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Über das Pflege- und Adoptivkind und seine grundlegenden Bedürfnisse
von ["August Huber]
Was Pflege- und Adoptivkinder im Wesentlichen von den sogenannt normal aufgewachsenen Kindern in Familien unterscheidet, sind drei wesentliche Merkmale, welche sie durch ihr ganzes Leben mehr oder weniger intensiv begleiten, bzw. sie belasten.
- 1.) Für die Mehrheit dieser Kinder war der Beginn hochdramatisch. Das, was Kinder in der allerfrühesten Lebensphase für eine gesunde Entwicklung brauchen, wurde ihnen nur in geringem Maße gegeben und hat damit ihr Aufwachsen entscheidend geprägt.
- 2.) Der schwierige Start ins Leben hinterlässt tiefe Spuren in der verlangsamten, die Kinder oft überfordernden Lern- und Wachstumsentwicklung. Lernen wird zu einer nahe an der Grenze liegenden Herausforderung, oft genug eine Überforderung.
- 3.) Die Frage nach der Zugehörigkeit unterscheidet diese Kinder ganz grundsätzlich von „Normalkindern“. Was für die meisten selbstverständlich ist, dass sie eine Familie, bei geschiedenen Ehen Mutter oder Vater haben, zu ihnen selbstverständlich und nicht hinterfragbar gehören, ist für unsere Pflegekinder, für Adoptivkinder in etwas geringerem Maße, eben nicht selbstverständlich. Die Frage: „Gehöre ich wirklich zu der Familie, in der ich lebe?“, ist oft eine ganz konkrete praktische. Diese Frage nach sicherer Beheimatung, nach einer dauerhaften Perspektive, wird oft gestellt, sei es im Rahmen von Besuchskontakten mit den Herkunftsfamilien, in gerichtlichen Auseinandersetzungen und Entscheidungen, vom Gesetzgeber, von den Pflegeeltern und nicht zuletzt von den Kindern selbst.
Dies bewirkt, dass das Leben der Kinder und das der erziehenden Mitmenschen anders, schwieriger, widerspruchsvoller verläuft als in der sog. Normalität. Damit sind sowohl an die Kinder in ihrer Entwicklung wie auch an die Pflege- und Adoptiveltern erhebliche Anforderungen gestellt.
Zu 1.)
Die Erfahrung der Geburt ist für ein Kind keineswegs ein Glückserlebnis. Abgeschnitten vom Lebenskreislauf der Mutter muss das Kind plötzlich seine eigenen Körperprozesse aktivieren, um zu überleben. Noch ganz und gar unfertig ist es nur in der Lage zu atmen, zu trinken und sich unkoordiniert zu bewegen. Es ist noch ganz und gar auf die Hilfe von außen angewiesen, es würde sonst sterben. Es braucht dringend gute, geeignete Nahrung, die nur auf den eigenen Körperrhythmus abgestimmt aufgenommen werden kann. Darüber hinaus braucht es gute Körperpflege und eine einfühlende, liebevolle Behandlung im körperlichen Kontakt. Aber dies allein genügt immer noch nicht, verlangt es doch darüber hinaus die Präsenz einer ganz sich um den Säugling kümmernden Person, die nicht ohne weiteres auswechselbar ist. Er bindet sich an diese Person; sie versorgt am einfühlsamsten und ist in allen Nöten fürsorglich da. Alles wird total erlebt, die Mangelsituation des Hungers wie des Alleinseins, aber auch die Glückssituation des Versorgtwerdens und der körperlichen Nähe. So schwankt das Kind zwischen Noterfahrung und Glückserfahrung. Je mehr die positive Erfahrung überwiegt, desto besser fühlt das Kind sich gehalten, vertraut dem Leben und wagt neue Erfahrungen. Dann entsteht eine Eltern-Kind-Bindung, eine existentiell gesicherte Beheimatung mit der Motivation, das Leben mutig und lustvoll anzugehen.
Die existentiell sichernde Bindung ist die Grundlage für eine positive menschliche Entwicklung.
