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28.06.2012
Fachartikel

Der Schutz des Kindes vor gefährdenden Lebensbedingungen

Für jedes Kind sind das Säuglingsalter und die frühe Kindheit Lebensabschnitte, in welchen es absolut auf das fürsorgliche Handeln einer erwachsenen Pflegepersonen angewiesen ist. Wegen seiner existentiellen Abhängigkeit kann ein kleines Kind nur gedeihen, wenn seine elementaren Bedürfnisse nach Versorgung und Ernährung, Gesundheitsfürsorge, Schutz vor Gefahr an Leib und Leben, Unterstützung, Liebe und Zuwendung sichergestellt sind.

Für jedes Kind sind das Säuglingsalter und die frühe Kindheit Lebensabschnitte, in welchen es absolut auf das fürsorgliche Handeln einer erwachsenen Pflegepersonen angewiesen ist. Wegen seiner existentiellen Abhängigkeit kann ein kleines Kind nur gedeihen, wenn seine elementaren Bedürfnisse nach Versorgung und Ernährung, Gesundheitsfürsorge, Schutz vor Gefahr an Leib und Leben, Unterstützung, Liebe und Zuwendung sichergestellt sind. Jedes Kind benötigt – so die zentrale Prämisse der BindungstheorieZur Bindungstheorie und der Entwicklung von Bindungsverhalten siehe Bowlby 1999, 17 ff.; Zimmermann, 203 ff. - eine liebevolle Bindung zu mindestens einem Trost spendenden Menschen, in dessen Gegenwart es sich geborgen, gehalten und geschützt fühlt. Für seine gesunde emotionale Entwicklung braucht das Kind eine sichere Basis, zu der es bei Gefahr fliehen und von der aus es die Welt erkunden kann. Auf Sicherheit in Beziehungen ist es in ganz besonderer Weise angewiesen.

Eine sichere Bindung ist als Ergebnis von Erfahrungen anzusehen, die aus dem Erleben des Kindes von Bedürfnisbefriedigung, emotionaler Nähe und geglückten Verständigungsprozessen mit einer feinfühligen Bezugsperson hervorgeht. Auf diese Weise kann sich bei ihm ein Grundsicherheitsgefühl entwickeln, das eine gute Voraussetzung ist für die Bewältigung weiterer Entwicklungsschritte. Eine sichere emotionale Bindung trägt dazu bei, spätere soziale und emotionale Belastungen effektiver zu bewältigen und ist damit die wichtigste Ressource zur Bewältigung von Unsicherheiten, Angst und Stress, d.h. sie unterstützt die Stressresistenz des Kindes.Grossmann u. Grossmann (2004), 99 ff; Rothenberger u. Hüther, 640. Das Vorhandensein einer emotional nahen, Sicherheit und Schutz gewährenden Betreuungsperson ist von daher sein bester Schutz.Tress, 56, kam in einem Forschungsprojekt der Psychosomatischen Klinik am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim zu dem hochsignifikanten Ergebnis, dass „über die spätere psychosomatische und psychosoziale Gesundheit dieser Menschen im Erwachsenenalter zuallererst die Präsenz einer guten frühkindlichen, stabil zugänglichen Bezugsperson entscheidet. (…) Dieses gute Objekt muss mächtiger sein als die gesamte böse Objektwelt (die im Falle unserer Probanden als ausgesprochen stark imponiert), damit eine zufrieden stellende seelische Entwicklung überhaupt erst in den Bereich des Möglichen rückt.“ „Ohne eine solche Bezugsperson – so das hochsignifikante Ergebnis des Mannheimer Forschungsprojekts, durchgeführt an 600 erwachsenen Personen – entwickelte sich kein Proband mit schwerer Frühkindheit zu einem gesunden Erwachsenen. Deutliche innerfamiliäre Spannungen scheinen die Entfaltung einer solchen wichtigen Beziehung zu verhindern.“Tress, 51.

Ist das körperliche, geistige oder seelische Wohl eines Kindes gefährdet – insbesondere sein Leben, seine Gesundheit oder seine psychische Integrität - so ist alles daran zu setzen, die Gefährdungslage dieses Kindes durch geeignete Maßnahmen abzuwenden und ihm den erforderlichen Schutz zu gewähren. Es liegt in der Natur der Sache,

  • dass man sein Kind nicht widerstandslos Lebenserfahrungen preisgibt von Zwang, Terror, Gewalt, totaler Kontrolle und Missachtung und seine Integrität verletzen lässt;
  • dass man es nicht jemandem zur Übernachtung mitgibt, wenn damit zu rechnen ist, dass es dort im Nebenraum zu schweren tätlichen Auseinandersetzungen kommt und eine Person dabei existentiell bedroht oder getötet wird;
  • dass ein Kind sich nicht permanent auf der Flucht befinden darf vor den Gewalttätigkeiten gegenüber der es begleitenden Betreuungsperson und dabei diverse Morddrohungen gegen diese miterlebt, welche es letztendlich auch gegen sich selbst gerichtet empfinden muss.

