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18.02.2019
Fachartikel

Besuchskontakte im Kontext von Bindungstheorie und Traumaforschung

Bei der Entscheidung, ob Kontakt zwischen den leiblichen Eltern und ihren Kindern auch nach der Herausnahme bestehen soll, befinden sich Entscheidungsträger und Hilfeplanung - neben den rechtlichen Aspekten - im Spannungsfeld unterschiedlicher Bedürfnisse: den Bedürfnissen und Wünschen auf Elternseite und den Bedürfnissen und Notwendigkeiten auf Seiten des Kindes. Vortrag im Rahmen des Fachtages Pflegekinderhilfe 2015: Besuchskontakte Risiko oder Chance? im SPFZ HH/ 30.11.2015

Als ich angefragt wurde, ob ich auf diesem Fachtag etwas zum Thema „Besuchskontakte“ im Pflegekinderkontext sagen könnte, habe ich zunächst gefragt ob ein kritischer und parteilicher Blick aus der Perspektive des Kindeswohls gefragt ist – sonst hätte ich den Vortrag absagen müssen. Sie gaben mir grünes Licht, das Thema im Kontext von Trauma und Bindung zu beleuchten, aus dem sich natürlich auch ein skeptischer und kritischer Blick ergibt. Das Thema ist selbstverständlich ein klassisches Dilemma-Thema. So wird mein Vortrag auch keine Lösung enthalten können. Vielleicht kann er jedoch zu einer Sichtweise anregen, die zur Auseinandersetzung und Reflektion der bestehenden Praxis einlädt.

Was mir im Vorwege jedoch wichtig ist zu sagen: diese kritische Perspektive, die ich versuchen werde darzulegen, enthält keinerlei feindselige Haltungen gegenüber den leiblichen Eltern der Kinder. Es geht mir in meinen Darstellungen an keiner Stelle darum Eltern schuldig zu sprechen, abzustrafen und mit Konsequenzen ihres Handelns zu belegen. Ich gehe davon aus, dass in den allermeisten Fällen die Trennung zum eigenen Kind als tief schmerzhaft erlebt wird und auch für die elterliche Biografie ein großer belastender Einschnitt ist – unabhängig von der Notwendigkeit dieser Maßnahme.

Ich gehe davon aus, dass das Fehlverhalten der Eltern gegenüber ihren Kindern kein „bösartiger Akt“ ist, sondern meist aus tiefen eigenen biografischen Verletzungen heraus entsteht. Wir wissen aus der Trauma- und Bindungsforschung ja, wie Trauma und Bindung im Sinne transgenerativer Übertragungen in die nächste Generation hinwirkt.

Genau aber an dieser Stelle braucht es unsere große Achtsamkeit und eben auch den Schutz der jeweils nächsten Generation, damit die Weitergabe von „traumatischem Material“ unterbrochen wird.

Bei der Entscheidung nun, ob Kontakt zwischen den leiblichen Eltern und ihren Kindern auch nach der Herausnahme bestehen soll, befinden sich Entscheidungsträger und Hilfeplanung - - neben den rechtlichen Aspekten - im Spannungsfeld unterschiedlicher Bedürfnisse: den Bedürfnissen und Wünschen auf Elternseite und den Bedürfnissen und Notwendigkeiten auf Seiten des Kindes. Es ist klar, dass in diesem Dilemma Zumutungen eine Rolle spielen. Aus meiner Perspektive jedoch ist eine gerechte Verteilung der Zumutungen dann gegeben, wenn die größere Portion der Zumutungen auf die Erwachsenen verteilt wird und Kindern – als schwächstem und ungelegenstem Glied in der Kette – vor allem ein Anspruch auf „Heilung“ und „stabile Entwicklung“ zugestanden und eingeräumt wird.
Unabhängig davon, dass auch Eltern gute Begleitung in ihrem Trennungsschmerz haben sollten, sollte die Frage ob ein Besuchskontakt zumutbar ist, sich primär diesen Fragen widmen: Ist sichergestellt, dass ein Besuchskontakt dem Kind vor dem Hintergrund seines Entwicklungsstandes, seiner individuellen Geschichte etc. zumutbar ist. Was bedeutet ein Besuchskontakt in Hinsicht auf die Gewährleistung der „seelischen Unversehrtheit“ eines Kindes?

