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11.10.2010

Störer und Gestörte in der Schule

Eine Untersuchung von Konfliktgeschichten schwieriger Kinder und Jugendlicher mit Schule und Jugendhilfe

1. Fragestellung, Annahmen, methodische Vorentscheidungen und Befunde unseres Forschungsprojekts

Es gibt Jugendliche, die ihre Erzieher, Lehrer und Sozialarbeiter in schier endlose und eskalierende Konflikte verstricken – Konflikte, aus denen es schließlich nur noch einen Ausweg zu geben scheint: die Arbeit mit ihnen aufzugeben. Wie aber schaffen es diese Jugendlichen, die von Erwachsenen als "besonders schwierige", als "nicht schulfähige" oder "nicht beschulbare", als "verhaltensgestörte" oder "seelisch belastete" bezeichnet werden, so große und durchaus mächtige Instituti-onen wie Schule und Jugendhilfe "zum Tanzen" zu bringen, zum Tanzen nach ihren oft schrillen Melodien? Wie gelingt es ihnen, dass kompetente und erfahre-ne und nicht selten engagierte professionelle Helfer sich hilflos in Konflikte mit ihnen verwickeln lassen, dabei häufig ihre Professionalität einbüßen und schließ-lich keine andere "Lösung" mehr sehen, als diese Jugendlichen weiterzureichen oder auszustoßen? Wie kommt es zu jenen sich wiederholenden Macht-Ohnmacht-Spiralen, zu den erbitterten Kämpfen um Macht und Kontrolle, die sich über Jahre hinziehen können, in deren Verlauf sich Täter und Opfer, Störer und Gestörte immer ähnlicher werden und an deren Ende nur besiegte Sieger und siegreiche Verlierer stehen? Wie ist es möglich, dass Jugendliche so mächtig, dass ihre professionellen Helfer so ohnmächtig werden; und wie, dass in diesen Konfliktgeschichten Störer und Gestörte fast traumwandlerisch einander "zuar-beiten", sich wechselseitig vorantreibend, als seien sie in geheimen Komplizen-schaften miteinander verbunden?

Ein interdisziplinäres Forschungsprojekt des Instituts für Sozialforschung an der Universität Frankfurt am Main hat zusammen mit dem Institut für analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie in Frankfurt am Main Konfliktge-schichten nicht beschulbarer Jugendlicher untersucht und Antworten auf diese Fragen gesucht.

Unserer Untersuchung lagen vier Vorentscheidungen zu Grunde:
Wir entschieden uns erstens für die Analyse von Konfliktgeschichten; denn wir sind davon überzeugt, dass jene Macht-Ohnmacht-Spiralen als Sequenzen in ei-ner mehrjährigen Konfliktgeschichte zu begreifen sind, in der beide Seiten agie-ren und reagieren, voneinander lernen, einander beeinflussen und miteinander in Auseinandersetzungen verwickelt sind.
Wir entschieden uns zweitens für eine Reihe von Einzelfalluntersuchungen, wie sie in der Tradition der Psychoanalyse, aber auch der empirischen Sozialfor-schung begründet sind; denn die Jugendlichen, ihre konflikthaften Karrieren im Förder- und Hilfesystem und ihre konkreten Konflikte mit ihren professionellen Helfern sollten im Mittelpunkt unserer Untersuchung stehen.

Wir entschieden uns drittens für die Untersuchung extremer Fälle, in denen Jugendliche an Schule und Jugendhilfe gescheitert sind und Schule und Jugendhilfe an Jugendlichen; denn im Scheitern manifestieren sich – so unsere Hypothese - auch allgemeine Defizite und Schwächen des Hilfe- und Fördersystems, die bei weniger schwierigen Jugendlichen irgendwie gemanagt, verdeckt oder übersehen werden können.

Und wir entschieden uns viertens für einen interdisziplinären Forschungsansatz, der die Konfliktdynamik und Konfliktmuster der einzelnen Jugendlichen ebenso wie die der jeweils beteiligten Institutionen untersuchen und die Zusammenhänge von individueller und institutioneller Konfliktgeschichte entziffern kann. Kriti-sche Sozialforschung und Psychoanalyse schienen uns dazu die geeigneten Me-thoden bereitzustellen.