Denn es gibt Wertmaßstäbe, die sowohl für den einzelnen Menschen als auch für das soziale Miteinander unverzichtbar sind und auf die sich jeder verlassen können will und muss. Dazu gehört, dass man ein Kind nicht schädigt, - weder körperlich noch seelisch.

Diese klare Übereinkunft scheint ins Wanken zu geraten, sobald es um ein innerhalb der familialen Bindungen gefährdetes Kind geht. Wird plötzlich deutlich, dass ein Kind nicht vor einer Schädigung durch irgend jemanden geschützt werden muss, sondern vor den realen lebensbedrohlichen Erfahrungen durch ein Elternteil bzw. beide Eltern, bauen sich scheinbar unüberbrückbare Hindernisse gegen eine realistische Wahrnehmung dieser schwer zu ertragenden Wirklichkeit auf, die zu massiver Verdrängung, Verleugnung oder Verharmlosung führen können. Achtet man in solch einem Interessenkonflikt nicht mit Akribie darauf, um welche wesentlichen Interessen des Kindes es hierbei geht, hebelt die Frage, wessen Interessen auf dem Spiel stehen, erstere leicht aus. Dies insbesondere dann, wenn widerstreitende erwachsene Personen in den Interessenkonflikt involviert sind und diese die ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Für die jedem Kind zustehende Entwicklung zu einer selbstbestimmungsfähigen Persönlichkeit mit dem Recht auf Entfaltung der eigenen Wirksamkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft bedeutet jede schlimme Erfahrung, die es nicht ohne negative Folgen für seine weitere Entwicklung bewältigen kann, eine schwere Hypothek. Ist ein Kind innerhalb der familialen Bindungen unerträglichen Erfahrungen von existentieller Bedrohung mit Angst vor Vernichtung und damit einer Gefährdung des Kindeswohls durch einen gewalttätigen Elternteil ausgesetzt, nimmt es gerade durch einen derjenigen Erwachsenen Schaden, auf dessen Schutz und Hilfe es sich in seiner Abhängigkeit hätte absolut verlassen müssen. Wegen seiner Gefährdungslage müssen die schädigenden Lebensbedingungen beendet und das Kind vor weiterer Gefährdung dauerhaft geschützt werden.>Zum Schutz des Kindes durch das Recht< siehe: Heilmann u. Salgo, 957 ff.

Bei der Definition von Kindeswohlgefährdung, die als unbestimmter Rechtsbegriff der Ausfüllung im Einzelfall bedarf, ist die rechtspsychologische Definition von Dettenborn hervorzuheben, wobei dieser betont, dass bei der Abwendung einer Kindeswohlgefährdung die positive Bestimmung des Kindeswohls nicht mehr ausreicht,Dettenborn, 49, schlägt vor, „unter familienrechtspsychologischem Aspekt als Kindeswohl die für die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes oder Jugendlichen günstige Relation zwischen seiner Bedürfnislage und seinen Lebensbedingungen zu verstehen.“ Das Kindeswohlprinzip nach § 1697a BGB besagt: „Soweit nichts anderes bestimmt ist, trifft das Gericht in Verfahren über die in diesem Titel geregelten Angelegenheiten diejenige Entscheidung, die unter Berücksichtigung der tatsächlichen Gegebenheiten und Möglichkeiten sowie der berechtigten Interessen der Beteiligten dem Wohl des Kindes am besten entspricht.“ jedoch Bezugspunkt ist, um Kindeswohlgefährdung zu definieren. „Kindeswohlgefährdung ist die Überforderung der Kompetenzen eines Kindes, vor allem der Kompetenzen, die ungenügende Berücksichtigung seiner Bedürfnisse in seinen Lebensbedingungen ohne negative körperliche und/oder psychische Folgen zu bewältigen.“Dettenborn, 55. Die sehr informative Tabelle von Dettenborn: „Kindeswohl – Bedürfnislage und gefährdende Lebensbedingungen“ , 51, ist als Anhang beigefügt. Durch die Mängellage wird die Bedürfnislage ignoriert.