Pflege- und Adoptivkinder erfahren jedoch oft schon in der frühen Zeit größter Hilflosigkeit das Durchfallen durch ein ungesichertes Nest, oft auch mehrmals: Lange Wartezeiten auf Versorgung, das Erleben des Alleingelassenseins, die ablehnende Behandlung, der häufige Wechsel von Versorgungspersonen und auch schlimme Gewaltanwendung stürzen die Kinder in dieser frühen Lebensphase in tiefe existentielle Unsicherheit. Ihre Hilferufe im Überlebenskampf äußern sich durch heftiges Schreien, in aggressiver Panik oder in apathischem Rückzug. Diese sehr frühen prägenden Erfahrungen verankern sich dauerhaft in der Persönlichkeit des Kindes. Statt Glück wird Not erlebt, statt Ruhe Aggressivität, aus Vertrauen wird Misstrauen, letztlich besteht eine ganz tiefe Unzufriedenheit mit dem Leben schlechthin.
Durch das Nest hindurch gefallene Kinder werden zu Überlebenskämpfern, die sich ohne positive Bindungserfahrung ungehalten, verirrt, verwirrt durch das Leben schlagen. Die schier unerträgliche Existenzangst wird verdrängt durch aggressive Abwehr und ist dann nicht mehr spürbar.
So wird Kampf zum Überlebenskonzept: Er verdrängt die Angst, hilft, sich im Gebrauch von Macht Vorteile zu sichern und ermöglicht hier auch Lustgefühle. Das Kind wird zum Bestimmer oder entzieht sich der Autorität durch Flucht. Eingespielt auf die Sozialisation des Überlebenskampfes kommen die Kinder in die Pflegefamilien/ Adoptionsfamilien. Das Neinsagen, das immer selbst bestimmen müssen sind nach einer gewissen Anpassungszeit die herausragenden Verhaltensmerkmale.
Zugleich aber gibt es auch eine tiefe Sehnsucht nach Halt und Geborgenheit. Hinter dem Überlebenskampf verbirgt sich das verzweifelte, hilflose Kind. So stecken die Kinder in einer sehr widersprüchlichen Spannungssituation. Sie sind auf der Suche nach Halt und Bindung, wehren aber zugleich das Bindungsangebot der neuen Eltern oft heftig ab. Sie wollen etwas, können dies jedoch nicht ertragen. Sie zeigen ihre Not in der Sprache des abwehrenden Kämpfers und machen es den erziehenden Pflege- und Adoptiveltern schwer, sie vorbehaltlos zu mögen.
Erzieherisch bedeutet dies eine sehr schwierige Situation, die nur durch tiefes Verstehen der Biografie des Kindes ertragen und allmählich verändert werden kann. Es gilt zu sehen, dass hinter der Abwehrmauer die abgrundtiefe Angst, die Sehnsucht nach Halt steckt. Da gilt es zu verstehen, aber auch standzuhalten und das Kind in die Regeln des Alltags zu führen, es nicht agieren zu lassen und nicht letztlich seiner zerstörerischen Wut nachzugeben. Das Kind würde sonst nur die Erfahrung machen, dass der Erwachsene zum Opfer seiner unkontrollierten Ausbrüche wird. Nur dadurch, dass der Erwachsene, die Pflegeeltern die Stärkeren sind, können sie dem Kind helfen, in der Geregeltheit des Alltagslebens Halt zu finden, ihm zu der Erfahrung verhelfen, dass das Leben in seiner Regelmäßigkeit trägt und hält und Sicherheit bietet. Was die Kinder dringend brauchen, ist die Erfahrung, dass das Leben hält und ich mir keine Sorgen um meine grundlegende Existenz machen muss. So vermitteln die Führung und die Orientierung durch die neuen Eltern Schutz und Sicherheit. Aus der Regelmäßigkeit wächst die Zuverlässigkeit, aus der Zuverlässigkeit das Vertrauen und damit die Basis für eine Eltern- Kind- Bindung. Die Kinder können erst über Regeln, die ihnen Sicherheit geben, allmählich in die Bindung wachsen, ein für Kinder wie Eltern schwieriger Weg. Gesund aufgewachsene Kinder dagegen wachsen aus der schon anfänglich gegebenen Bindung und Geborgenheit schrittweise in die Regeln hinein.