In unseren Einzelfalluntersuchungen gab es immer drei Untersuchungsschritte, von denen die beiden ersten parallel und arbeitsteilig getrennt verliefen, der dritte dagegen interdisziplinär gemeinsam durchgeführt wurde: Zum einen erhob die Forschergruppe der Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten mit ihren psy-choanalytischen Instrumenten die Psychodynamik der Jugendlichen, erstellte ein Diagnoseprofil und fasste ihre Untersuchungen und Falldiskussionen in einem eigenen Fallbericht zusammen. Zum anderen rekonstruierte die soziologische Falluntersuchung die Konfliktgeschichte des Jugendlichen, die zur Feststellung der "Nichtbeschulbarkeit" im Regelschulsystem führte. Dabei wurden mit allen wichtigen Professionellen aus Schule und Jugendhilfe ausführliche Gespräche geführt und in einem eigenen Fallbericht ausgewertet. Lagen beide Fallberichte vor, wurden sie im dritten Schritt in einer interdisziplinären Falldiskussion vom gesamten Forschungsteam unter der zentralen Fragestellung nach den Zusam-menhängen von individuellem und institutionellem Konfliktverhalten reflektiert.

Unser Forschungsprojekt verfügte also über einen recht dezidierten Begriff von interdisziplinärem Fallverstehen. In dieses geht zum einen psychoanalytisches Fallverstehen ein, das auf der Analyse der jugendlichen Psychodynamik beruht, also der bewussten und unbewussten Konfliktstrategien der Jugendlichen, der Muster, mit denen sie Beziehungen eingehen, zulassen, abwehren und strukturie-ren. In dieses geht zum anderen soziologisches Fallverstehen ein, das auf der Analyse der institutionellen Soziodynamik beruht, also der bewussten und latenten Konfliktstrategien der Institutionen, der Muster, mit denen sie auf den schwierigen Jugendlichen reagieren, einwirken, ihre Beziehung zu ihm strukturieren, seine Ansprüche aufgreifen, abwehren, übersehen oder verleugnen. Interdisziplinä-res Fallverstehen schließlich beruht auf der Analyse der Beziehungsgeschichte und der Beziehungsdynamik der schwierigen Jugendlichen mit Schule und Jugendhilfe und zugleich auf der Analyse der konfliktreichen eskalierenden sozia-len Beziehungen von Professionellen in ihren Institutionen mit diesen Jugendlichen.

So unterschiedlich die von uns untersuchten Konfliktgeschichten auch sind – es lassen sich doch drei komplexe Dimensionen identifizieren, die hier stets zu-sammenkamen:

1. Bei allen Jugendlichen unseres Forschungsprojektes ließen sich schwere und frühe Traumatisierungen und Bindungsstörungen nachweisen.