Gewalttätigkeit beispielsweise gegen die Mutter bedeutet gleichzeitig für das miterlebende Kind eine seelische Verletzung und dient demzufolge nicht dem Kindeswohl. Bei einer Beeinträchtigung oder Gefährdung des Kindeswohls ist alles zu tun, damit weitere Belastungen u./od. Schädigungen des Kindes verhindert werden. Hierbei ist eine vorrangig elternzentrierte bzw. familientherapeutische Sicht mit Allparteilichkeit und gleichschwebender Aufmerksamkeit für das Familiensystem als Ganzes zu verlassen.Siehe Salgo (2007), 16, der betont, dass die beim systemischen Ansatz geforderte Ressourcenorientierung keinesfalls als Verharmlosung oder Leugnung von Problemlagen verstanden werden darf. Nach häuslicher Gewalt kann und darf auch in der Frage des Umgangs die Wahl der Lösungsstrategien nicht mehr dem betroffenen System überlassen bleiben. Der Verfahrensbeistand als Beteiligter in KindschaftssachenSiehe HB-VB/Bauer, Rn 281; HB-VB/Heilmann, Rn 1155, 1280 f. kann hier nicht neutral bleiben. Denn eine neutrale Haltung zu Gewalttätigkeit in der Familie verführt geradewegs dazu, wichtige Differenzierungen bezüglich wesentlicher Wertunterscheidungen zu unterlassen, da Neutralität sich nur bei großer Distanz von den Erlebnis- und Handlungsperspektiven der beteiligten Personen aufrechterhalten lässt.Siehe Fischer u. Riedesser 184, 346. „Wer sich in einer Täter-Opfer-Konstellation „neutral“ verhält, ist natürlich nicht neutral, sondern nimmt Partei für den Täter und gegen das Opfer.“Siehe Fischer u. Riedesser 183. Auch kommt in diesen Fällen ein Hinwirken auf Einvernehmen nicht in Betracht, da dies dem Kindeswohl widerspräche.Siehe HB-VB/Niestroj Rn 1569, wobei gleiches für das Beschleunigungsgebot gilt. Ebenda Rn 1569. Oberstes Ziel bei häuslicher Gewalt ist nicht, Einvernehmen herzustellen, sondern die Beendigung der Kindeswohlgefährdung.

Die zentrale Bedeutung von Bindungen im menschlichen Leben lässt erahnen, dass Gewalt als Folge aktivierter Aggression überall dort eine Rolle spielen kann, wo bestehende Bindungen gefährdet sind.Bauer (2006), 89. Eine akute Beziehungskrise zwischen Eltern bei Trennung und Scheidung führt bei dem „ent-täuschten“ Elternteil manchmal zu einer Kurzschlussreaktion mit Verlust seiner Affektkontrolle, wobei ein Kind bei Anwesenheit große Angst erleben kann. Gewaltausübung ist durch nichts zu rechtfertigen. Jedoch ist eine einmalige beängstigende Erfahrung eines Kindes,Nach Fischer u. Riedesser, 255, bleibt, wenn die Schutzfunktion der Eltern vorübergehend „versagt“ hat, doch das innere familiäre Bindungs- und Sicherheitssystem weitgehend unangetastet. hervorgerufen durch das Verhalten eines (ansonsten) erziehungsfähigen Elternteils von jenen Erfahrung deutlich zu unterscheiden, die im Kind durch wiederholte häusliche Gewalt hervorgerufen werden und mit Trennung und Scheidung der Eltern beendet werden (sollen), d.h. sich der misshandelte Elternteil – i.d.R. die Mutter – vom gewalttätigen Partner trennt bzw. dies beabsichtigt, und dadurch für das Kind endlich Ruhe eintritt. Nicht umsonst spricht man von Dauerstress in gewalttätigen Familien.Huber, Bd. I, 50.

In letzteren Fällen ist damit zu rechnen, dass das betroffene Kind durch das Miterleben der häuslichen Gewalt über einen längeren Zeitraum hinweg wiederholt massiven Ohnmachts- und Überwältigungserfahrungen ausgesetzt war und dadurch schweren seelischen Schaden genommen hat (kumulative familiale Traumatisierung). „Psychisches Trauma ist das Leid der Ohnmächtigen. Es entsteht in dem Augenblick, wo das Opfer von einer überwältigenden Macht hilflos gemacht wird.“Hermann, 53.

Fußnoten: