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Die Lebenserfahrungen eines Kindes, das ein Pflegekind wird
Ein Kind wird nicht als Pflegekind geboren, es wird dazu gemacht.
Kinder müssen ihre Familien verlassen, weil die Eltern ihre elementarsten Grundbedürfnisse nicht erkennen und akzeptieren (Vernachlässigung). oder weil die Kinder der Macht der Eltern ausgeliefert sind (sexueller Missbrauch, Gewalterfahrungen).
Forschungsergebnisse im Bereich der Hirnreifung und der Traumatologie haben ergeben, dass besonders die emotionalen Erfahrungen des Kindes in den ersten beiden Lebensjahren „Lebensmuster“ und „Lebenssicht“ des Kindes in herausragender Weise prägen.
Vernachlässigung
Junge Kinder sind im extremen Maße auf die Verlässlichkeit und Verständigkeit der sie versorgenden Erwachsenen angewiesen. Der Säugling kann sich nicht selbst helfen. Er kann nicht aufstehen, sich nicht selbst versorgen. Er ist völlig hilflos seinen Eltern „ausgeliefert“.
Säuglinge und junge Kinder haben ein sehr begrenztes Zeitempfinden. Sie können noch nicht warten. Eine vergessene Mahlzeit, ein vergessenes Kümmern bringt ihnen tiefe Ängste. Immer wieder ‚vergessen’ versetzt ein Kind in Überlebensangst. Das schwer vernachlässigte Kind empfindet eine existenzielle Bedrohung, es
empfindet Todesangst.
Die Erfahrungen der Praxis zeigen, dass etwa zwei Drittel aller Unterbringungen von Kindern durch Vernachlässigung begründet wurde.
Aus der Sicht der Kinder werden vernachlässigende Eltern allen ihren Elternfunktionen nicht gerecht. Vernachlässigende Eltern sind Eltern, die aufgrund eigener Problematik das Kind nicht oder nicht mehr sehen können. Das Kind lebt ohne Regeln, ohne Strukturen, ohne Rituale, ohne Haltepunke in den Tag hinein. Dadurch empfindet es tief greifende Verunsicherung und Verlassenheitsgefühle – nichts geschieht immer wieder so, dass es für das Kind vertraulich wird. Es kann sich auf nichts verlassen.
Diese Kinder erleben ihre Mutter, ihren Vater als schwach, unzuverlässig, nicht vertrauenswürdig. Solche Eltern haben nur schwache Bindungen an ihre Kinder, und ihre Kinder haben schwache Bindungen an sie.
Vernachlässigte Kinder haben keine Veranlassung, Erwachsenen zu vertrauen.
Vernachlässigung prägt massiv Empfindungen und Entwicklungen des Kindes und veranlasst es, entsprechend seiner Lebenssituation Strategien des Überlebens zu entwickeln.
Vernachlässigte Kinder sind Kämpfer, sie kämpfen um ihr Leben, um die Bewältigung eines jeden Tages.
Bei der Mehrzahl vernachlässigter Kinder finden wir daher folgende Verhaltensweisen und Gefühle:
problematischen Umgang mit Essen
- Essen horten,
- sich Essen beschaffen, auch durch klauen,
- sich überfressen,
- Essen verweigern,
- Essen erbetteln bei Nachbarn, Schulkameraden,
- kein Maß finden usw..
ein Grundmangelgefühl
- das Kind hat nie das Gefühl genug zu bekommen.
Wahrnehmungsprobleme
- mit Zeit und Raum,
- der Gefühle (auch der Gefühle anderer),
- der Sinneseindrücken (heiß und kalt, Schmerzen).
Beziehungsprobleme
- kein Vertrauen, eher Misstrauen,
- Negative Selbsteinschätzung (Selbstwertgefühl),
- Gefühl: Leben ist Kampf und Erwachsene sind kein Schutz.,
- Gefühl, schnell überfordert und den Erwartungen nicht gewachsen zu sein,
- Unfähigkeit an die Veränderbarkeit durch eigenes Handeln zu glauben,
- kein Gefühl für Nähe und Distanz,
- hohe Verführbarkeit.
In Familien, in denen Eltern vernachlässigen, übernimmt meist das älteste Kind die Versorger-Rolle und versucht die jüngeren Geschwister – oft auch die Mutter - und sich über Wasser zu halten. Dieses Kind verliert sein eigenes Kindsein und fühlt sich verantwortlich für seine Familie.
Häufig ist Vernachlässigung auch mit vielen Trennungen verbunden. Wenn die Mutter den Alltag mit dem Kind nicht geregelt bekommt, wird das Kind innerhalb der Familie „weitergereicht“.