Pflege- und Adoptivkinder können nur den umgekehrten Weg gehen, je nachdem wie dramatisch der Beginn ihres Lebens erfahren wurde. Das Wachsen in die Bindung bleibt oft lange unsichtbar, geschieht auf einer tieferen Ebene, während an der Oberfläche noch lange das alte Kampfverhalten gezeigt wird. So können beispielsweise diese Kinder den neuen Eltern ihr dauerndes Nein heftig entgegenschleudern, sehen aber die Pflegefamilie schon selbstverständlich als ihr Zuhause an. Von den Erwachsenen fordern sie Zuverlässigkeit in der Regeleinhaltung. Ein Dankeschön aber, oder gar Einsicht in Fehler fallen auch dem schon gebundenen Kämpferkind schwer. Deshalb verläuft das Erziehen dieser Kinder scheinbar widersprüchlich, wobei es immer wieder darum geht, zu verstehen und sich einzufühlen in das, was sie trotz aller Widersprüchlichkeit im Tiefsten brauchen: Halt, Schutz und Geborgenheit durch dauerhaft sich bemühende, verstehende und führende Eltern.
Zu 2.)
Der Überlebenskampf des Lebensanfangs hat beim Kind viel Kraft verbraucht und
gebunden, sodass der Blick in die Welt, die Neugier, die Lust am Entdecken und Lernen erheblich beeinträchtigt sind. Während gesunde Kinder, wohl versorgt, sich dem Ausprobieren ihrer Sinne und der Bewegungsfähigkeit ihres Körpers widmen, im Spiel ihre Fantasiekräfte nutzen und alles Neue interessiert ergreifen, hat die Existenzangst bei den Pflegekindern die Fantasie in Zerstörungsbilder und Kampfeswut gebannt. Dies lässt sich unschwer daran feststellen, wie diese Kinder mit Spielsachen umgehen. So bleiben sie notgedrungen in ihrer Entwicklung zurück. Lernen wird mühsam. Es macht kaum Freude und kann oft nur durch sekundäre Motivation, mit Hilfe von Versprechungen, durchgehalten werden. In der Schule tritt die Angst, mit den Gleichaltrigen nicht mithalten zu können, noch hinzu. Die Kinder spüren sehr deutlich die Unterschiede zu den anderen und die Angst hemmt noch das Wissen, über das sie eigentlich verfügen könnten.
Schule ist für nicht wenige Pflege- und Adoptivkinder eine hoch angstbesetzte Überforderung und kann das Verhältnis zu den Pflege- und Adoptiveltern sehr belasten, wenn der Hausaufgabendruck täglich auf ihnen lastet. Besonders schwer haben es die Kinder, die schon während der Schwangerschaft der Mutter infolge von Drogen- und Alkoholmissbrauch in ihrer Entwicklung geschädigt wurden. Beeinträchtigte geistige Entwicklung, Überaktivität, geringes Konzentrationsvermögen, geringe Ausdauer, Verspannung und anderes kommen noch zu all den nachgeburtlichen Beeinträchtigungen hinzu. Was diese Kinder brauchen, ist der für sie angemessene Platz in der Schule und in der mittragenden Klassengemeinschaft. Hier wird deutlich, dass sie nicht nur die Sicherheit in ihrer menschlichen Existenz durch dauerhafte Fürsorge in einer Familie brauchen, sondern auch die Freude, die Lust und vor allem den Mut, das Leben zu wagen und sich neuen Lernanforderungen zu stellen.
Das zweite grundlegende Erfordernis für diese Kinder ist es daher, dass sie Freude am Leben zu gewinnen, ansonsten kann und will es von ihnen nicht gewagt werden. Obwohl die Kinder es in der Schulzeit so schwer haben, ihren anerkannten Platz in der gleichaltrigen Kindergemeinschaft zu finden, ist gerade diese Altersstufe sehr geeignet, ihnen die Möglichkeit zu verschaffen, Zugang zur Lebensfreude zu finden. In dieser Altersstufe steht das Bedürfnis nach Erleben, nach Abenteuer in der Gemeinschaft im Vordergrund, und dazu lassen sich die Kinder durch begeisterte Vorbilder anregen. Die Welt der Natur, die Auseinandersetzung mit den Elementen übt auf unsere Pflegekinder Anziehungskraft aus und fasziniert. In der Bewegung draußen, beim Wandern, beim Klettern, beim Schwimmen, beim Erkunden der Höhlen kommen die Kinder in Entspannung, werden zur Entdeckerlust angeregt und tauchen in das Hier und Jetzt der Natur ein. Gerade nach körperlicher Anstrengung und erreichtem Ziel können sie erstmals strahlen und sich ihres Lebens freuen.
So kehrt zeitweise Zufriedenheit ein, die Seele öffnet sich, in der Gemeinschaft um das Feuer draußen entsteht das Gefühl der Zusammengehörigkeit und das Kämpferdasein ist endlich einmal vergessen. So eröffnet besonders das Naturerleben an Wochenenden und in den Ferien eine Veränderung der Lebenseinstellung, indem ein positives Gegengewicht geschaffen wird. Naturerlebnisse sind also keine Inhalte für eine Freizeitbeschäftigung, die stattfinden können oder auch nicht, sondern sie stellen für die Kinder einen unabdingbaren, mit Lust und Freude erfahrbaren Weg ins Leben dar. Dass Pflege- und Adoptiveltern hierbei fachkundige Anregung und Entlastung durch Erlebnispädagogen brauchen, steht außer Frage. In der Altersperiode der Schulzeit sollte diese Möglichkeit intensivst genutzt werden. Selbst in die Schönheit der Natur müssen die Kinder zunächst über die Verweigerungsschwelle geführt werden. Dann erleben Pflegeeltern, dass sich trotz anfänglicher Widerstände gegen die Anforderungen des Abenteuers hinterher ein Glücksgefühl bei den Kindern einstellt. Es war toll.
Zu 3.)
Niemand spricht guten Gewissens Kindern das Recht auf dauerhafte Beheimatung in einer Lebensgemeinschaft, sprich Familie ab. Dass diese feste Zugehörigkeit für das Gedeihen von Kindern pädagogisch dringend gefordert werden muss, steht außer Zweifel. Gleichwohl sind die Bedingungen für die Gewährleistung dieser Dauerhaftigkeit in der Bundesrepublik auf den verschiedensten Ebenen äußerst unklar und widersprüchlich. Kinder werden im Rahmen des Wächteramtes des Staates nach erheblicher Gefährdung oder Bedrohung durch das Jugendamt aus ihrer Ursprungsfamilie herausgenommen. Keine andere Hilfeform hatte ihnen eine Chance geben können. Sie erhalten mit diesem Schnitt zwei Familien, die biologische und diejenige, welche sie durchs Leben führt, in welcher sie Halt und Vertrauen entwickeln. Es wird ihnen immer wieder mitgeteilt, dass sie ja noch die richtigen Eltern haben.
Durch die Kontakte, die manchmal positiv sind, sehr oft aber in einem angespannten Milieu stattfinden, werden diese Kinder schon in sehr frühem Alter mit vielen Fragen konfrontiert: Warum lebe ich nicht bei meinen richtigen Eltern, waren sie lieb oder böse zu mir? Für Pflegeeltern ist es nicht leicht, gleichzeitig wahrheitsgemäß und doch möglichst positiv das Bild der Herkunftseltern zu vermitteln. Die Fragen der Kinder können nie eindeutig genug beantwortet werden, sodass die Kinder entweder die Eltern als böse und störend ablehnen, sie nicht sehen wollen, oder aus Mitleid mit ihnen, weil sie krank und hilflos sind, zu ihnen zurückwollen, um ihnen zu helfen. Kleine Kinder können mit solchen verunsichernden Antworten kaum etwas anfangen und binden sich klammernd an die Pflegeeltern.