Diesen Fragen möchte ich mich gerne in der kommenden knappen ¾ Stunde widmen. Ich konzentriere mich dabei vor allem auf diejenigen Kinder – die den überwiegenden Teil der Pflegekinder ausmachen – die deshalb in Pflegefamilien gekommen sind, weil sie nach Erfahrungen von körperlicher, sexueller oder emotionaler häuslicher Gewalt bzw. gravierenden Vernachlässigungen, aus den Ursprungsfamilien herausgenommen wurden. Kinder also, bei denen wir sicher davon ausgehen können, dass sie in hohem Maße dem Potential von Traumatisierung ausgesetzt waren.

Da ich das Thema des Kontaktes zwischen Eltern und ihren Kindern nach Herausnahme, aus der Perspektive von Trauma und Bindung beleuchten möchte, vorab ein paar Worte, wie ich diese Begriffe definiere, bzw. wovon ich in meinen weiteren Betrachtungen ausgehe.

Unter Bedingungen, die das Potential haben, Traumatisierungsfolgen auszulösen, verstehen wir Ereignisse und Lebenssituationen, die als lebensbedrohlich, bzw. hochgradig ängstigend und auswegslos erlebt werden. Der Mensch fühlt sich dem Geschehen gegenüber in absoluter Hilflosigkeit, vollständiger Ohnmacht und totaler Schutzlosigkeit. In dieser Lebenslage wird die eigene Fähigkeit die Situation einzuordnen insoweit außer Kraft gesetzt, dass das Erlebte unverarbeitet im Vorhof des Gedächtnisses bleibt und somit auf psychischer und physischer Ebene jederzeit aktiviert werden kann.
Gleichfalls erlebt der Mensch sich in seiner Handlungsfähigkeit vollständig blockiert. Ein Trauma ist somit immer größer, als die eigenen Bewältigungsmöglichkeiten reichen.

Diese Tatsache fordert die Stresssysteme des Menschen in einem Maße heraus, dass der Organismus unwillkürlich vom Normalmodus in seinen Verteidigungsmodus – der für das psychische und physische Überleben eines Menschen zuständig ist - umschaltet. Die hierfür notwendige Veränderung der inneren Struktur und Organisation des Organismus ist so massiv, dass es „in Folge dieser Störung zu nachhaltigen Veränderungen der neuronalen Verschaltungen und der von diesen Verschaltungen gesteuerten Leistungen im Gehirn kommt“ (G.Hüther). Ein Trauma nistet sich also langfristig in die neuronale Struktur eines Menschen ein und ist somit nicht ausschließlich „psychischer“, sondern organischer Natur. Der amerikanische Diagnose-Begriff für unsere „Posttraumatische Belastungsstörung“ lautet: „Posttraumatic- Stress-Disorder“. Sie trifft damit den Kern der Problematik besonders gut. Die Stressysteme traumatisierter Menschen sind langfristig so verändert, dass es häufig bereits durch kleinste Alltagsbelastungen zu unwillkürlichen Stressreaktionen kommt, die den Menschen – ähnlich wie in der traumatischen Ausgangssituation - immer wieder die Kontrolle über seinen Körper und sein Verhalten verlieren lässt. Dabei führt jede neue Aktivierung der Stresssysteme in dieser Weise zu einer weiteren Ausprägung und Vertiefung der Störungsstruktur.