Oma, Tanten, Freunde versorgen es eine Weile, bis dies letztendlich auch nicht mehr so weitergeht und das Jugendamt sich des Kindes annehmen muss.
Aus der Sicht und dem (mangelnden) Zeitverständnis des jungen Kindes können in solchen mehrwöchigen oder monatelangen Aufenthalten jedoch schon Bindungen entstanden sein, so dass das Kind beim Wechsel in die nächste Unterbringung durchaus das Gefühl des Verlassenwerdens erlebt und den Verlust einer bedeutsamen Person erleidet.
Gewalterfahrungen und Misshandlungen
Kinder von misshandelnden Eltern verstehen nicht, was ihnen da passiert und werden überwältig von der Macht des Misshandlers. Einerseits erleben die Kinder die Eltern als versorgende und verständige Eltern und dann – für das Kind nicht nachvollziehbar – werden die gleichen Eltern zu prügelnden und hassenden Eltern. Später tut dies Verhalten den Eltern oft leid und sie wollen ihre Kinder durch Geschenke wieder „versöhnen“.
Die Kinder erleben so zwiespältige Botschaften der Eltern und nehmen die Schuld für die Misshandlung auf sich, versuchen das Geschehene mit ihrer eigenen Schlechtigkeit und Boshaftigkeit zu erklären. Sie „identifizieren sich mit dem Aggressor“. (Nienstedt/ Westermann)
Die Uneinschätzbarkeit der Eltern bewirkt, dass die Kinder sehr verunsichert sind. Sie schwanken zwischen Überanpassung, Ausflippen und selbst gewalttätig werden. Die immer wieder interpretierte „enge“ Bindung des Kindes an seine misshandelnden Eltern ist die Bindung eines ambivalenten, überwältigten, ausgelieferten Menschen an seinen Überwältiger – sie ist eine Angstbindung.
Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass nicht nur das eigene Misshandeltwerden, sondern auch das hilflose Miterleben von Gewalt gegenüber einem geliebten Menschen – z.B. der Mutter oder Geschwistern – traumatisierend für die Kinder ist.
Sexueller Missbrauch
Kinder, die sexuellen Missbrauch besonders durch vertraute Erwachsene erlebt haben, fühlen sich verwirrt und verraten. Das, was sie erfahren, ist diffus, grenzüberschreitend, unabänderlich. Wenn Kinder Beachtung und Wichtigkeit nur oder überwiegend über sexuellen Missbrauch erfahren, verbindet sich in ihrem Kopf Liebe und Zuneigung mit sexuellen Handlungen und nur damit. Sexuell missbrauchte Kinder fühlen sich und ihren Körper ausgeliefert. Andere bestimmen und benutzen diesen Körper – nicht sie selbst.
Deswegen haben sie häufig Probleme, ihren Körper angemessen wahrzunehmen. Auch ihre Körperempfindungen sind gestört.
Sexueller Missbrauch ist mit einem ungeheuren Geheimnisdruck verbunden. Das Kind darf mit niemanden über seine Erfahrungen sprechen. Dieses Redeverbot wird mit massivster Bedrohung verbunden für den Fall, das es nicht eingehalten wird. So kann das Kind sich keinem anvertrauen. Wenn es doch den Mut dazu aufbringt, erlebt es nicht selten, dass es nicht verstanden oder ihm nicht geglaubt wird.
Häufig hält das Kind den sexuellen Missbrauch auch für normales Elternverhalten. Es kennt und weiß es nicht anders. Jüngeren Kindern fehlen auch die Worte, das Erlebte zu benennen.
Kinder können durch sexuellen Missbrauch dazu gebracht werden, sich hochgradig sexualisiert zu verhalten. So wie sie selbst behandelt worden sind, ohne Achtung ihrer eigenen Grenzen und ihrer eigenen Würde, behandeln sie auch die Menschen, denen sie sich nähern wollen.
Traumatische Erfahrungen
Das Pflegekind ist überwiegend ein Kind mit Erfahrungen von Vernachlässigung, Gewalt und Missbrauch.
Das Kind zeigt uns durch das, wie es fühlt oder eben nicht fühlt, wie es reagiert oder eben nicht reagiert, was das Leben bisher mit ihm gemacht hat. Es zeigt uns durch sein Verhalten, ob es leben oder nur existieren konnte.
Eine große Anzahl der Pflegekinder haben ihre bisherigen Lebenserfahrungen nicht bewältigen können. Sie wurden durch diese Lebenserfahrungen traumatisiert.
Welche Erlebnisse können ein Trauma verursachen?