Je älter die Kinder werden, umso mehr beschäftigt sie diese Frage nach dem Warum. Nicht selten versuchen Fachleute mit dem Konzept der Biografiearbeit die Herkunftsgeschichte des Kindes anzusprechen. Manchen Kindern vermittelt dies Klarheit darüber, welche positive oder negative Rolle sie den Eltern geben wollen. Nicht selten aber sind sie überfordert und wollen lange Zeit nichts von ihren biologischen Eltern wissen, weil die frühen Verletzungen durch diese nur so schwer heilen können. So tragen die Kinder immer schwer an der Vergangenheit, weil diese so schwierig einzuordnen ist.
Aus Fachkreisen wird immer wieder geäußert, wie wichtig eine intensive Verbindung zwischen Herkunftseltern und Pflegekind vor allem für die spätere Identitätsentwicklung sei. Deshalb sollten Kontakte schon ganz früh und häufig gepflegt werden. Dazu ist zu sagen, dass kleine Kinder ihre Identität noch ganz in der sie umsorgenden Gemeinschaft und mit großer Nachahmungskraft entwickeln, in der Schulphase identifizieren sie sich zusätzlich mit den jeweiligen Kindergemeinschaften in Schule, Hobby und Freizeit. Erst in der Pubertät entwickelt sich die ganz eigene Persönlichkeit mit immer größerer Unabhängigkeit von Familie und Gruppen. Der Blick nach vorne in die eigene Perspektive und der Blick zurück in die Herkunftsfamilie schaffen dann Chancen zur Auseinandersetzung und Abwägung. Im Jugendlichen entsteht die Frage: Was möchte ich selbst? Die Reflexion des Geschehens und dessen positives Einordnen in die eigene Biografie schaffen die Möglichkeit für den Weg nach vorne.
In der Pubertät geht es um die Versöhnung mit der eigenen problematischen Geschichte, vor allem mit den Herkunftseltern, wozu der junge Mensch oft fachliche Hilfe braucht. Hieraus folgt, dass die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, d.h. mit den biologischen Eltern notwendig im Jugendalter ansteht, keineswegs aber in der Zeit, wo es um die grundlegende existentielle Sicherheit geht. Leider wird der Begriff Bindung oft eher unreflektiert und undifferenziert gebraucht. Was Kinder vorrangig brauchen, sind Eltern-Kind-Bindungen, wie sie nur im tatsächlichen Leben über die gemeinsame positive Erfahrung der Lebenswirklichkeit zustande kommen. Dies sind tragende, versorgende, dauerhafte und liebevolle Erfahrungen miteinander, wobei die Eltern, d.h. die Pflege- und Adoptiveltern die ganze Verantwortung im alltäglichen Leben wahrnehmen und das Kind ihnen deshalb vertraut.
Die biologischen Eltern haben ihre Bindung zu dem Kind über die Abstammung und Ähnlichkeit; diese kann auch faszinierend sein, aber sie ist nie tragend, sie allein begründet im tieferen Sinne noch kein Eltern-Kind-Verhältnis. Die Identifizierung mit den nicht positiv erfahrbaren Eltern kann dem Kind nicht helfen. Herkunft bedingt noch keine Sicherheit gebende und entwicklungsfördernde Bindung. Das Verfahren der Beheimatung eines Kindes in einer neuen Familie verläuft in der Jugendhilfe unterschiedlich und widersprüchlich.
Am eindeutigsten für das Kind ist es, wenn den Eltern im Rahmen eines Rechtsverfahrens das Sorgerecht entzogen wird und das Kind mit langfristiger Dauerperspektive in einer Pflegefamilie leben kann. In der Praxis ist es jedoch so, dass die Eltern das Sorgerecht behalten, sofern sie mit der Unterbringung des Kindes in der Pflegefamilie einverstanden sind. Die Tatsachen, welche zur Unterbringung des Kindes führten, können aber im Übrigen genauso katastrophal sein wie bei den Familien, wo ein Sorgerechtsentzug durchgeführt wurde.