Bekanntermaßen haben all diejenigen Ereignisse, die in früher Kindheit stattfinden, sowie diejenigen Situationen, in denen das Trauma durch Menschen ausgelöst wird, das größte Traumatisierungspotential. „Men-made-Traumata“ sind für den Menschen deutlich schwerer zu überwinden, als bspw. Naturkatstrophen. Dieses hängt damit zusammen, dass das Bindungssystem des Menschen, als Gegenspieler zum Stresssystem angelegt ist. Der Mensch ist gerade ist Notsituationen als „Mitmensch“ gebraucht. Wird dieser „Mitmensch“ aber zum „Gegenmenschen“ befindet sich der Mensch in einem unlösbaren Paradoxum.
Besondere Brisanz haben dabei natürlich diejenigen „Men-made-Traumata“, die von denjenigen Menschen ausgehen, die eigentlich für den Schutz und die Sicherheit bspw. eines Kindes zuständig sind - den sogenannten Bindungspersonen.

Hier entstehen vor dem Hintergrund fundamentaler Abhängigkeiten im Traumatisierungsprozess, die sogenannten Bindungstraumatisierungen und Bindungsstörungen. Mit Ihnen entfällt der wichtigste Schutz und Stabilisierungsfaktor, die Entwicklung einer sicheren Bindung, von der wir heute wissen, dass sie die Basis der Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen bildet.

Ein Großteil aller Kinder, die heute in Pflegeverhältnissen aufgenommen werden, ist von dieser Form der Traumatisierungen und Bindungsstörungen betroffen. Sie werden auch als komplexe Entwicklungstraumata bezeichnet, da dass das Fundament der Entwicklung einer stabilen Persönlichkeit nicht gelegt werden konnte, bzw. so brüchig ist, dass das Kind gegenüber jeden weiteren Entwicklungsanforderungen geschwächt ist, diese nicht bewältigen kann, in seiner allgemeinen Entwicklung somit zurück bleibt, bzw. massive Verhaltensauffälligkeiten zeigt, die als Überforderung und Stressreaktionen gewertet werden können.
Die fundamentale Störung also, die unter Bedingungen von gewaltvollen und/oder vernachlässigenden Atmosphären entsteht, gefährdet somit den gesamten weiteren Entwicklungsverlauf.
Die Herausnahme eines Kindes soll normalerweise diese Gefährdung unterbrechen und für Sicherheit sorgen. Dabei wird meines Erachtens nach Sicherheit allzu oft vor allem im Kontext von „faktischer Sicherheit“ betrachtet und die Bedeutung des Aspektes von „emotionaler Sicherheit“ nicht hinreichend berücksichtigt.
Faktische Sicherheit bedeutet, dass zunächst erst einmal sichergestellt ist, dass ein Kind den „toxisch wirkenden Raum“ verlässt und in möglichst „sichere Umgebung“ gebracht wird. Aus der Forschung zur Psychotraumatologie ist hinlänglich bekannt, dass eine Trennung von pathologisierenden Erfahrungen notwendig ist, um Heilung überhaupt zu ermöglichen. Klassische Traumatherapien werden von einem Großteil aller TraumatherapeutInnen z.B. erst begonnen, wenn kein „Täterkontakt“ mehr besteht.

Das Erstaunliche ist, dass dieses Wissen in Bezug auf Erwachsene eindeutig ausgelegt und angewendet wird. Niemals würden wir jemandem der von seinem Partner körperlich oder seelisch verletzt oder gequält wurde empfehlen, sich mit diesem regelmäßig zu treffen.
Im Gegenteil: bei misshandelten Frauen z.B. die wieder Kontakt zum Täter aufsuchen, wird ihnen dieses eher als „pathologische Abhängigkeit“ ausgelegt. In diesem Zusammenhang scheinen wir sicher zu sein, dass für einen Neubeginn, für Stabilisierung und Weiterentwicklung eine radikale Trennung zum „traumatisierenden Kontext“ hergestellt werden muss.

Was hindert uns eigentlich bei Kindern – unabhängig von dem Dilemma der Rechtsprechung – diesen Blick ebenso anzuwenden? Die Befürchtung liegt nahe, dass trotz aller Widersprüche, die sich aus Forschungsergebnissen ergeben, nach wie vor den genetischen Beziehungen in Bezug auf die Bindungsentwicklung eine überhöhte Bedeutung zugestanden wird – bzw. dass das moralisch stark ausgeprägte, glorifizierte Bild von Familie hier manchmal den Blick vernebelt. Dass das Motto: „Lieber schlechte Eltern – als keine Eltern“, auch 2015 noch von Bedeutung ist.

Selbstverständlich können wir es als großes Glück für einen Menschen bezeichnen, wenn die primären Bindungen zu den eigenen Eltern gelingen – gleichfalls ist Bindung nicht abhängig von Abstammung. Sondern die Frage einer stabilen Bindungsentwicklung, als Fundament unseres Werdens, beantwortet sich im Kontext einer gelingenden Interaktion, in der die Bedürfnisse eines Kindes wahrgenommen und angemessen beantwortet werden. Dieses wurde hinlänglich in verschiedenen Studien im Kontext von Resilienz-, Trauma- und Bindungsforschung belegt. Der Nährboden unserer kognitiven, emotionalen und sozialen Reife, liegt nicht in unseren genetischen Wurzeln, sondern in feinfühliger Interaktion zwischen einem Kind und einer Bezugusperson, die diese Gestalten kann, begründet.
Das Menschen grundsätzlich wissen möchten von wem sie abstammen und hier ein Recht auf Auskunft haben, bezieht sich zunächst auf unser biografisches Bedürfnis nach Selbstverstehen und entspringt nicht einem „genetischen Bindungsbedürfnis“.

Im Kontext der Herausnahme eines Kindes sollte das zentrale Ziel aller Entscheidungsträger und an der Hilfeplanung beteiligten Personen sein, die „stabile Bindungsentwicklung“ eines Kindes zu gewährleisten, da ohne sie die Voraussetzungen für heilsame Entwicklungen nicht gegeben sind.
Fast alle Kinder in Pflegefamilien, mit unsicheren Bindungen und Bindungsstörungen, die im Kontext von traumatisierenden Bedingungen entstanden sind, haben prognostisch ein hohes Risiko für jede Art von Entwicklungsstörungen und psychischen Erkrankungen.
Pflegeeltern, die gut begleitet sind um angemessen auf die schwierigen Bindungsverhaltensweisen der Kinder zu reagieren, bergen jedoch eine große Chance, dass das Kind im Rahmen kompensatorischer Bindungserfahrungen – wie sie vielfach in der Resilienzforschung beschrieben werden – heilsame und förderliche Erfahrungen machen kann.

Alte Muster, die sich im Kind ausgeprägt haben, können durch neue Erfahrungsmuster erweitert, ergänzt und überformt werden. Aus der Neurobiologie wissen wir ja, dass Erfahrungen sich in neuronalen Netzwerken in uns ablegen. Diejenigen Erfahrungen, die mit starken Gefühlen (positiven wie negativen) verbunden sind und diejenigen, die sich oft wiederholen, werden zu den Protagonisten unseres Denken, Fühlens und Handels.
Wollen wir, dass Kinder eine Entwicklungschance haben, brauchen sie stabile neue Erfahrungen. Diese sind jedoch nur möglich, wenn alte emotionale Erlebnisse und Zustände nicht mehr aktiviert werden. Wenn eine Wunde immer wieder aufgerissen wird oder Salz hineingestreut wird, dann kann sie nicht heilen und es bleibt die Fixierung auf die Verletzung und den Schmerz.