Durchgängig haben sie gravierende frühe emotionale Mangelerfahrungen machen müssen, die ihre – soziale – Lernfähigkeit entscheidend verletzte, genauer: prägte. Denn der-art erworbene Lernstörungen müssen als subjektiv "sinnvolle" Lösungs- und Schutzstrategien verstanden werden, die unbewusst bleiben, überaus zwanghaft sind und die soziale Lern- und Anpassungsfähigkeit extrem einengen. Deshalb reagieren diese Kinder und Jugendlichen geradezu "lernbehindert" dort, wo ge-forderte Lernprozesse notwendig verbunden sind mit der Reorganisation von Wissen und Können, mit dem Verzicht auf frühere Gewissheiten, mit Irritation und Verunsicherung. Die emotionalen und sozialen Probleme solcher korrigierenden und neu strukturierenden Lernprozesse verlangen ein Mindestmaß an Neugierde, Differenzierung und Anstrengungsbereitschaft und die Fähigkeit, Angst, Hilflosigkeit und Unsicherheit auszuhalten. Und genau dazu sind diese "verhaltensgestörten" Kinder kaum in der Lage, genau dagegen haben sie ihre Strategien der Abwehr und der Vermeidung entwickelt. Die mit jedem komplexen Lernen verbundene Erregung von Angst und Hilflosigkeit kann von diesen Kindern und Jugendlichen nicht kontrolliert und in einen Zustand erhöhter Auf-merksamkeit und Neugier transformiert werden. Die unkontrollierbaren Situatio-nen solchen strukturellen Lernens reaktivieren bei diesen Jugendlichen frühe Ohnmachterlebnisse; darauf reagieren sie mit panischen Ängsten vor Entwertung oder Vernichtung – und dagegen mobilisieren sie mit existentieller Entschlossen-heit ihre Strategien der Angstabwehr. Nur die aber werden wahrgenommen. Das macht diese Kinder und Jugendlichen so unangreifbar und unberührbar: sie scheinen "autonom", unabhängig von der Zustimmung oder Kritik ihrer Erwach-senen, unabhängig aber auch von allen Angeboten der Hilfe oder Förderung. Die Jugendlichen unseres Forschungsprojekts mussten die auf ihrer psychischen Kon-fliktgeschichte mit ihren Eltern basierende innere Beziehungsdynamik anhaltend und derart zerstörerisch an der Schule fest machen, dass sie am Ende einer lan-gen institutionellen Konfliktgeschichte schließlich als nicht beschulbar vom Be-such der Regelschule ausgeschlossen wurden – zumeist mit entsprechend schlechter sozialer Prognose. Die Psychodynamik dieser Jugendlichen verweist in allen untersuchten Konfliktgeschichten auf extreme frühe Entwicklungsstörun-gen; dennoch ist es symptomatisch, dass die Verhaltensauffälligkeiten der Jugendlichen von den Professionellen nicht als Ausdruck schwerer psychischer Störungen gesehen und ernst genommen wurden. Diese Jugendlichen, so könnte man sagen, haben im Verlauf der Inszenierungen ihrer psychisch unerträglichen Affekte, Objekterfahrungen und z.T. Traumatisierungen aus der Vergangenheit auch in der Schule und im Bereich der Jugendhilfe kein hinreichend gutes, und das heißt: um ihr seelisches Wohl besorgtes Objekt auf den Plan rufen und finden können. Ein wichtiger Grund dafür lag vor allem darin, dass diese Jugendlichen auf der manifesten Ebene keine Angst, geschweige denn Hilfsbedürftigkeit zeig-ten, sondern sich weitgehend unberührbar und scheinbar autonom gaben und allenfalls Angst machten.

2. Diese schwierigen Jugendlichen stoßen auf ein schwieriges Schulsystem,
das mitverantwortlich ist für die eskalierenden Macht-Ohnmacht-Spiralen in den von uns untersuchten Konfliktgeschichten.

Unsere Untersuchung konzentrierte sich auf nicht beschulbare Jugendliche mit einer langen Konfliktgeschichte im Regelschulsystem. Wir hatten es also mit aus-gesucht auffälligen Jugendlichen zu tun. Umso irritierender war für uns die durchgängige Erfahrung, dass die verantwortlichen Lehrerinnen und Lehrer die Probleme, die diese Jugendlichen machten, nicht als Ausdruck schwerer psychischer Störungen gesehen und ernst genommen hatten.

Die Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe ist – seit gut dreißig Jahren – Thema von Tagungen, Konferenzen, Arbeitsgemeinschaften, Kommissionsbe-richten und Fachgesetzen. Und ohne Zweifel fanden hier wichtige Entwicklun-gen statt. Umso irritierender war, dass in keiner der von uns untersuchten Kon-fliktgeschichten von einer verlässlichen fachlichen Zusammenarbeit zwischen Schule und Jugendhilfe die Rede sein konnte. Offensichtlich verlangen diese schwierigen Jugendlichen eine langfristige, verbindliche und interdisziplinäre Zusammenarbeit im Einzelfall. Und dafür sind beide Seiten wenig gut ausgerüs-tet. Strikte Arbeitsteilung, wechselseitige Instrumentalisierung, gegenseitige Schuldzuweisung oder gemeinsame Entsorgung der Störer und ihrer Eltern waren in unseren Fällen die Erscheinungsformen der Arbeitsbeziehungen zwischen Schule und Jugendhilfe.