Susanne Lambeck schreibt im Moses-Online-Themenheft Pflegekind und Trauma im Abschnitt „ Nur schwere Kindheit oder traumatisiert?“:
„Ein seelisches Trauma wird durch Ereignisse verursacht, die plötzlich, intensiv, gewalttätig und unkontrollierbar auf einen Menschen einwirken.
Hierbei kann es sowohl ein zuviel an Reizen: ein Unfall, das Miterleben eines Unfalls, große Schmerzen und Angst vor dem Tod, das Erleben von Gewalt am eigenen Körper, aber auch das hilflose Mitansehen müssen von Gewalt gegenüber einem anderen, das Hören von Schmerzens- oder Hilferufen und man kann selbst nichts tun, die völlige Unvorhersehbarkeit eines Tagesablaufes als auch ein zuwenig an für die Entwicklung notwendigen Reizen z.B. - Mangel an Nahrung und Zuwendung (wie bei schwerer Vernachlässigung üblich) traumatisierend wirken.
Je jünger ein Mensch ist, desto weniger Möglichkeiten hat er, das, was anlässlich einer Bedrohung oder Vernachlässigung mit ihm passiert, zu kompensieren. Kinder erleben Situationen als lebensbedrohlich, die für Erwachsene harmlos scheinen.
Allein, hungrig und weinend in einem leeren Zimmer, niemand kümmert sich, niemand versteht, niemand hält es für wichtig zu trösten.
Ein Trauma ist ein Ereignis, das unser Gefühl des Wohlbehagens und der Sicherheit zerstört.
Kinder sind verwundbarer als Erwachsene, da sie weniger Bewältigungsmechanismen und Lebenserfahrung besitzen. - Für einen Säugling sind Stunden ohne Nahrung und Trost die Ewigkeit. Ein Kindergartenkind dagegen weiß, was es heißt: nach dem Mittagsschlaf gibt es Essen.
Nicht die Situation an sich ist es, die traumatisierend wirkt, sondern ob die Situation die psychischen Verarbeitungsmöglichkeiten eines Menschen übersteigt. Der Grad der Beeinträchtigung nach einem Trauma wird vom Umfang traumatischer Vorerfahrungen und der unmittelbaren Reaktion der Bezugspersonen mitbestimmt.
Das Überleben eines Traumas führt sowohl zu hirnorganischen (Gehirnstrukturen) als auch zu psychologischen Veränderungen (Überzeugungen, Erwartungen, spezifischen Erinnerungen) beim betroffenen Kind.
Nach einem Trauma ist die Welt kein sicherer Ort mehr, an dem Menschen die Grenzen eines anderen respektieren, für ihn sorgen und ihn vor Verletzungen und Einsamkeit schützen. Die traumatische Situation vermittelt dem Kind falsche und destruktive Überzeugungen über sich selbst und die Welt.“
Um das Pflegekind verstehen zu können, ist es wesentlich, die Lebensgeschichte dieses Kindes aus seiner Perspektive nachvollziehen zu wollen und zu können. Zu spüren, was dieses Kind mitgemacht hat, zu verstehen, dass seine Erfahrungen es anders prägten als optimal groß gewordene Kinder.
Kinder sind Spiegel der Erwachsenen.
Vermittle ich ihnen meine Sorge, meine Liebe, mein Verständnis, vermittle ich ihnen, dass sie mir viel wert sind, dann fühlen auch sie sich wertvoll, haben Zuversicht und Vertrauen. Vermittle ich ihnen jedoch, dass sie mir wenig bedeuten, kriege ich es nicht geregelt, ihre Grundbedürfnisse zu erkennen und zu befriedigen, behandele ich sie achtlos und unwürdig, dann empfinden sie sich auch so. Dann haben sie kein Vertrauen, oft jedoch Misstrauen Erwachsenen gegenüber. Sie sind vorsichtig, und müssen alles unter Kontrolle haben um nicht überrumpelt zu werden. Sie trauen Erwachsenen nicht, glauben ihnen nicht, nehmen nichts an von ihnen.
Für Kinder, die Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch erlebt haben gilt eines ganz besonders: die körperlichen Verletzungen sind zwar schlimm, aber sie sind nicht die entscheidenden Verletzungen – bedeutsam sind die psychischen Folgen dieser Erfahrungen besonders die Enttäuschung des Vertrauens und die sich daraus ergebenden Folgen für die Beziehungsfähigkeit.
Diese emotionalen Defizite wirken sich wesentlich gravierender in der Pflegefamilie aus als die eigentlichen körperlichen Schädigungen.
von:
DJI-Online: Pflegekinder und ihre Familien: Chancen, Risiken, Nebenwirkungen