Karl Heinz Brisch – Deutschlands bekanntester Bindungsforschung und Kinder-/Jugendpsychiater sagt dazu: „Die Bindungsentwicklung zwischen Kind und Pflegeeltern wird durch Umgang und Besuchskontakte mit leiblichen Eltern nach traumatischen Erfahrungen gestört, weil sie beim Kind Angst erzeugen und die pathologischen Bindungsmuster und Störungen jedes Mal aufs Neue aktivieren und damit festigen.“

Es kommt in einem Großteil der Fälle im Kontext von Besuchskontakten zu Re-traumatischen Prozessen, da durch den Kontakt alte Erfahrungen wieder in die Erinnerung des Kindes zurückgeholt werden. Re-traumatische Prozesse werden durch Schlüsselreize, die Assoziationen zu altem Erleben auslösen aktiviert. Die Kollegin Hildegard Niestroi, die sich intensiv mit der Entwicklung von Pflegekindern auseinander gesetzt hatm formuliert es so: „Konfrontationen mit der früheren Umwelt führen dabei nach allem, was wir heute aus der Traumaforschung wissen, immer wieder von neuem zu unerträglichen Stresssituationen mit Angstüberschwemmungen, so dass das Kind nicht zur Ruhe kommen kann und die Narben seelischer Verletzung immer wieder aufbrechen“ (Niestroj, 2009,140)
Auch ein begleiteter Umgang schafft hier keinerlei Linderung, weil eine im Rahmen des Umgangsrecht bestellte Begleiterin für das Kind keine emotionale Sicherheit bietet, da sie keine Bindungsperson ist, an die das Kind sich in innerer Not wenden würde. Somit ist niemand da, der das aktivierte Stresssystem des Kindes beruhigen und die Wucht der inneren Belastung lindern kann.

Das Kind befindet sich nun zwar in „faktischer Sicherheit“: niemand kann ihm erneut etwas tun, weil ja jemand aufpasst. Das Kind befindet sich aber keineswegs in „emotionaler Sicherheit“. In Gehirn und Körper des Kindes wird ein altes Erleben aktiviert und somit besteht in der Wahrnehmung und Verarbeitungsstruktur des Gehirns, die Überzeugung, dass die Gefahr noch nicht vorbei ist. Das „Dort – und damals“ – erhält im „Hier-und Jetzt“ wieder Relevanz. Sie erinnern sich: traumatisches Erleben ist unverarbeitet und bleibt somit in der Gegenwart aktiv.

Diese Tatsache ist unabhängig davon, dass viele Kinder von sich aus oder auf Befragung hin den Wunsch äußern ihre Eltern zu sehen oder gar zu ihnen zurückzukehren. Kinder können die emotionalen Folgen, psychischer Belastungen und Auswirkungen eines solchen Kontaktes nicht in Gänze einschätzen und überblicken.
Zudem sind es nur wenige Kinder, die überhaupt in der Lage sind, verbal zu äußern, dass sie keinen Besuch wünschen. Lehnt ein Kind aber tatsächlich von sich aus den Kontakt ab, wird dieses skurriler Weise, selten als adäquate und gesunde Schutzfunktion des Kindes betrachtet, sondern allzu oft wird diese Ablehnung interpretiert als negative Beeinflussung, die nicht dem eigentlichen Kinderwillen entspricht. Merkwürdigerweise wird immer davon ausgegangen, dass ein Kind in jedem Falle den Kontakt zu seinen Eltern wünscht – ganz gleich, was es mit diesen erlebt hat.

Insbesondere wenn Kinder sich weigern einen gewaltbereiten Elternteil zu sehen, der laut Anamnese die Gewalt „nur“ gegen das andere Elternteil gewendet hat, wird gerne unterstellt, dass sie jemand aufgehetzt habe, dass es sich lediglich loyal zum anderen Elternteil verhält u.ä..
Außer Acht gelassen wird dabei, dass wir im Kontext von Traumaforschung sehr genau wissen, dass Zeugenschaften ein extrem hohes Traumatisierungspotential haben, da durch Mitgefühl mit dem Opfer, die traumatisierende Situation so erlebt wird, als würde sie einem selbst zugefügt. Es entwickelt sich –neben großen Schuldgefühlen, einer geliebten Person (dem Opfer) nicht helfen zu können – das Gefühl tiefer Schutzlosigkeit und vor allem große Angst vor dem Täter. Da braucht es keine Beeinflussung mehr von außen. Wir müssten nur Lernen, die Kinder in ihren eigenen Erfahrungen ernster zu nehmen und nicht zu glauben, sowas ginge spurlos an ihnen vorüber.