Die von uns untersuchten Konfliktgeschichten sind in allen Fällen auch Ge-schichten mangelhafter oder gescheiterter Versuche, Arbeitsbündnisse mit den Familien dieser schwierigen Kinder und Jugendlichen aufzubauen. Belastbare Arbeitsbündnisse in diesem Feld können nur mit Einsatz von viel Mühe, höchster Geduld und spezifischer professioneller Kompetenz zustande kommen. In unse-ren Untersuchungsfällen fehlten der Regelschule und den Lehrern dafür die not-wendigen Ressourcen und Kompetenzen. Die haben sie nicht gelernt und dafür steht ihnen auch nicht die nötige Zeit zur Verfügung. So reduziert sich – insbesondere dann, wenn es zu schweren Konflikten kommt - die Beziehung zwischen Schule und Eltern recht schnell auf gegenseitige Delegation von Verantwortung und Vorwürfe.

So wenig wir in unseren Untersuchungsfällen auch nur Ansätze eines integrierten Hilfe- und Förderprozesses entdecken konnten, so wenig sichtbar waren kontinu-ierliche Bemühungen der Professionellen um ein qualifiziertes Fallverständnis. Das gegliederte System der Regelschule erlaubt es, die Bemühungen um ein Fall-verständnis weitgehend durch die eingespielte selektive Praxis zu ersetzen.

In allen unseren Fällen stießen also besonders schwierige Kinder mit ihren Eltern auf besonders schwierige Hilfe- und Förderstrukturen; und erst beides zusammen macht, dass die Hilfe- und Förderprozesse konflikthaft eskalierten und in die "ruhende Schulpflicht" mündeten.

3. Das wichtige Vermittlungsglied zwischen der Psychodynamik und der Soziodynamik in den Konfliktgeschichten ist der unbewusste Mechanismus von Übertragung und Gegenübertragung.
Die Macht der Verstrickung zwischen Professionellen und unseren Jugendlichen lebt von diesem Mechanismus – wie umgekehrt die Chance des Verstehens und des Durchbrechens von Wiederholungszwang und Eskalation in dieser Verstrickung liegt – wenn sie reflexiv genutzt werden kann. Für unser interdisziplinäres Projekt hat deshalb die Gegenübertragung eine wichtige Brückenfunktion zwischen Individuum und Institution.
Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse sind basale Voraussetzungen sozialer Beziehungen. Auf ihnen beruht jegliche pädagogische Intuition, von ihnen leben Erziehungs- und Lernprozesse. Indem Kinder ihre familiären Beziehungs-erfahrungen und die an sie gebundenen Emotionen auf andere, für sie wichtige Erwachsene übertragen; und indem nun ihrerseits diese Erwachsenen auf diese Übertragung mehr oder weniger einfühlsam, akzeptierend oder zurückweisend – stets aber "auf ihre Weise" – reagieren, werden durch die Gegenübertragung die Übertragungsprozesse des Kindes modifiziert, lernen Kinder differenzierte Be-ziehungen zu verstehen, zu akzeptieren und ihrerseits "vorzuschlagen" oder anzubieten. Übertragung und Gegenübertragung sind – unter normalen Bedingun-gen – elastische und flexible Prozesse wechselseitiger Einfühlung, Anpassung und Entwicklung. Wenn Kinder in die Schule kommen, haben sie in der Regel gelernt, halbwegs flexibel, experimentierend und unter Vorbehalt ihre Übertra-gung zu gestalten – und sie stoßen auf pädagogisch erfahrene Grundschullehrer, die bereit und in der Lage sind, diese Übertragungsvorgänge anzunehmen, sie professionell kontrolliert zu beantworten und sie so für die schulische Bildungs-arbeit zu nutzen. Die extrem schwierigen Kinder und Jugendlichen unserer Untersuchung aber sind genau an diesem Punkt nie wirklich "schulreif" gewesen. Ihre Übertragungsgestaltung ist rigide, inflexibel, zwanghaft, häufig durch Spaltung und projektive Identifikation gekennzeichnet; und sie sind unfähig, eigen-ständige, differenzierte Gegenübertragungsreaktionen ihrer Erwachsenen zu ak-zeptieren. Vor allem in krisenhaften Phasen individueller Entwicklungen wie beim Übergang in die Pubertät und schulischer Entwicklungen wie beim Über-gang in eine weiterführende Schule sind diese Jugendlichen von den sozialen Anforderungen an sie überfordert. Mit ungeheurer Macht und suggestiver Kraft übertragen sie ihre gestörten, traumatisierten Beziehungserfahrungen und die mit ihnen zusammenhängenden archaischen Affekte von Angst vor Mißachtung oder Vernichtung. Dieses Übertragungsgeschehen ist deshalb so gewaltförmig, weil es für diese Jugendlichen die einzige Weise ist, ihre für sie unerträglichen Gefühle von Angst und Hilflosigkeit abzuwehren: sie "zwingen" ihren Erwachsenen ge-radezu jene Objektbeziehung auf, die sie gelernt haben – und übertragen so ihre gestörten Bindungs- und Beziehungserfahrungen auf die sozialen Beziehungen zu Mitschülern und Lehrern. Sie verstricken so ihr soziales Umfeld in die eigene Psychodynamik – und sind ausgerechnet bei jenen Professionellen damit besonders erfolgreich, die bereit sind, sich auf diese Jugendlichen einzulassen, sich verantwortlich um sie zu kümmern, sie "an sich heranzulassen". Ohne ein Ver-ständnis des Beziehungsmusters, in das diese Schüler ihre Lehrer verwickeln wollen, bleibt zum Selbstschutz nur die Abwehr der affektiven Zumutungen. In den nicht durchschauten Konfliktbeziehungen provoziert und strukturiert das un-bewusste Abwehrsystem der Jugendlichen die latente abwehrende Haltung der Professionellen. In der Verstrickung von Jugendlichen und Professionellen erhal-ten die Macht-Ohnmacht-Spiralen ihre fallspezifische Gestalt.

Was aus den Fallanalysen vielleicht zu lernen wäre

Konzentrierte sich Band 1 von Störer und Gestörte auf die ausführliche Darstellung und Analyse von exemplarischen Konfliktgeschichten nicht beschulbarer Jugendlicher – ergänzt um zwei Kapitel über pädagogisches und psychoanalyti-sches Fallverstehen, so stand im Band 2 die Frage im Mittelpunkt, wie derartige Konfliktgeschichten als Lernprozesse genutzt und so die eskalierenden Macht-Ohnmachtspiralen unterbrochen werden können. Alle von uns untersuchten Konfliktgeschichten können auch als Kämpfe gegen die Dritte Instanz gelesen wer-den. Deshalb auch sehen wir in der systematischen, geregelten und regelhaften Einführung einer solchen dritten Instanz die wichtigste Hilfe für Professionelle in ihrer Arbeit mit diesen schwierigen Kindern und Jugendlichen. Denn diese Ar-beit verlangt zwingend die Bereitschaft, sich in dyadische Beziehungen verstricken zu lassen, was fast ebenso zwingend die notwenige professionelle Distanz und Autonomie gefährdet. Nicht die Vermeidung dieser Falle, sondern die Arbeit mit ihr hilft hier weiter, und hierzu brauchen die Professionellen die Unterstüt-zung und die Kontrolle durch jene dritte Instanz. Die Frage, was aus unseren Fallstudien zu lernen wäre, entscheidet sich an diesem zentralen Punkt.

Wir haben zwar keine Rezepte anzubieten und keine Lösungen, aber unsere Kon-fliktgeschichten sind ein entschiedenes Plädoyer für sorgfältige frühe pädagogische und therapeutische Interventionen, für die Integration von Hilfe- und För-derprozessen, für die Investition von Zeit und Kompetenzen in Vorbereitung, Aufbau und Pflege von verlässlichen und belastbaren Arbeitsbündnissen mit den schwierigen Jugendlichen und deren Familien und – nicht zuletzt - für interdiszi-plinäre Fallberatung und den kontinuierlichen Einsatz professioneller Instrumente des kollegialen und interdisziplinären Fallverstehens. Zu lernen wäre also etwas über die eigenen Grenzen, über die unverzichtbare fachliche, durch Dritte unter-stützte, kontinuierliche Reflexion eigenen Handelns und etwas über die notwendige Bescheidenheit in den Ansprüchen an die eigenen professionellen Künste.

Verantwortliche Arbeit mit schwierigen Kindern und Jugendlichen erfordert zwei grundsätzliche Voraussetzungen:

Erstens müssten Räume zur Verfügung stehen und institutionell gesichert sein für ein professionelles Beiseitetreten, Innehalten, Nachdenken. Räume also für die kollegiale und interdisziplinäre Fallberatung, für gemeinsame Reflexion und nicht zuletzt für Supervision. Äußere Räume also, in denen die inneren Räume der Professionellen gepflegt, geschützt und bewahrt werden können. Denn genau der innere Raum ist es, an dem es den schwierigen Kindern und Jugendlichen mangelt– und der innere Raum als Raum des Probehandelns ist es, der in den agierten Konflikten permanent weiter angegriffen wird, während äußerer Handlungsdruck die Vorherrschaft gewinnt. Es geht also nicht und vor allem darum, noch aktiver, noch engagierter, noch einfallsreicher zu sein bei der Suche nach weiteren Maßnahmen oder Angeboten für diese Jugendlichen; sondern eher und zunächst darum, die Affekte auszuhalten, die in den Auseinandersetzungen mit ihnen hervorgerufen werden: Angst vor Versagen und Scheitern, Hilflosigkeit und Ratlosigkeit auf der einen Seite und Wut, Enttäuschung und Kränkung auf der anderen Seite. Das aber heißt: solche notwendigen inneren und äußeren Räume benötigen auch ihre Zeit; Zeiträume also, die sich an den Erfordernissen schwieriger Lernprozesse ausrichten – und nicht durchs ökonomische Kosten-Nutzen-Kalkül beschnitten werden.
Zweitens müsste das heimliche 1. Gebot von Schule seine Macht verlieren, das da heißt: Du darfst nicht versagen! Du darfst keine Fehler machen! Die Arbeit mit schwierigen Kindern und Jugendlichen würde um einiges leichter und kreativer – und das heißt nicht unbedingt: in jedem Fall erfolgreich! – wenn an diesem Punkt ein grundsätzlicher Wandel der beruflichen Haltung sich durchsetzte: Fehler und Versagen sind wichtige Anreize zum Lernen und zur Weiterentwicklung – vorausgesetzt, sie werden nicht sofort sanktioniert, immer gleich vertuscht oder pa-nisch vermieden. Dies gilt für Lehrer wie für Schüler.

Störende und unerträgliche Verhaltensweisen von Schülern, die unweigerlich spontane Reaktionen herausfordern, könnten dann als wichtige Hinweise für die Notwendigkeit gesehen werden, die eigene Arbeit und ihre Rahmenbedingungen kritisch zu reflektieren und eventuell zu verändern. Und niemand gibt solche Hinweise derart aufdringlich und deutlich wie eben jene Kinder und Jugendliche, die als „nicht beschulbar“ gelten.

Die bewusst von uns gewählte Mehrdeutigkeit unseres Buchtitels Störer und Gestörte kann bei der Frage, wie Gestörte und Störer von einander lernen könnten, hilfreich sein. Antworten wären auf drei Ebenen zu suchen:

Die eine Ebene wurde schon angesprochen: Professionelle können die Störer und Gestörten unter ihrer Klientel als wichtige Informanten für die institutionellen und professionellen Schwächen und Defizite ihrer Arbeit mit schwierigen Kindern und Jugendlichen nutzen. Sie nehmen dann im Prinzip die gleiche Perspektive auf „den Fall“ ein wie die soziologische Fallanalyse in unserem Forschungs-projekt: Das störende und verweigernde Verhalten schwieriger Kinder und Ju-gendlicher ist insofern von Interesse, als es, einem Katalysator vergleichbar, die Schwächen und Defizite der Institution ans Licht bringt und damit Raum schafft sowohl für die Frage nach den institutionellen Anteilen an der Konflikteskalation als auch für die Frage nach notwendigen organisatorischen und qualifikatori-schen Veränderungen der Institution. Einiges spricht dafür, dass eine derartige Grundhaltung nicht nur für eine lernende Erziehungshilfeschule angebracht ist. Auch für die Regelschule dürfte gelten: Eine Schule, die lernt, ihren nicht angepassten und nur schwer beschulbaren Kindern und Jugendlichen ein guter Ort zu sein, ist sicher auch ein besserer Ort für alle anderen Schüler und wahrscheinlich auch für die Lehrer.

