihn wieder zu sich nehmen wolle, so würde er nicht mitgehen.
Ich habe das Gefühl, dass das Thema viel in ihm aufrührt, und denke noch, dass er vielleicht auch zu jung ist, um in gewissem Sinne »Bilanz« zu ziehen.
Fast habe ich ein schlechtes Gewissen, ihn hiermit zu konfrontieren.
Geschichte
Elvis wurde im Alter von einem halben Jahr von seiner bei der Geburt 16-jährigen Mutter weggegeben. Sie war offenbar drogenabhängig. Der Vater war bekannt, lebte jedoch nicht mit der Mutter zusammen und kümmerte sich auch nicht um das Kind. Elvis kam zunächst in eine Pflegefamilie. Dort lebte auch ein leibliches Kind, etwa im selben Alter wie er. Dieses Kind war behindert. Auch Elvis wurde dort schnell als retardiert eingestuft. Seine Entwicklung war wohl tatsächlich langsam, doch mutmaßen seine Adoptiveltern eher, dass diese Auslegung den Pflegeeltern besser zupass kam: Für behinderte Kinder werde mehr Geld gezahlt, außerdem sei es ja einfacher gewesen, das vermeintlich zurückgebliebene Kind zu dem anderen in ein Laufställchen zu setzen ...
Mit zwei Jahren wurde Elvis in eine andere Pflegefamilie gegeben, in der er verblieb, bis er viereinhalb Jahre alt war. Dann kam er in ein Kinderheim, in dem er bis zur Adoption ein gutes Jahr später lebte. Aus der Pflegefamilie weggegeben wurde er seiner Erinnerung nach aufgrund eines Vorfalls, bei dem er Apfelkerne auf den Boden spuckte, was die Pflegeeltern außer sich geraten ließ. Die Pflegemutter habe ihm aber dennoch beim Abschied versprochen, sie werde ihn künftig besuchen kommen; ein Versprechen, das sie jedoch nicht hielt, wohl, weil man ihr damals im Kinderheim davon abriet, so die Hypothese der Adoptivmutter.
Mit fünf Jahren lernt Elvis seine jetzigen Adoptiveltern im Heim kennen. Mit fünfeinhalb Jahren wird er adoptiert. Die Zeit im Kinderheim schildert er als eine recht schöne Zeit. Er erinnert sich gut an eine Pflegerin, Yvonne, die sich sehr für ihn eingesetzt habe; auch an einen rothaarigen Pfleger, vor dem er sich fürchtete, weil er groß war und eine laute Stimme hatte, auch wenn sich dieser gleichfalls um ihn bemühte.
Gleich zu Beginn des Zusammenlebens mit seinen Adoptiveltern schenken diese ihm ein Kätzchen, das er, wie erwähnt, aus Unkundigkeit nicht richtig pflegt. woraufhin es sich erkältet und stirbt. Elvis selber erzählt mir recht aufgeregt von diesem Vorfall, meint jedoch, vielleicht sei die Katze nur weggelaufen und lebe noch (eine Sichtweise, die ich, so denke ich im Nachhinein, zu sehr unterstütze, weil sie mir gleichfalls erträglicher vorkommt). Die Adoptiveltern erzählen später, dass die Katze sicher eingegangen war. Schön findet Elvis die Wochenendeausflüge mit seinen Eltern in das Ferienhaus in der Nähe auf dem Land. Dort hat er einen alten Mann als »Freund«, liebt auch die Tiere: Gerne würde er bessere schulische Leistungen zeigen, doch sei er nicht sonderlich gut in der Schule, was ihn ärgere.
(Anmerkung der Redaktion: Im Buch folgt das Kapitel "Gespräch mit den Eltern", das wir hier aus Platzgründen weggelassen haben. Die folgende Analyse ist selbstverständlich Ergebnis aller Interviews mit der Familie. Falls sich beim Lesen der Analyse bestimmte Ergebnisse hier nicht vollständig nachvollziehen lassen, finden Sie ihre Erklärung in den Interviewteilen, die wir in moses-online nicht veröfentlicht haben.)
Analyse Elvis und seine Eltern
Der Fall Elvis ist ein Beispiel für die mühsam erkämpfte, dann aber mit großer Befriedigung erfahrene emotionale Annäherung zwischen Eltern und Kind.