Alternativ wird die kindliche Verweigerung eines Besuchskontaktes oft den Pflegefamilien angelastet, denen egozentrische Motive unterstellt werden, dass sie lediglich das Kind für sich wollten und Konkurrenz zu den leiblichen Eltern fürchteten. Dass dieser Aspekt in irgendwelchen Einzelfällen einmal eine Rolle spielen mag, will ich nicht ausschließen.

Überwiegend jedoch kann wohl davon ausgegangen werden, dass Pflegeeltern lediglich diejenigen sind, die die Symptomsprache des Kindes am deutlichsten „zu spüren“ bekommen und entsprechend miterleben, dass der Besuchskontakt das Kind jedes Mal um Meilen zurückwirft und die Alltagsstabilität im Hinblick auf das familiäre Zusammenleben, aber auch in Bezug auf die Entwicklung des Kindes (Leistungsfähigkeit, Sozialkontakte etc.) erschüttert. Pflegeeltern diesbezüglich egoistische Motive zu unterstellen, verstellt den Blick aufs Kind und macht es zum Objekt erwachsenen Wirklichkeitskonstruktionen.
Die wenigsten Kinder jedoch bitten überhaupt von sich aus um Abstand zu ihren leiblichen Eltern. Im Gegenteil. K.H.Brisch sagt dazu: „Selbst, wenn Kinder wegen traumatischen Erfahrungen durch Bindungspersonen von diesen getrennt werden (…) kann man beobachten, dass diese Kinder durchaus sich wünschen weiterhin mit der Bindungsperson, die Ihnen Leid zugefügt hat, Kontakt zu haben. (…) Dies veranlasst oft Richter dazu zu vermuten, dass die Traumatisierung nicht so schwerwiegend gewesen sein könnte, oder sogar nicht stattgefunden hat.“ Diese Annahme ist aus der Perspektive von Psychotraumatologie verkehrt. Die Tatsache, dass Kinder trotz traumatisierenden Erfahrungen an ihre Bindungspersonen gebunden bleiben, entspringt einem pathologischen Bindungsverhalten, dass unter traumatisierenden Bedingungen für das Kind notwendig ist. Um sein emotionales Überleben zu sichern, binden sich Opfer eng an ihre Täter, spalten alle negativen Gefühle (Wut, Hass etc.) aus ihrem Bewusstsein ab, nehmen die Schuld für das Geschehen auf sich selbst und stellen Täterloyalität her. Dieses Phänomen ist zum Bsp. landläufig auch im Kontext von Entführungen sogar bei Erwachsenen als sog. „Stockholm-Syndrom“ bekannt, bei dem entführte Menschen nahe Bindungen zu ihren Entführern eingegangen sind und auch im Nachhinein sich schützend vor diese stellten und Kontakt zu ihnen wünschten. Diese Art von Verhalten kann als typisches Traumafolgesymptom angesehen werden.

Allein dieser Aspekt kann das „neue Bindungspflänzchen“, das im Kontext der Pflegefamilien vielleicht gerade dabei ist zu entstehen, massiv gefährden. Das Kind gerät möglicherweise auf der Bewusstseinsebene in eine Glorifizierung seines Elternteils – überflutet von alten Bindungssehnsüchten und Loyalitätsnotwendigkeiten. Gerade wenn in irgendeiner Weise noch Rückkehroptionen im Raum stehen, muss das Kind – zur eigenen Sicherheit – sich dem leibl. Elternteil gegenüber loyaler verhalten, als seinen Pflegeeltern gegenüber. Es gerät möglicherweise in einen massiven Spannungskonflikt, den es mit alten Bewältigungsmustern von Abspaltung und Anpassung lösen muss.

Ebenso gehört zu den klassischen Traumaphänomenen, dass Opfer in höchster Not „Unterwerfungsverhalten“ herstellen. Dieses äußert sich in überangepasstem Verhalten, mitmachen und funktionieren.

Im Kontext von Besuchskontakten kann man dieses Verhalten bei Kindern oft beobachten. Dorothea Weinberg und Alexander Korittko – zwei bekannte Traumaexperten – bezeichnen dieses Phänomen, das auftritt, wenn Kinder im Kontakt mit Eltern, die sie als traumatisierend erlebt haben, scheinbar völlig symptomfrei, zugewandt, freundlich und unbelastet wirken, als „instinktive Täuschung“. Es kann als unwillkürlicher Überlebensmechanismus bezeichnet werden, der einsetzt, wenn Kinder in der Paradoxie ihrer Bindungsbedürfnisse und gleichzeitigem Bedrohnungserleben gefangen waren. Das Kind lernt nun alles dafür zu tun den Täter „milde zu stimmen“, ihn nicht „gegen sich aufzubringen“ und seine Zuwendung durch „lieb sein“ zu erwirken. Äußerlich ruhig, sind die Stresssysteme des Kindes innerlich auf maximaler Alarmstufe.
Auch wenn das Thema der Kontakte zu Herkunftseltern immer im Spannungsfeld zwischen Elternrecht und dem Anspruch der Berücksichtigung des Kindeswunsches steht, so meine ich, dass an dieser Stelle das Kind nicht entscheiden kann und darf, da es um die Einschätzung seiner Sicherheit geht.
Das Kind in diesem Kontext ernst zu nehmen und zu schützen heißt auch, ihm die Verantwortung abzunehmen proaktiv an dieser Stelle selbst entscheiden zu müssen. Die Bürde der Verantwortung ist deutlich zu hoch.

Kinder zu hören heißt vor allem auch auf ihre „Symptomsprache“ zu hören und diese ist meist sehr deutlich. KollegInnen aus stationären Einrichtungen und Pflegeeltern können ein Lied davon singen, wie rund um den Besuchskontakt massive Symptomatiken bei den Kindern aufbrechen: Psychosomtische Beschwerden wie Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Übergeben….Zwangsverhalten wie Waschzwänge, stundenlanges Onanieren, tagelange Wut-und Schreianfälle, völliger Rückzug und Abwesenheitszustände etc….sind nur eine kleine Sammlung der Symptome, mit denen ich seit Jahren in Supervisionen konfrontiert werde, wenn diejenigen die für die „sicheren Orte“ der Kinder zuständig sind, verzweifelt beschreiben, dass die miteinander manchmal hart errungene Beruhigung und Stabilisierung der emotionalen Situation des Kindes, durch regelmäßigen Elternkontakt immer wieder in sich zusammenbricht und Pädagoginnen und Pflegeeltern im Angesicht des Schmerzes des Kindes, dieses zwar begleiten, aber nicht davor bewahren können.

Wenn die Herausnahme eines Kindes mehr sein soll, als eine vorrübergehende Unterbringung außerhalb des „traumatisierendes Gebietes“, wenn sie also wirklich dazu dienen soll, dass die kindliche Seele sich erholen soll, dass Heilung stattfinden kann, dass von neuen Erfahrung profitiert werden kann….Wenn ihr Ziel ist, dem Kind eine Chance zu geben, dass trotz risikoreicher Ausgangslage in seinem Leben stabile Entwicklung möglich wird, dann darf es bei den Entscheidungen bzgl. Umgangs- und Rückführungsfragen nicht ausschließlich um situative faktische Sicherheit und die Gewährleistung des Elternrechtes gehen. Dann muss sich sowohl das juristische wie auch das sozialpädagogische System deutlicher am Kind orientieren und Kindeswohl darf kein Spielplatz für Machtfragen, rechtliche Spitzfindigkeiten und moralische Einstellungen werden.
Für stabile Entwicklungen muss ein Kind sicher sein, dass es langfristig in Sicherheit bleiben kann und darf nicht unter dem emotionalen Damoklesschwert von Rückführung und Kontakt stehen. Kontakt und Rückführungsoptionen müssen einer strengen „Sicherheitsprüfung“ unterliegen, um langfristigen Schaden von dem Kind abzuwenden. Je länger eine PTBS und eine Bindungsstörung aufrechterhalten werden, desto schlechter sind seine späteren Prognosen.