Eine zweite Ebene wird beschritten, wenn es um die direkte pädagogische Arbeit mit schwierigen Kindern und Jugendlichen geht. Die in Band 1 vorgestellten Fallgeschichten haben deutlich gemacht, dass sinnvolle und verantwortungsvolle Arbeit in diesem Feld scheitern muss, wenn die Professionellen kein Verständnis für den Sinn der Verhaltensauffälligkeiten entwickeln können. Dabei geht es um beide Bedeutungen von „Verstehen“: das professionelle und intellektuelle Verständnis dessen, was die schwierigen Kinder und Jugendlichen – unbewusst – mit ihren Störungen ausdrücken und bewirken mögen, und das einfühlende Nachvollziehen möglicher psychischer Probleme und Konflikte, die sich hinter dem störenden Verhalten verbergen können.

Pädagogisches oder sozialpädagogisches Fallverstehen ist zwingend auf professionelle Arbeitsbündnisse mit den Störern angewiesen. Nur wer auch bereit ist, sich in schwierige und anspruchsvolle Beziehungen mit ihnen verwickeln zu lassen, hat hier überhaupt die Chance des Lernens. Dass dies nur eine notwendige, nicht aber schon eine hinreichende Lernbedingung ist, zeigen die hilflosen Ver-strickungen zwischen diesen Jugendlichen und ihren Professionellen auch in unseren Fallgeschichten. Fallverstehen entsteht eben nicht – oder nur in seltenen Ausnahmen – innerhalb der gestörten Arbeitsbeziehung zwischen dem Professi-onellen und dem schwierigen Jugendlichen; nicht hier, wo Wiederholungszwang und die unbewusste Automatik von Übertragung und Gegenübertragung so machtvoll inszeniert werden müssen und wo nur noch schwer auszumachen ist, auf welcher Seite sich Störer und Gestörte befinden.

Eine dritte Ebene muss also zusätzlich eröffnet werden. Auf dieser ist ein Raum anzusiedeln, der entlastet ist von dem in der Arbeit mit schwierigen Jugendlichen permanent und systematisch aufgebauten Handlungsdruck: ein Schutzraum für symbolisches Handeln; ein äußerer Raum, in dem der innere Raum des Professionellen, der in der Arbeit mit diesen schwierigen Jugendlichen so unter Druck gerät, gesichert und geordnet werden kann. Hierzu muss auf dieser Ebene und in diesem äußeren Raum eine dritte Instanz zugelassen werden: als ein produktiver Störer, der – kompetent und selbst nicht verstrickt – die Beziehungs- und Kon-fliktdynamik zum Gegenstand von Reflexion macht. Das kann in weniger schwierigen Fällen einfach die Kollegin sein, die „von außen“ zuschaut und sehen kann, was dem verstrickten Kollegen absolut verborgen bleibt; das kann eine Gruppe von Kollegen sein, die regelmäßig und wechselseitig sich berät und dabei eines der Konzepte Kollegialer Fallberatung einsetzt; das können professionelle Dritte in interdisziplinären Fallgesprächen oder in der Supervision sein; und das kann auch ein Forschungsteam sein, das „von außen“ kommt und mit „fremden Augen“ das Vertraute unter die Lupe nimmt und aufstört. Immer aber wird diese notwendige Dritte Instanz zum Störer werden müssen. Schon die erste Botschaft – dass da Hilfe von außen nötig sei und gebraucht werde – hat etwas Kränkendes; gerade für Professionelle, deren Beruf es ist, zu lehren, zu helfen, und zu fördern. Noch kränkender und verstörender aber ist die zweite Botschaft, die der ersten stets auf den Fuß folgt: dass in diesen Konfliktbeziehungen jeder Einzel-kämpfer unweigerlich seine Professionalität einbüßt, nicht mehr Herr im eigenen Haus ist, getrieben wird von der unbewussten Verwicklung der eigenen mit einer fremden Psychodynamik. Und zur Kränkung kommt unweigerlich – wie stets – die Scham hinzu; denn um Versagen, Missbrauch, Entblößung und Beschämung geht es fast immer in den verstrickten Beziehungen; nur zu verständlich, dass die Beteiligten kein intuitives oder spontanes Bedürfnis entwickeln, diese Erfahrungen „öffentlich“ zu machen. Das unterstreicht noch einmal, wie wichtig es ist, dass Räume für eine Dritte Instanz geschützte Räume und dass die zugelassenen störenden Dritten auch schützende Dritte sind.

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