Behalten die Eltern aber das Sorgerecht, so gibt es zumindest aus ihrer Sicht in der Regel eine unklare Perspektive mit der möglichen Option der Rückkehr in die Herkunftsfamilie. Die Folgen sind für die Pflegeeltern und Eltern oft sehr belastend, am meisten jedoch für das Kind: Rechte und Pflichten in der Erziehung klaffen auseinander, während die Pflegeeltern mit den Pflichten der Erziehung betraut sind, haben die Eltern ohne Verpflichtung (in der Regel lediglich zum Kontakt) das volle Sorgerecht. Die Kinder erleben, dass die Pflegeeltern für viele Angelegenheiten, z. B. Pass ausstellen, Operation, Arztkonsultationen, Kindergartenanmeldung, Schulzeugnis unterschreiben usw. Zustimmung bzw. Unterschrift der Eltern einholen müssen und dass dies nicht selten zu konflikthaften Auseinandersetzungen führt.
Außerdem mischen sich die Eltern aufgrund ihrer Rechtsposition nicht selten in den Erziehungsalltag maßregelnd ein, sie versuchen außerdem aus ihrer Rechtsposition heraus die Umgangsform zu bestimmen. Pflegeeltern sind verunsichert, was sie tun dürfen und was nicht. Dies bleibt nicht ohne Wirkung auf die Kinder, sie fühlen sich von ihren Pflegeeltern nicht genügend geschützt und immer noch der Willkür ihrer biologischen Eltern ausgeliefert. Gerade die Spannungen und Ängste in unbegleiteten Besuchskontakten im Rahmen des Umgangsrechtes schlagen sich regelmäßig in einem Rückfall in der Entwicklung des Kindes nieder. Wenn die Mitarbeiter des Jugendamtes dann auch noch die Rechtsauffassung der Eltern teilen und die Pflegeeltern zu Nachgiebigkeit anhalten, fühlen sich Pflegeeltern und Kind unverstanden und hintergangen.
Die Umgangskontakte werden nicht selten zu einer qualvollen Pflicht. Auch die Häufigkeit der Kontakte, etwa wöchentlich, 14-tägig oder gar mit Übernachtung in der Herkunftsfamilie, lassen das Kind nur schwer Beheimatung in der Pflegefamilie finden. Hinzu kommt noch die offene Perspektive für eine Rückkehr. Die Einforderung der Rückkehr bedeutet für das in der neuen Familie sich bindende Kind eine tiefe Verunsicherung. Den Eltern wird oft eine Rückkehr des Kindes in Aussicht gestellt, sofern sie bestimmte häusliche Bedingungen erfüllen, was oft aber lange Entwicklungszeiten für die Eltern erfordert oder auch eine grundsätzliche Überforderung darstellt. Die Kinder hingegen brauchen schnell den schutzgebenden Halt und binden sich. Es nähren die Eltern dann aber oft die Erwartung der Rückkehr, während man im Interesse des Kindes den Verbleib in der Pflegefamilie erhoffen bzw. darauf bestehen muss.
Nicht selten werden an die beiden Parteien widersprüchliche Botschaften gegeben, um damit einen äußeren Frieden zu erhalten. Dies geschieht zum Schaden des Kindes, das all diese Spannungen spürt und ausagiert. Der Appell an die Pflegeeltern, sich nicht zu sehr an das Kind zu binden, es loszulassen, klingt geradezu grotesk. Die Pflegefamilie muss und kann nur mit Bindungen arbeiten, dies ist die Basis des Zusammenlebens. Alles, was ein Kind in einer Pflegefamilie gewinnen kann, ist die Entwicklung einer vertrauensvollen zuverlässigen Bindung. Mit einem widersprüchlichen Appell des Jugendamtes oder des Gerichtes zwingt man die Pflegefamilie zur Aufgabe ihrer ureigensten pädagogischen Qualität. Doch auch abgesehen von dieser Schwierigkeit ist fachlich kompetent begleiteter Umgang gerade in der Anfangsphase des Kontaktes zwischen den beiden Familien eine zwingende Notwendigkeit, damit das Kind geschützt wird, die Begegnungssituation entspannt bleibt und ein konfliktfreies Miteinander geschehen kann. Nur so kann der Kontakt, so wie das Gesetz es will, dem Kind helfen, die Herkunftsfamilie angstfreier anzunehmen.