In Elvis' Denken ist die leibliche Mutter sehr präsent. Er selber identifiziert sich vermutlich in starkem Maße mit der kleinen Katze, von deren Verbleib er nichts weiß, die wahrscheinlich gestorben ist und auf die er seine Verlassenheitsängste projiziert. Eine kleine Hoffnung nur hat er, dass das Tier sich in die Wärme retten konnte oder gar von jemandem aufgenommen wurde. Die Interviewerin äußert diese Hoffnung in wesentlich verleugnenderer und unrealistischerer Weise - es ist kaum erträglich für mich, doch vielleicht auch für andere, so die nachträgliche Deutung, dass ein Kind, ein Menschenkind, ein Tierkind, misshandelt und allein gelassen wird.
Hier klingt jedoch auch das Thema der Identifikation mit dem Aggressor vorsichtig an: Elvis könnte die Phantasie haben, dass er das Tier, das ihm anvertraut war, nicht schützen konnte oder sogar wollte, er fügte Leid zu, während er sich sonst eher als Spielball anderer, als Opfer erleben musste. Eine Phantasie von Schuld entsteht, die das Empfinden von Aktivität und Selbstverantwortlichkeit verschafft. Und wo man selber etwas verursacht hat, kann man auch selber Wiedergutmachung betreiben (vgl. Oliner 1999; Bohleber 2000, S. 832). Dies beschreibt auch Elvis' Traumatisierung: In seiner Erinnerung brachen Beziehungen plötzlich, ohne Vorwarnung ab. Es gab in seinem Leben viele Ereignisse, die ihm iderfuhren, die er erdulden musste. Fischers u. Riedessers (1998) Definition des Traumas trifft auf Elvis zu: Sie definieren ein Trauma als ein »vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt« (S. 79).
Elvis führt selbst eine Trennung herbei, die seine Mutter auch von ihm vollzogen hat. Er wusste es damals nicht besser, doch ging er fahrlässig mit dem Tier um. Es trifft ihn keine »Schuld«, aber unverantwortlich und aggressiv war es doch, könnte er meinen. Die Strafe ist, dass er nicht weiß, ob das Tier noch lebt oder nicht, dass er von ihm träumen muss, und er sieht es als Fortschritt, dass die Träume seltener werden, er den Stimmen im Radio lauschen kann statt den ängstlichen Stimmen in sich selber. Auch von seiner Mutter wünscht er vielleicht, dass sie sich Sorgen macht über seinen Verbleib und das Beste für ihn erhofft, dass sie ihn aus großer Not, wider Willen oder besseres Wissen, hergeben musste. Und doch leidet auch sie vielleicht an Schuldgefühlen und könnte eines Tages versuchen, ihn wiederzugewinnen. Doch so wie er die Katze den Menschen, die sie vielleicht gerettet haben, nicht wieder wegnehmen würde, so will auch er bei seinen Adoptiveltern bleiben dürfen; er hofft, dass seine Mutter ihn wirklich freigibt. Sie konnte nicht anders, sie war schuldlos, so sagt er, so hofft er, aber es bleibt dennoch ein Thema, dass sie ihn weggab, und ganz zu verstehen ist es für ihn natürlich nicht.
Er hat kein richtiges Bild von seiner leiblichen Mutter, kein inneres und kein äußeres, wünscht sich ihre Präsenz, fürchtet sich gleichzeitig vor ihr. Seine Eltern, die ihm dies keinesfalls verweigern würden - im Gegenteil - kann er noch nicht nach einem Foto von ihr fragen. Er beschwört das Bild von einem Loyalitätskonflikt herauf, in den er bei Auftauchen dieser Mutter geraten könnte, in dem er sich jedoch vermutlich innerlich konstant befindet.
Hier wird ein Thema verdichtet dargestellt, das bei allen Adoptionen virulent ist: Es gibt zwei Mütter, stets und ständig, sie sind beide präsent und beeinflussen beide den Werdegang ihres Kindes. Dass sie relativ harmonisch nebeneinander existieren können, erfordert viel von allen Beteiligten und setzt auch einen gewissen Reifegrad bei Elvis voraus, den er aufgrund seines Alters noch gar nicht erreicht haben kann. Was hier jedoch auch jetzt schon zum Tragen kommt, ist ein Eingestehen seiner Trauer, die innere und äußere Erlaubnis, sich in dem für ihn angemessenen Tempo mit dem Thema der Trennung zu beschäftigen, mit Unterstützung seiner Adoptiveltern.
Elvis war bei seinem Eintritt in die Familie durch die vorangegangenen mehrfachen Wechsel der Betreuungspersonen verunsichert und wies die Adoptiveltern zurück. Heftige Ablehnung seinerseits, Aggressionen - er selbst bezeichnet sich im Rückblick als »Wutteufel« - erschwerten die Anfangszeit in der Familie. Seine regressiven Wünsche ließen ihn, stellvertretend durch kleine Tiere, Hunderte von Malen Geburten mit der Mutter spielen.
Sicher hatte er den Wunsch, von seiner Adoptivmutter geboren worden zu sein und von Beginn an zu ihr zu gehören, um damit auch quasi seine traurigen Erfahrungen in den ersten fünf Lebensjahren auszulöschen. Über das Spiel konnte er diese Bedürfnisse in verschlüsselter Form äußern. In jedem Fall agierte er hier große Ängste und für ihn schreckliche Erfahrungen. Er geht zu dem Zeitpunkt zurück, ab dem er einen anderen Weg für sich eröffnen möchte, um dadurch zu heilen. Dies ist im Sinne der Traumaverarbeitung zu verstehen, zumal sich das Agieren zum Spiel wandelte.
Solche Regressionen bedeuten bei Spätadoptierten mit vielen Deprivationserfahrungen eine konstruktive Entwicklung als Übergang auf dem Weg zu einer intensiven Beziehung mit den Adoptiveltern. Die Häufigkeit der Geburtsspiele zeigt deutlich, wie beängstigend und überwältigend Elvis' Erfahrungen waren, dass er schwer traumatisiert wurde. Seine Phantasien waren zunächst auf dieses Thema zentriert. Es spricht für die Fähigkeit der Adoptivmutter zu großer Empathie, dass sie sich auf dieses Spiel und den Rhythmus des Kindes einließ, ihm quasi in seiner Entwicklung folgte und den Jungen »bestimmen« ließ.
Aus einem anderen Fall: »Among the wishes and expectations (not necessarily conscious) which both children seem to have brought to the placement are strong regressive wishes to be indulged as an infant. Marco wanted a bottle, accompanying his ducking with baby noises, and showed a loss of the toilet training which (it is thought) he had acquired. The extent of his >baby< behaviour raises the question of how far he might have been indicating a wish to be the baby his adoptive parents had wanted and to have grown up with them since infancy« (Hodges et al.1985, S. 173).
»He used to talk baby talk when we first got him. This kind of seemed funny for a seven-year-old boy. But he did. He talked baby talk. He'd say >mommeeee< you know. He'd say, >come here, mommmeeee<. He just didn 't have what he needed when we got him« (Kadushin 1970, S. 185; Hervorhebung durch die Verf.).
Die Eltern verstehen, dass Elvis erst einmal eine längere Zeit benötigt, um Vertrauen zu schöpfen, dass er zurückgehen muss, um nach vorne schauen zu können. »Because of the child's fear and mistrust, adoptive parents of older children need the patience and self-confidence which permits them to move at the child's somewhat slower pace in reciprocating affection« (Kadushin 1970, S. 188). Sie leben damit etwas, was sie selber positiv über die Vermittlerin des Jugendamtes schildern: Die Aggression des Kindes könnte man als problematisch und defizitär interpretieren, doch andererseits auch durchaus als ein im Rahmen von Elvis' Geschichte zu sehendes gesundes Aufbäumen gegen den großen Schmerz, als ein konstruktives, entwicklungsfähiges Element und ein Zeichen von Vitalität. Sie haben diesen positiven Blick und die Geduld, zumal sie in der Lage dazu sind, der eigenen Überforderung durch Hilfestellung von außen - sie gehen mit Elvis in eine Therapie - zu begegnen. Die Vermittlerin hat sicherlich eine hervorragende Arbeit geleistet, indem sie ihnen das Kind liebevoll, doch realistisch näher brachte.
Die Eltern fühlen instinktiv, dass das Kind ein akzeptables Bild seiner leiblichen Eltern benötigt, um sich selbst annehmen zu können (Kadushin 1970, S. 176). Sie zeigen eine bemerkenswert ausgeprägte Fähigkeit zur Empathie. In den Worten von Kirk (1981, S. 46, 157) verfügen sie über die Fähigkeit zum »acknowledgement-of-difference«. In aller Offenheit zeigen sie ein Foto der leiblichen Eltern; sie unterstützen unaufdringlich, dass Elvis an seine Vergangenheit ankoppelt, besuchen das Kinderheim, in dem er lebte.
Eine kleine Brille, die er trug, als er zu ihnen kam, haben sie aufbewahrt, kleine Relikte von Elvis' Vergangenheit. Vielleicht wird Elvis die Mutter alsbald nach dem Foto seiner leiblichen Mutter fragen können, um in einem weiteren Schritt diese erste, tiefgreifende Trennung zu verarbeiten. Gerade die Mutter betont akzeptierend die Schwierigkeiten des Kindes; sicherlich war dies für sie ein harter Prozess, auf diese Weise damit umzugehen. Es mag auch ein wenig ihrem eigenen Selbstbild entsprechen, sich als verständnisvoll zu stilisieren, was dem Erfolg jedoch keinen Abbruch tut.
Ich fühlte mich gleich wohl in dieser Familie. Die Wohnungseinrichtung, die zu demonstrieren schien, dass auf Äußerlichkeiten nicht sehr viel Wert gelegt werde, eine gewisse fast großbürgerliche Lässigkeit, die angeschlagenen verschiedenen Tassen - all dies evozierte in mir ein Gefühl von Wärme und Toleranz. Vor allem die Mutter vermochte in meinen Augen, so die Übertragungsanalyse, eine vertraute und behagliche Stimmung zu verbreiten. Vielleicht hat Elvis seinerzeit Ähnliches erfahren: die gute, recht unkomplizierte, ja sogar gewollt unkomplizierte Aufnahme in diese Familie, die es ihm erleichterte, seinen eigenen Raum zu entdecken.
Über ihre bedingungslose Annahme des Kindes sind die Adoptiveltern in der Lage, das Kind auch in Gänze, d.h. mit seiner Vergangenheit, zu akzeptieren. Sie suchen mit Elvis mehrfach das Heim wieder auf, in dem er vor der Adoption gelebt hat, sie knüpfen undramatisch und wie selbstverständlich an seine Vergangenheit an. Statt Ängste zu entwickeln, ihn über diese große Offenheit zu verlieren, schaffen sie hierdurch erst recht seine Anbindung an sie als Eltern und den Aufbau einer tragfähigen Beziehung. Die Familie hat sich selbst geholfen: Sie haben sich über eine Therapeutin auch Hilfe von außen holen können, als ihre Belastungsgrenze für sie erreicht zu sein scheint - auch ein Zeichen von Stärke.
Elvis' Eltern setzen sich mit der eigenen Ambivalenz auseinander, sie geben sie vor sich und anderen zu. Die auftretenden Probleme sind szenisch auf dem Tisch. Der Schlüsselsatz, der dies aufzeigt, ist die von der Mutter geäußerte Furcht: »Ich hatte Angst, ich könne mich nicht in das Kind verlieben.« Dies ist eine realistische Angst, so wie die Eltern überhaupt sehr bodenverhaftet mit der Situation der Adoption umgegangen zu sein scheinen, was den Prozess der Annäherung sicherlich erleichterte (vgl. auch Brodzinsky et al. 1998, S. 61; Brodzinsky et al. 1993). Dass sie sich verlieben kann und das Gefühl entwickelt: »Das ist mein Kind!« zeigt, dass hier eine wirkliche Beziehungsaufnahme stattgefunden hat. Mit dieser Klarheit geht auch die Übernahme von Verantwortung für das Kind und seine Entwicklung einher. Und doch gibt es natürlich auch in dieser Familie Ängste, Gekränktheiten; so der kleine Moment der Irritation der Mutter, als Elvis sie von »seiner« Geschichte ausschließt und mit der Interviewerin alleine bleiben möchte. Vielleicht bleibt es immer auch ein wenig schmerzhaft für die Eltern gerade von Spätadoptierten, dass es einen Teil der Geschichte ihres Kindes gibt, aus dem sie letzten Endes ausgeschlossen bleiben müssen, weil sie ihn nicht mit erleben konnten.
Die Frage, inwieweit Trennungs- und Abgrenzungswünsche adoleszenter Adoptierter auf altersadäquate Prozesse zurückzuführen sind oder aber vielmehr auf die spezifische Adoptionssituation, wird nicht ganz zu klären sein. Die Reaktion von Adoptiveltern auf Abgrenzungswünsche durch ihre Kinder (in unserem Fall nur sehr subtil und im Ansatz zu beobachten) zeigt jedoch, dass mit der Adoptionssituation immer auch ein wenig Vorsicht und ängstliche Besorgtheit einher geht.
Die Annahmegeschichte von Elvis ist rührend, sie hat eine »gute Gestalt«. Die Adoption von Elvis ist ein hervorragendes Beispiel für eine geglückte und für alle Beteiligten befriedigende Adoption. Beide Seiten haben sich voll angenommen. Dass seine Adoptiveltern für ihn da sind, das fühlt Elvis mit großer Gewissheit. Seine Eltern lieben ihn. Mit seiner Vergangenheit.

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