Jede Besuchsregelung und jede Rückkehroption müsste m.E. nach also folgende Fragestellungen mit klarem „Ja“ beantworten können, um das Kindeswohl zu sichern. Sicherheitsfragen beim Kind: Fühlt sich das Kind bei seinen leibl. Bezugspersonen (bereits) in ausreichender emotionaler Sicherheit?

Sind Re-Traumatisierungen und starke Affektbelastungen ausgeschlossen? Reagiert das Kind „symptomfrei“ vor, während und nach dem Kontakt? Entspricht Kontakt/Rückführung dem Wunsch des Kindes und kann dieser als pathologische Reaktion ausgeschlossen werden? Ist jemand da, der „sicherer Hafen“ für das Kind ist und so ggf. in der Akutsituation (Besuch, Umgang) ggf. Stress beim Kind regulieren kann? (Dieses sind niemals professionelle Umgangsbegleiter, sondern müssten ggf. Personen aus der Kategorie der gegewärtig primären Bindungspersonen des Kindes sein).

Ebenso braucht es erkennbare Veränderungen bei den Eltern, sowie Begleitung von Eltern und Kindern durch gemeinsame offene Gespräche darüber, was vorgefallen ist, was es für das Kind bedeutet hat, wie es dem Kind entsprechend heute geht und was jetzt passieren wird und was nicht. Ein Kontakt, der einfach stattfindet, ohne Bearbeitung und Transparenz zur gemeinsamen Vorgeschichte aktiviert die alte Überwältigung und mit ihr verbundene Sprachlosigkeit. Der Kontakt hat somit keine Chance für einen Neuanfang, weil es keine klare Trennung zwischen „Hier und Jetzt“ und „Dort und Damals“ gibt.
So ist es also nicht nur notwendig auf Seiten des Kindes zu gucken, sondern auch die elterlichen Not-wendigkeiten – also ihren Beitrag die Not des Kindes zu wenden – mit einzubeziehen, damit echte Sicherheit hergestellt werden kann.

Dieses wären die Fragen dazu Sicherheitsfragen (Indikator Eltern) Gibt es deutliche Bekenntnisse/Erkenntnisse zum eigenen „Fehlverhalten“ und kann die Perspektive des Kindes wahrgenommen werden? Wurde eine intensive Behandlung zur Bearbeitung eigener negativ wirkender Muster (Täterverhalten) durchgeführt? Kann ein hinreichend feinfühliges Bindungsangebot durch die leiblichen Eltern jetzt angeboten werden?
Erst wenn an diesen Aspekten mit allen beteiligten Erwachsenen gearbeitet wird und diese Punkte sich für das Kind positiv darstellen, können Umgänge, Kontakte und Rückführungsanbahnungen für das Kind langfristig sinnvoll und ohne weitere Schädigung verlaufen.

Corinna Scherwath

Dipl. Sozialpädagogin, Kinder-Jugendsozialtherapeutin, Fachberaterin für Psychotraumatologie und Traumapädagogik (zptn), freiberuflich tätig u.a. als Fachberaterin und Fortbildnerin; Autorin, Begründerin und Geschäftsführung des Pädagogisch-Therapeutischen Fachzentrums. www.paedagogisch-therapeutisches-fachzentrum.de

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