So macht die vielfach praktizierte Konzeptlosigkeit der Jugendhilfe und deren nicht vorrangig am Kindeswohl orientierte Handlungsweise es den Eltern und den Pflegeeltern, aber vor allem dem hilflos bedürftigen Kind schwer, in der nur begrenzt zur Verfügung stehenden Zeit Heimat zu finden. Bis wirklich Klarheit in der Zukunftsperspektive herrscht, vergehen oft Jahre voller Auseinandersetzungen und Ungewissheiten, Kinder aber haben keine Zeit zu verlieren, sonst werden die wertvollsten Entwicklungszeiten nicht genutzt.
Einen weiteren Faktor der Unsicherheit für die Kinder stellt das Rechtssystem selbst dar. Das Kinder- und Jugendhilferecht fordert eine dauerhafte Beheimatung in einer anderen Familie für die Kinder, sofern eine Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie innerhalb eines für das Kind noch erträglichen Zeitrahmens nicht zu erwarten ist. Die Eltern aber können trotz fester Einbindung der Kinder in der Pflegefamilie per Gericht bis zum 18. Lebensjahr des Kindes immer erneut die Rückübertragung des Sorgerechts sowie die Rückführung des Kindes beantragen. Gerichtsprozesse, Anhörungen, Gutachtenerstellung, Anwaltsauseinandersetzungen, Kindesanhörungen bringen über Jahre Belastungen und Verwirrung für die Pflegefamilie und für das Kind. Dies alles geschieht zum Schaden des Kindes und kostet viel Geld.
Selbst Gutachter erkennen die Notsituation der Kinder nicht und den Pflegeeltern, die am dichtesten, 24 Stunden am Tag, in der Situation stehen, wird oft nicht geglaubt. So tragen sowohl das Jugendhilfesystem wie auch die Rechtspraxis dazu bei, dem Kind die Einbindung in eine dauerhaft tragende Gemeinschaft zu erschweren, bzw. unmöglich zu machen.
Dass Pflegekinder sich trotz all der Hindernisse binden wollen und auch binden, zeigt erst recht die Bedeutung dieses Grundbedürfnisses. Insgesamt muss festgehalten werden, dass in der pädagogischen Fachwelt und im Rechtswesen die grundlegenden Bedürfnisse der Kinder, die in der Frühphase ihres Lebens schwerste Existenznöte erfahren haben, nicht in ihrer Tragweite erkannt sind. Will man den Kindern in ihren ureigensten Bedürfnissen gerecht werden, so muss der Dialog zwischen den Pflegeeltern und den fachlich begleitenden Personen auf einer partnerschaftlichen Ebene dringend einsetzen.
Alle diese Faktoren, die Noterfahrung des Lebenseinstiegs, die angstbesetzten Schwierigkeiten des Lernens und die Konfrontation mit der Frage, wo habe ich ein nicht hinterfragbares Recht auf Heimat, belasten den jungen Menschen mehr oder weniger stark in seiner Lebenssituation. Was jedoch hilft, ist die dauerhafte vertrauensvolle Bindung an die Pflegeeltern weit über die Zeit der finanzierenden Jugendhilfe hinaus. Sie bewahrt diese Kinder vor dem Versinken in Drogensucht, Alkoholismus und Kriminalität, weil sie sich in der Not verstanden wissen, unterstützt werden und wieder neuen Mut finden. Die Bindung, die Erfahrung von Beheimatung auch auf Dauer ist die einzige reale Chance für diese Kinder. Darum gilt es, sie zu pflegen, zu schützen, zu unterstützen, zu fördern und intensiv kooperativ zu begleiten. Dies ist die eigentliche Aufgabe der Jugendhilfe und des Rechts.
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Aufwachsen in der Familie – Auszüge aus einer Empfehlung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter