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14.07.2013
Fachartikel

Wenn Kinder nicht mehr bei ihren leiblichen Eltern leben können

Was passiert in Familien, in denen Kinder in Not geraten? Es gibt verschiedene Gründe, warum Kinder in ihren Familien in Not geraten können.

Was passiert in Familien, in denen Kinder in Not geraten?

Es gibt verschiedene Gründe, warum Kinder in ihren Familien in Not geraten können.

  • Die Eltern sind nicht in der Lage, das alltägliche Leben mit dem Kind geregelt zu meistern.
  • Eltern sind aufgrund eigener Problematik so mit sich selbst beschäftigt, dass sie die Bedürfnisse des Kindes nicht verstehen und ihrem Kind keine verlässlichen Eltern sein können. Dadurch, dass sie dem Kind nicht gerecht werden, vernachlässigen sie es.
  • Eltern missbrauchen oder misshandeln ihr Kind.
  • Eltern können aufgrund eigener schwerer Erkrankung oder Unfälle ihr Kind nicht mehr selbst versorgen.
  • Eine Familie kann aufgrund äußerer Umstände z.B. Arbeitslosigkeit, Scheidung in eine schwere Krise geraten.
  • Und, und, und …

Welche Hilfen werden diesen Familien dann angeboten

Das Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) bietet den Eltern in solchen Fällen sogenannte „Hilfen zur Erziehung“ an. Eltern oder andere Personensorgeberechtigte haben dann Anspruch auf solche Hilfen, wenn eine dem Wohl des Kindes oder Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist (§ 27 SGB VIII).
Diese Hilfen haben ein breites Spektrum und sollen individuell auf die Bedürfnisse des Kindes und seiner Familie abgestimmt werden. Im § 27 werden beispielhafte Angebote aufgeführt:

  • Erziehungsberatung – Soziale Gruppenarbeit – Erziehungsbeistand, Betreuungshelfer,
  • Sozialpädagogische Familienhilfe – Erziehung in einer Tagesgruppe – Vollzeitpflege;
  • Heimerziehung, sonstige betreute Wohnform – intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung,
  • Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche.

Je nach Bedarf kann die Hilfe also

  • sehr lose – z.B. Erziehungsberatung,
  • intensiver im Rahmen der Familie – z.B. sozialpädagogische Familienhilfe oder
  • eine Hilfeform außerhalb der Familie sein – z.B. Vollzeitpflege, Heimunterbringung.

In der Regel wird erst einmal versucht, die Familie direkt durch Maßnahmen zu stützen, damit das Kind in der Familie bleiben und dort besser aufwachsen kann. So kommt z.B. bei der Hilfeform „sozialpädagogische Familienhilfe“ für mehrere Stunden in der Woche eine Fachkraft in die Familie und versucht der Mutter bzw. den Eltern zu helfen, den Alltag zu regeln und die elterlichen Erziehungskompetenzen zu steigern.

Natürlich ist diese Hilfe oft erfolgreich, leider jedoch nicht immer. So passiert es immer wieder, dass die Eltern dieses Hilfsangebot nicht umsetzen können und weitere Hilfen zum Schutz des Kindes notwendig sind. Diese Hilfen bedeuten dann im Regelfall die Herauslösung des Kindes aus der Familie, entweder über den Tag (Tagesgruppe) oder über Heimaufenthalt oder Pflegefamilie.

In allen Hilfen zur Erziehung setzen sich Fachkräfte im Team zusammen und überlegen welche geeigneten Hilfen sie den Eltern anbieten können. Nehmen die Eltern diese Hilfen an, dann zeigen sie sich als verantwortliche Eltern im Sinne des Kindeswohls. Lehnen sie die Hilfen ab, dann muss das Jugendamt zum Schutz des Kindes einen Antrag auf Entzug des Sorgerechtes beim Familiengericht stellen. Das Familiengericht entscheidet dann, ob die Eltern weiterhin die teilweise oder volle Verantwortung für ihr Kind haben können, oder ob ein Pfleger (bei teilweisem Entzug des Sorgerechtes) oder ein Vormund (bei der Entziehung des gesamten Sorgerechtes) benannt wird.

Wann Heim, wann Pflegefamilie oder Erziehungsstelle?

Fachkräfte der Jugendämter haben einmal zusammengefasst, wann sie es für richtig halten, ein Kind in eine Pflegefamilie zu vermitteln und nicht in ein Heim zu bringen. Folgende Gründe spielten eine Rolle:

  • Die bisherigen Angebote an die Familien (z.B. sozialpädagogische Familienhilfe) war nicht erfolgreich.
  • Ein Kind braucht Nähe, Geborgenheit und Bindung (jüngeres Kind).
  • Ein Kind ist mit mehreren Erwachsenen (Heimerziehern) überfordert.
  • Ein Kind möchte Eltern haben.
  • Ein Kind hat bisher noch keine Familie kennen gelernt und soll Familie als Lebensmodell erfahren.
  • Ein Kind bei dem klar ist, dass es nicht wieder in seine Ursprungsfamilie zurückkehren kann.
  • Weil „Familie“ im Alltagsleben normaler ist.
  • Weil es kostengünstiger ist.

Allgemein einig waren sich die Fachkräfte darüber, dass besonders kleine, junge Kinder besser in Pflegefamilien als in Heimen aufgehoben seien. Dem besonderen Bedarf dieser Kinder nach Geborgenheit und Verlässlichkeit von Bezugspersonen könne nur eine Familie entsprechen.

Eine Unterbringung in einem Heim ist dann sinnvoll, wenn das Kind

  • in absehbarer Zeit in seine Familie zurückkehren kann,
  • so schwer geschädigt ist, dass es die Nähe in einer Familie nicht ertragen kann,
  • besonderer heilpädagogischer Betreuung bedarf,
  • keine Familie mehr möchte,
  • Jugendlicher ist und Verselbstständigung anstrebt,
  • keine Familie als Pflegefamilie gefunden wird.

Hilfen für die Eltern nach der Unterbringung in Heim oder Pflegefamilie – Stabilisierung

Das Kinder- und Jugendhilfegesetz schreibt vor, dass das Jugendamt die Eltern zu beraten und zu unterstützen hat, so dass sie ihr Kind wieder zu sich zurücknehmen können. Dies bedeutet, dass z.B. weiterhin sozialpädagogische Familiehilfe in die Familien geht, Eltern zu Therapien usw. bewegt werden sollen und alles getan werden soll, damit das Kind zur Familie zurückkommen kann. Das Jugendamt soll darauf hinwirken, dass die Pflegeperson oder die Erzieher im Heim und die Eltern zum Wohl des Kindes zusammen arbeiten und eine Rückkehr des Kindes unterstützen. Die Stabilisierung der Familie muss jedoch in einem für das Kind vertretbaren Zeitraum geschehen.

Bei Familienkrisen, die durch äußere Dinge geschehen, z.B. Arbeitslosigkeit, Scheidung und Absinken in Armut ist eine solche Hilfe meist von Erfolg gekrönt. Die Eltern schaffen es, die Beziehung zum Kind zu erhalten und es zurück zu nehmen, wenn die äußeren Faktoren durch besondere Hilfen gemildert worden sind.

Bei Eltern, die ihre Kinder schwer vernachlässigt, misshandelt oder missbraucht haben ist jedoch zu fragen, ob sie in der Lage sein werden, sich so zu stabilisieren, dass einerseits auf diese Stabilität wirklich gebaut werden kann und andererseits diese Stabilisierung in einem für das Kind vertretbaren Zeitraum gelingen kann.

Der Gesetzgeber bevorzugt natürlich eine Rückkehr des Kindes in seine Familie. Das Gesetz benennt dazu jedoch folgende Kriterien, die dafür erfüllt sein müssen:

  • es muss eine nachhaltige Verbesserung der Erziehungsbedingungen geben,
  • diese nachhaltige Verbesserung muss in einem für das Kind vertretbaren Zeitraum geschehen.

Können diese Kriterien nicht erfüllt werden, so muss mit den beteiligten Personen eine förderliche und auf Dauer angelegte andere Lebensperspektive erarbeitet werden.

In die Alltagssprache übersetzt bedeutet dies, dass die Eltern ihre Erziehungskompetenz soweit verbessert haben müssen, dass davon ausgegangen werden kann, dass sie auf die Zukunft des Kindes gesehen die elterliche Verantwortung wieder voll übernehmen und mit dem Kind leben können. Ist dies in einem für das Kind überschaubaren Zeitraum nicht möglich, dann muss das Kind in der Pflegefamilie auf Dauer leben können.

Der kindliche Zeitbegriff

Wie erwähnt spricht das Gesetz vom kindlichen Zeitverständnis, denn es heißt, dass die Stabilisierung der Eltern in einem „für die Entwicklung des Kindes vertretbaren Zeitraumes“ erfolgen muss. Ist dieser Zeitraum abgelaufen, muss eine dauerhafte Lebensperspektive für das Kind her.

Dieser Zeitraum ist inzwischen durch Urteile der obersten Gerichte definiert worden. Dieser Zeitraum muss mit den Augen des Kindes gesehen werden, d.h. es muss individuell darauf geschaut werden, was für dieses bestimmte Kind nun in diesem Zeitraum geschehen ist.

Wenn ein Kind 8 Jahre alt ist und ein Jahr in einer Pflegefamilie lebt, dann hat dieses Kind durchaus noch die Möglichkeit, sich an seine leiblichen Eltern erinnern zu können und sich eigene Vorstellungen und Wünsche zu verdeutlichen. Wenn es förderliche Bindungen an seine Eltern hatte, dann wird es diese Bindungen aufrecht erhalten können und über einen längeren Zeitraum Trennung vertragen und Hoffnung auf Rückkehr haben. Das Kind wird beobachten, wie sich seine Eltern bemühen. Es wird zurückkehren können, wenn die Eltern ihre Stabilisierung geschafft haben. Wesentlich dabei ist jedoch, dass die Bindungen des Kindes positiv und für seine Entwicklung förderlich sind.

Ein einjähriges Kind, das mit ein paar Wochen in die Pflegefamilie gekommen ist und nun dort ein Jahr lebt, hat fast sein ganzes Leben dort verbracht. Es hat vielleicht seine leiblichen Eltern gesehen, aber den Alltag mit der Pflegefamilie gelebt. Es ist dort versorgt, getröstet, gefördert worden. Das Kind unter 3 Jahren lebt im Hier und Jetzt. Es hat keine Möglichkeit, in die Zukunft zu schauen, seine Bedürfnisse aufzuschieben, auf morgen zu warten, es braucht jetzt und heute die Erfüllung seiner Bedürfnisse. Um Gedeihen zu können, muss es sich binden und es wird sich daher elementar an seine Pflegeeltern binden und diese zu seinen tatsächlichen, emotionalen Eltern machen.

Während bei dem 8jährigen Kind die Eltern lange Zeit der Stabilisierung haben, läuft diese Zeit bei einem kleinen Kind sehr schnell ab. Mit den Augen eines kleinen Kindes gesehen ist Zeit etwas völlig anderes als mit den Augen von Erwachsenen gesehen. Die Bindungsforschung hat sehr deutlich auf diesen Punkt hingewiesen und klar gemacht, wie sich Kinder besonders kleine Kinder binden und was es bedeutet, Bindungen auflösen zu müssen.

Rückkehr in die Herkunftsfamilie

oder dauerhafter Verbleib in der Pflegefamilie / Erziehungsstelle

Wenn sich die leiblichen Eltern in dem für das Kind vertretbaren Zeitraum stabilisieren, wird das Kind zu ihnen zurückkehren. Ist eine Stabilisierung erfolgt und bestehen Zweifel darüber, ob eine Rückkehr für das Kind noch vertreten werden kann, dann wird in Streitfällen über aufwendige Verfahren mit Gutachtern und Anwälten versucht, herauszufinden, was zum Wohl des Kindes entschieden werden muss.

Es gibt eine Faustregel, die in etwa besagt: Unter dreijährige Kinder, die schon ein Jahr in einer Pflegefamilie leben, bzw. über dreijährige Kinder, die schon zwei Jahre in einer Pflegefamilie leben, haben sich schon so an die Pflegeeltern gebunden, dass sie nicht mehr in die Herkunftsfamilie zurück geführt werden können. Diese sich aus der Bindungsforschung ergebende „Regel“, muss natürlich in jedem Einzelfall klar auf das individuelle Kind hin überprüft werden. Besonders dann, wenn die Vorgeschichte des Kindes schon mehrere Trennungen aufweist und eine erneute Trennung jedes zukünftige Vertrauen des Kindes in Erwachsene verhindern würde. Dies gilt auch dann, wenn das Pflegekind noch keine engsten Beziehungen an die Pflegeeltern aufgebaut hat, aber trotz vieler Trennung den Mut gefunden hat, sich auf den Weg zu machen und eine Beziehung anzustreben.

Jede einzelne Rückkehrforderung der Eltern muss auf das Kindeswohl hin überprüft und im Streitfall auch vom Familiengericht entschieden. Besondere Schwerpunkte solcher Entscheidungen sind:

  • Wo hat das Kind seine Hauptbezugspersonen?
  • Was würde eine Trennung von diesen Hauptbezugspersonen für das Kind bedeuten?
  • Würden die Eltern eventuelle Gefährdungen oder Schädigungen des Kindes auffangen können, oder
  • Wären die Schädigungen durch die Trennung von den Hauptbezugspersonen so groß, dass es keine Trennung mehr geben darf?

Daneben wird natürlich vorab erst einmal die grundlegende Frage gestellt, ob die Mutter bzw. die Eltern überhaupt erziehungsfähig geworden sind.

Wenn eine Rückkehr zu den leiblichen Eltern eine Gefährdung oder Schädigung für das Kind bedeutet, dann wird das Familiengericht den Verbleib des Kindes in der Pflegefamilie anordnen. Die Eltern können dann das Kind nicht mehr aus der Pflegefamilie herausnehmen.

Umgang des Pflegekindes mit seiner Herkunftsfamilie

1998 hat es eine Reform des Kindschaftsrechtes gegeben, die dazu führte, dass nun deutlicher aus Sicht des Kindes definiert wird, so heißt es z.B. im § 1684 BGB jetzt. „das Kind hat das Recht auf Umgang mit beiden Elternteilen“.
Dieses Recht gilt natürlich auch für Pflegekinder. Das Pflegekind hat also ein grundlegendes Recht, seine leiblichen Eltern zu sehen. Seine Eltern haben das Recht und die Pflicht zum Umgang mit ihrem Kind.

In der Pflegefamilie wird diesem Recht des Kindes meist in Form von Besuchskontakten zu den leiblichen Eltern entsprochen. Diese Kontakte laufen sehr unterschiedlich ab. Sie sind zeitlich und örtlich individuell vereinbart. Auch diese Kontakte müssen dem großen Ziel des Kindeswohls untergeordnet werden. Wird befürchtet, dass Umgangskontakte dem Kind schaden, so dürfen sie nicht stattfinden. Auch hier muss im Streitfall das Familiengericht Entscheidungen treffen. Das Gericht kann Kontakte auf eine gewisse Zeit ausschließen, sie zeitlich festlegen oder anordnen, dass sie nur in Begleitung von Fachkräften stattzufinden haben.

Besuchskontakte sind ein sehr umstrittenes Feld des Pflegekinderwesens und die Meinung der Fachleute geht sehr auseinander. Daher ist es besonders wichtig, im Einzelfall sorgfältig zu prüfen und alles abzuwägen. Besonders eindringlich muss auf die Vorgeschichte des Kindes in seiner Ursprungsfamilie geschaut werden. Ist das Kind eventuell durch schwere Vernachlässigung, Misshandlung, Missbrauch geschädigt oder traumatisiert? Wie wird es sich fühlen und reagieren, wenn es zu diesen Eltern wieder Kontakt hat?

Besuchskontakte dienen also mehreren Zielen

1. Wenn eine Rückkehr zur Herkunftsfamilie geplant ist, dann muss es so viele Kontakte geben, dass die Bindungen des Kindes an seine Eltern erhalten bleiben können. In diesem Fall muss darauf geachtet werden, dass auch die Pflegeeltern dieses Ziel sehen und unterstützen und genau hinschauen, wie sich das Kind entwickelt. Erkennen sie eine immer nähere Anbindung des Kindes an sie, muss deutlich auf Rückkehr gepocht werden.
2. Sind alle Beteiligten mit einem dauerhaften Verbleib des Kindes in der Pflegefamilie einverstanden, besteht der Sinn von Besuchskontakten darin, dem Kind die Möglichkeit zu geben, seine leiblichen Eltern weiter zu kennen und sich mit seiner Rolle als Pflegekind auseinander zu setzen.
3. Besuchskontakte während einer Dauerpflege sind dann für das Kind fruchtbar und sinnvoll, wenn die leiblichen Eltern dem Kind deutlich zu verstehen geben,

  • dass sie mit der Unterbringung des Kindes in der Pflegefamilie auch einverstanden sind,
  • dass sie die Rolle der Pflegeeltern als Mama und Papa (emotionale Elternschaft) für das Kind akzeptieren,
  • dass sie nicht am mehr Kind ziehen oder Forderungen zur Rückkehr stellen.

Herkunftseltern, die am Kind ziehen, obwohl das Kind schon enge Bindungen an die Pflegeeltern eingegangen ist, verwirren das Kind, bringen es in Loyalitätskonflikte und Schuldgefühle und schädigen es dadurch. Eine solche Situation kann auch die gewünschte enge Bindung an die Pflegeeltern verhindern, weil das Kind sich nicht zur binden traut und dadurch zwischen den Stühlen sitzt und in einer „Warteschleife“ leben wird.

Es ist daher von besonderer Bedeutung, mit den Herkunftseltern daran zu arbeiten, dass sie dem Kind neue Bindungen gestatten wenn sie es nicht mehr zurücknehmen können. Es ist für das Kind elementar wichtig, dass die leiblichen Eltern seine Lebenssituation akzeptieren, sich von ihrer Rolle als emotionale Eltern – also Mama und Papa – trennen, weiterhin jedoch Mutter und Vater bleiben und Interesse am Kind und seiner Entwicklung zeigen können.

Dies ist natürlich ein wahnsinnig hoher Anspruch an die Herkunftseltern. Für das Kind jedoch wäre es wirklich gut, wenn seine leiblichen Eltern diese neue Rolle finden könnten. Es wird einfach besser, sicherer und damit freier leben können und braucht nicht einen großen Teil seiner Energien dafür aufzubrauchen, es allen beteiligten Erwachsenen um es herum recht zu machen. Aber Herkunftseltern sind meist labil, selbst mit Problemen überhäuft und mit schlechtem Gewissen gegenüber ihrem Kind geplagt. Daher bedarf es einer großen und ausdauernden Hilfe, damit sie die Abgabe des Kindes an Pflegeeltern für sich geregelt bekommen. Die Praxis zeigt jedoch, dass es an solchen Hilfestellungen mangelt. Selten werden Eltern so betreut, wie es zum Wohl des Kindes nötig wäre, so dass das angestrebte Ziel der gegenseitigen Akzeptanz und Achtung der leiblichen Eltern gegenüber den Pflegeeltern - aber auch umgekehrt- oft eine Illusion bleibt.

Pflegekinder sind nicht mit Scheidungskindern gleichzusetzen

Eine Vielzahl richterlicher Beschlüsse lässt erkennen, dass die besondere Problematik von Pflegekindern verkannt wird. Pflegekinder werden gerade im Hinblick auf Besuchskontaktregelungen häufig wie Scheidungskinder
bewertet.

Abgesehen davon, dass Pflegekinder vielfach auch Scheidungskinder sind, ergibt die Unterbringung in einer Pflegefamilie für die Pflegekinder eine völlig andere Lebenssituation als die eines Scheidungskindes:

  • Ein Scheidungskind bleibt bei einem ihm vertrauten Elternteil und normalerweise ist „nur“ die Frage des Umgangs mit dem anderen Elternteil zu klären, d.h. das Kind behält eine Bezugsperson, zu der es enge und positive Bindungen besitzt.
  • Ein Pflegekind verlässt beide Elternteile und muss sich in einem völlig neuen Lebensfeld einbinden. Wegen desolater Verhältnisse in der Herkunftsfamilie kann das Kind weder bei Mutter noch Vater leben. Aufgrund der besonderen Problematiken in dieser Familie hat das Kind auch meist keine positiven und förderlichen Bindungen an seine Eltern. Das Kind wird in eine Pflegefamilie vermittelt, um neue positive Elternfiguren und familiäre Nähe zu erfahren. Diese Lebenssituation eines Pflegekindes ist eine spezifische und die Kinder reagieren entsprechend darauf.

Pflegekinder sind Kinder mit schweren Lebenserfahrungen

Pflegekinder sind Kinder mit schweren, oft dramatischen Lebenserfahrungen. Die Zahl geschädigter oder traumatisierter Pflegekinder ist daher hoch. Pflegekinder sind Kinder mit Missbrauchserfahrungen, mit Gewalterfahrungen, auch mit schwersten Vernachlässigungserfahrungen. Oft erleben Kinder alles gleichzeitig.

Pflegekinder haben viele Brüche in ihrem Leben erfahren

Die Vorgeschichte eines Pflegekindes hat Auswirkungen auf das Kind. Reaktionen des Kindes, die aufgrund solcher Erfahrungen eintreten können, möchte ich nachfolgend in Stichworten zusammen fassen:

  • wenig Vertrauen (Misstrauen),
  • alles unter Kontrolle haben müssen,
  • negatives Selbstwertgefühl (Schuldgefühle – ich bin schuld dass mir dies passiert ist),
  • Beziehungsstörungen, – (mit allen mitgehen – Fremde zu nah heranlassen, Pflegeeltern außen vor lassen),
  • Ängste (massive),
  • Verwirrungen (extreme Gefühle hin und her),
  • Loyalitätskonflikte (es allen recht machen wollen),
  • Entwicklungsverzögerungen (Blockaden),
  • Erlernen von Überlebensstrategien – Überlebenstechniken (früh überleben können),
  • Werte können nicht erfahren, angenommen und umgesetzt werden,
  • Grundmangelgefühl (nie genug zu bekommen),
  • Gefühl: Leben ist Kampf,
  • Missverstehen der Gefühle anderer, – z.B. Pflegeeltern, die nicht konsequent handeln werden als weich und schwach empfunden),
  • Wahrnehmungsprobleme (kein Erkennen von Gefahren, schmerzunempfindlich usw.),
  • häufig: Schwierigkeiten mit vorausschauendem Denken (sich von etwas ein Bild machen können und logischen Denken (Zusammenhänge erkennen),
  • Konzentrationsprobleme – Unruhe,
  • mangelnde Möglichkeiten, sich in jemanden einfühlen zu können, oder
  • extremes Einfühlungsvermögen bei Menschen von denen das Kind abhängig ist (z.B. misshandeltes Kind),
  • extremes Verhalten, oft schwankend: Aggression – depressives Verhalten,
  • unrealistische Einschätzung von sich selbst,
  • unrealistische Einschätzung von anderen,
  • große Verführbarkeit – große Abhängigkeit von der Einschätzung durch andere.

Das Besondere im Umgang mit Pflegekindern ist die Tatsache, dass die Kinder auf die neuen Pflege-/Adoptivfamilien ihre alten Erfahrung mit Familie bzw. Eltern übertragen und nach einer Phase der Eingewöhnung ihre bisherigen Lebensstrategien wieder hervorholen.

Viele Kinder haben daher:

  • Essensprobleme – Horten, Klauen, Überfressen usw. (Vernachlässigungserfahrungen).
  • Verlassenheitsprobleme – nicht allein bleiben können – wann kommst du wieder? – gesucht werden wollen – was muss ich mit DIR tun, damit DU mich auch verlässt?
  • Vertrauensprobleme: bisherige Erfahrung von nicht verlässlichen Eltern, die ihren Elternfunktionen (versorgen, schützen, fördern, da-sein) nicht gerecht wurden.
  • Beziehungsprobleme – besonders gravierende Auswirkungen, da im kindlichen Leben eigentlich alles über Beziehung läuft.

Die Grundfragen eines Pflegekindes bzw. Adoptivkindes an seine neuen Eltern sind:

  • kann ich mich auf dich verlassen?
  • tust Du auch was du sagst?
  • kannst du mich schützen?
  • bin ich dir wichtig?

Hilfen für die Pflegefamilie und das Pflegekind

Wie bereits erwähnt kommen die meisten Pflegekinder in die Pflegefamilien aufgrund von Vernachlässigungen. Die leiblichen Eltern waren nicht in der Lage, die Kinder zu versorgen. Es gab keine Regeln, keine Rituale, nichts, was für das Kind vertraut geworden wäre. Vernachlässigende Eltern werden ihren Elternfunktionen nicht gerecht und die Kinder entwickeln dadurch kein Vertrauen zu Erwachsenen.

Sehr früh vernachlässigte Kinder erleben diese Vernachlässigung als lebensbedrohlich. Diese Kinder sind traumatisiert und entwickeln kein Urvertrauen sondern ein Urmangelgefühl.

Die Kinder verhalten sich in den Pflegefamilien entsprechend ihrer Vorerfahrungen. Nach einer Phase der Überanpassung erleben die Pflegeeltern starke Konflikte und Auseinandersetzungen. Das Kind setzt sich an diesen Pflegeeltern mit seiner erlebten Geschichte auseinander. Das Kind erlebt nun andere Lösungsmuster als in seiner leiblichen Familie und kann nach der Zeit der Auseinandersetzung langsam die positiven Erfahrungen in der Pflegefamilie auch als positiv wahrnehmen und sein Verhalten gegenüber Erwachsenen verändern. Viele Pflegekinder, besonders natürlich die jungen Kinder, entwickeln dann eine sehr enge neue Beziehung zu den Pflegeeltern. Diese enge Beziehung bezeichnen wir als neue Eltern-Kind-Beziehung. Sie bedeutet, dass das Kind seine Pflegeeltern zu seinen Hauptbezugspersonen machte und sich ihnen eng angeschlossen hat, so eng, dass eine Trennung von diesen Eltern eine erneute schwere Schädigung für das Kind bedeuten würde.

Seine alten Erfahrungen trägt das Kind jedoch weiter in sich und jede Veränderung, jede Krise, jeder eigene Entwicklungsschritt (z.B. Pubertät) kann wieder verunsichern und alte Verhaltensweisen an die Oberfläche locken.

Pflegeeltern müssen dies wissen und sich helfen lassen. So bieten Jugendämter oder freie Träger Hilfen für Pflegeeltern an. Pflegeeltern erhalten vor der Aufnahme eines Pflegekindes Vorbereitungsseminare und natürlich werden sie auch von Fachkräften beraten und betreut während das Pflegekind bei ihnen lebt. Vielen Pflegefamilien reicht dieser Betreuungsumfang jedoch nicht, und so hat sich ein intensives Netz von Selbsthilfegruppen, Vereinen und Verbänden auf örtlicher und überörtlicher Ebene gebildet.

Eine steigende Zahl der zu vermittelnden Pflegekinder ist so schwierig, dass eine Vermittlung nur noch zu sogenannten professionellen Pflegefamilien sinnvoll ist. Diese Pflegeeltern haben überwiegend eine pädagogische Ausbildung oder sind sehr erfahrene Pflegeeltern. Ihnen wird neben erhöhter finanzieller Leistung auch eine umfassende und bessere Betreuung durch spezialisierte Fachkräfte angeboten.

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