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Süchtig nach Stimulation – Zur Suchtgefahr von Kindern mit ADHS
Themen:
Von Piero Rossi. Vortrag gehalten im Januar 2003 anlässlich der ELPOS-Jahresversammlung in Zürich.
Einleitung
„Sind Kinder mit einer ADHS verstärkt suchtgefährdet?“ – so lautet der Titel der heutigen Tagung. „Ja klar!“, werden die Meisten von Ihnen spontan gedacht haben, als sie im Tagungsprospekt diese Überschrift lasen. Als ich begann, mir Gedanken darüber zu machen, was ich Ihnen heute vortragen soll, wurde mir bald klar, dass hinter dieser Tagungsüberschrift viel mehr steckt, als nur sachliche Fragen nach möglichen Suchtrisiken, denen Kinder mit einer ADHS in unserer Gesellschaft ausgesetzt sind oder Fragen etwa nach Möglichkeiten für eine möglichst wirksame Sucht-Prävention. Nein, dieser fragende und fast sorgenvoll anmutende Tagungstitel steckt voller Emotionen: Er birgt in sich zehrende Gefühle und bohrende innere Fragen unzähliger Mütter und Väter, die sich ob der aktuellen oder zukünftigen Entwicklung ihrer Kinder mit einer ADHS sorgen und ängstigen.
Auch wenn es von den Eltern im Alltag nicht immer offen ausgesprochen wird, weiss ich doch durch meine Arbeit mit ADHS-Familien, dass vor allem Mütter von Kindern mit einer ADHS immer wieder von oft erschreckenden Vorstellungen und Fantasien heimgesucht werden. Ihr schwieriges, unvorsichtiges, vorschnelles und so leicht beeinflussbares Kind könnte dereinst in schlechte Gesellschaft geraten, mit Drogen in Kontakt kommen, an einer Sucht erkranken, durch die Beschaffungskriminalität in die Illegalität abrutschen und später vielleicht sogar verwahrlosen. Oder aber ihre schon in die Oberstufe übergetretenen ADHS-Kids befinden sich schon in schlechter Gesellschaft, rauchen und kiffen bereits und machen sowieso schon was sie wollen, was die Ängste und Ohnmachtsgefühle der Mütter dann noch weiter in die Höhe treibt. [...]
Holen Sie sich gegebenenfalls eine Zweitmeinung
Es liegt in der Verantwortung der Eltern zu prüfen, ob es zutrifft, wenn Fachleute vertreten, dass bei gesicherter ADHS-Diagnose eine medikamentöse Behandlung in Kombination mit einer Verhaltenstherapie einen zentralen Stellenwert innehat. Es liegt aber auch in der Verantwortung der Eltern zu prüfen, ob es zutrifft, wenn selbsternannte ADHS-Fachleute in die Welt hinausposaunen, dass Afa-Algen, hoch dosierte Vitamin-A-Therapien oder eine zuckerfreie Diät wirksame Mittel gegen die ADHS darstellen würden. Fragen Sie diese Autoren oder diese Heiler genauso, wie Sie Ihren Arzt oder Ihre Psychologin fragen würden, worauf sich ihre Therapieempfehlung abstützt und woher sie ihr Wissen haben.
Macht Ritalin süchtig?
Gemäss dem aktuellen Forschungsstand zum Thema ADHS und Sucht (Wissensstand 2003) gilt zurzeit Folgendes: ADHS-Jugendliche mit einer zusätzlichen sozialen Verhaltensstörung (also mit schweren Regelverstössen, Diebstahl, Brandstiftung oder Körperverletzung) haben ein zwei- bis fünfmal höheres Risiko, an einer Suchtstörung zu erkranken. Das Vorliegen einer ADHS alleine stellt keinen speziellen Sucht-Risikofaktor dar. Kinder mit einer ADHS konsumieren häufiger und früher als Kinder ohne ADHS Nikotin, Alkohol oder illegale Drogen. Daraus entwickelt sich aber nicht zwingend häufiger eine Suchterkrankung als beim Normalkollektiv. Eine Behandlung mit Stimulanzien erhöht das Suchtrisiko von Kindern mit einer ADHS nicht, sondern reduziert es auf das gleich hohe Mass von Jugendlichen ohne ADHS [...]
Die wohl aktuellsten Studien zur Frage, ob eine Behandlung mit Ritalin mit einem späteren Suchtrisiko einhergehen, wurden in der Januarausgabe 2003 der Fachzeitschrift Pediatrics von T. E. Wilens publiziert: Es handelt sich dabei um eine zusammenfassende Auswertung von zehn Verlaufsstudien. Insgesamt beobachteten diese Studien die Entwicklung von 674 mit Stimulanzien behandelte ADHS-Jugendliche und 360 ADHS-Jugendliche, welche nicht mit Stimulanzien behandelt wurden. Die Metaanalyse ergab, dass die medikamentös behandelten Kinder mit einer ADHS gegenüber den Kindern mit einer ADHS ohne medikamentöse Therapie ein 1,9-fach kleineres Risiko aufwiesen, im späteren Verlauf an einer Drogen- oder Alkoholsucht zu erkranken.
In der gleichen Ausgabe dieser international renommierten Fachzeitschrift findet sich auch eine Studie des ADHS-Forschers Russel Barkley, welcher 147 Kinder mit einer ADHS, die mit Stimulanzien behandelt wurden 13 Jahre lang (und somit ins Erwachsenenalter hinein) begleitete und ihre Entwicklung daraufhin überprüfte, ob gehäuft Suchtstörungen auftraten. Russel Barkley fand keinerlei Hinweise darauf, dass diese Kinder später vermehrt suchtkrank wurden
Den kompletten Aufsatz finden Sie hier.
Kritische Sicht von ADHS-Deutschland auf einen Bericht von ZDF-Frontal