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21.05.2008
Fachartikel

18 und was jetzt?

Silvia Tinner arbeitet seit 1988 im Kinderschutz-Zentrum Dortmund. Dort gibt es einen eigenen Arbeitsbereich für Pflegeelternberatung. Die Unterstützung "junger Volljähriger" ist ein Teil dieser Beratungstätigkeit.

von Silvia Tinner, 2005

Als vor nun mehr 17 Jahren die Ärztliche Beratungsstelle gegen Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern e.V., Kinderschutz-Zentrum Dortmund, gegründet wurde, sollte damit eine Einrichtung für Kinder entstehen. Früher befand sich die Institution in einem kleinen Büro und seit 2004 in einem schönen, großen, frisch renovierten und mit viel Liebe eingerichteten Haus mit Garten, im Innenstadtbereich von Dortmund. Der eingetragene gemeinnützige Verein engagiert sich für das Wohl der Kinder in Dortmund und Umgebung.

Kinder und Jugendliche, die mit Vernachlässigung, Missbrauch oder Misshandlung in Berührung kamen, können Hilfe bekommen. Hilfe und Unterstützung bedeutet dabei nicht nur akute Krisenintervention, sondern auch Vorbeugung und Langzeitbegleitung. Diese Hilfe ist immer freiwillig, kostenlos und kann anonym sein. Jeder, der ein Kind gefährdet sieht, kann sich an uns wenden und wir versuchen, durch unser multiprofessionelles Team und unsere mittlerweile vielfältige, flexible Angebotspalette Hilfen unter einem Dach zu gewähren.

Dabei reicht das Angebot von Einzel- und Gruppentherapie bis hin zu Tanz, Musik und kreativem Ausdruck mit unterschiedlichen Materialien. Autogenes Training, Katzentherapie und Selbstverteidigungsgruppen für Mädchen und Jungen runden das Angebot ab.

Unsere Säuglingssprechstunde und Stillambulanz lassen Fragen rund um das Baby zu und wir sind sehr glücklich mit einem solchen Präventionsangebot im Rahmen der Schreibabyproblematik unser Angebot für Eltern erweitern zu können.

Da lag es nahe, im Rahmen unserer Präventionsarbeit einen eigenen Arbeitsbereich für Pflegeelternberatung anzubieten. Die Idee, die Arbeit mit diesem speziellen Beratungsangebot zu erweitern, wurde von den Pflegeeltern mit großer Nachfrage angenommen. Die bunte und vielfältige Arbeitspraxis setzt ein hohes Maß an Flexibilität im Beratungskontext voraus.

Die Palette der Beratung kann sowohl die Verlängerung der Jugendhilfemaßnahme über das 18. Lebensjahr hinaus sein als auch den veränderten Familienalltag mit Aufnahme eines Pflegekindes zu begleiten, damit schwere Beziehungskämpfe an- und besprochen werden können – immer mit der Zielsetzung, zum besseren Verstehen des Pflegekindes beizutragen.

Insbesondere bei der Beantragung der Leistungen über das 18. Lebensjahr hinaus - und bei den damit verbundenen pädagogischen Begründungen - benötigen Pflegeeltern oftmals Unterstützung. Frei nach dem Motto "die Kassen sind leer" geht häufig mit dem 18. Geburtstag ein kurzes Schreiben ein, dass das Pflegeverhältnis nun beendet sei. Sicherlich ist das der Extremfall, aber dies ist durchaus in unserer Praxis schon vorgekommen und leider kein Einzelfall mehr.

Im optimalen Fall wird vor dem 18. Lebensjahr ein ausführliches Hilfeplangespräch durchgeführt, in dem die Perspektive des Pflegekindes abgesprochen wird. Es werden zeitnahe Vereinbarungen getroffen, und es kann vom Pflegekind ein selbst formulierter Antrag auf die Weitergewährung der Hilfe fristgerecht gestellt werden. Hier werden pädagogische Gründe besprochen, warum der nun Erwachsene gegebenenfalls noch Hilfen in Anspruch nehmen sollte.

Aber was ist, wenn es nicht optimal läuft, wenn die Ersatzfamilie weiterhin Bedarf meldet und der nun gerade Volljährige noch nicht in der Lage ist, sein Leben selbständig in die Hand zu nehmen, der Leistungsträger diese Einschätzung aber nicht teilt?

Wir sind der Ansicht, dass nicht automatisch mit dem 18. Lebensjahr die Eigenverantwortung und die komplette Lebensgestaltung eigenständig übernommen werden kann. Wir sind auch der Meinung, dass besonders Pflegekinder, die auf einem guten Weg sind sich eine Lebensperspektive aufzubauen, eine Unterstützung über das 18. Lebensjahr bekommen sollten. Denn oftmals grenzt es an ein Wunder, dass wir bei diesen belastenden Biographien überhaupt von positiver Lebensentwicklung sprechen dürfen.

Wenn wir zurück zum Anfang, nämlich zur Aufnahme in die Pflegefamilie gehen, sind die Beziehungen in der Ersatzfamilie und deren Verlässlichkeit für viele Kinder eine Überlebensfrage. Daher sollte diese Verlässlichkeit, der sichere Rahmen, nicht automatisch enden – nur weil das Pflegekind 18 Jahre alt geworden ist.

Die Erfahrung zeigt: wenn Fachbereich Pflegekinderdienst und zuständiger Jugendhilfedienst mit den Pflegeeltern ein tragfähiges Netz aufgebaut haben, dann sind auch alle Beteiligten an den Bedürfnissen und Notwendigkeiten interessiert und können diese richtig einschätzen. Wenn das nicht der Fall ist, dann kommt statt Geburtstagskarte der Einstellungsbescheid.

Anhand zweier Beispiele möchte ich die zur Zeit gängige Praxis, wie wir sie erleben, nochmals verdeutlichen.

Fall A: Josef, 17 Jahre alt

Josef lebt seit seinem 3. Lebensjahr bei seinen Pflegeeltern. Er ist ein guter Schüler und besucht zur Zeit unserer Kontaktaufnahme die Oberstufe einer Gesamtschule mit dem Ziel des Abiturs. Innerhalb der Familie ist er eher still und zurückgezogen, benennt wenig seine Meinung und meidet Auseinandersetzungen.

Das Jugendamt unterstützt die Familie im Hinblick auf die Weitergewährung der Jugendhilfemaßnahme und klärt Josef frühzeitig darüber auf, dass er einen eigenen Antrag ungefähr 6 Monate vor seinem 18. Geburtstag einreichen soll. Ohne Probleme werden die Maßnahme und somit auch das Pflegegeld für allerdings erst mal 3 Monate weiter gewährt. Alle Beteiligten sind sich darüber einig, dass zum einen der angestrebte Schulabschluss und zum anderen die Abnabelung aus der Ersatzfamilie noch Zeit benötigen. Als die Familie uns um Beratung bittet, geht es um zwei Schwerpunkte:

Es wird mit unserer Unterstützung ein Schreiben formuliert woraus hervorgeht, dass eine so kurzfristige (eng befristete) Verlängerung über das 18. Lebensjahr hinaus große Unsicherheiten bei Josef hervorruft. Sicherlich wäre eine Zusicherung bis zum Schulabschluss, also für ein Jahr, empfehlenswert.

Die Abnabelung aus der Ersatzfamilie war schon eingeleitet, aber alle Personen hatten Angst und große Sorgen, die erst mal bearbeitet werden müssten. Diese zeitintensive Auseinandersetzung mit der eigenen Person, dem System der Ersatzfamilie und der Ursprungsfamilie benötigen Kraft und vor allem Zeit.

Wir konnten unsere Zielsetzungen erklärbar machen und Josef wurde verstanden und ernstgenommen, sicher eine wichtige Voraussetzung für die Hilfe gem. § 41 SGB VIII. Da die Weitergewährung sehr eng an die schulischen Erfolge gebunden war, boten wir zusätzlich zu den Familiengesprächen, Nachhilfe für Josef an.

Fall B: Maria, 18 Jahre alt

Maria war 8 Jahre alt, als sie in ihre Pflegefamilie kam. Sie hatte Kontakt zu ihrer späteren Pflegemutter, einer Ladenbesitzerin, von selbst aufgenommen. Das ist insofern erwähnenswert, da ansonsten üblicherweise das Jugendamt ein Pflegeverhältnis vermittelt.

Die Frau, selbst Mutter, beobachtete schon früh, dass das Kind schwer vernachlässigt und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch misshandelt worden ist. Dies teilte sie den zuständigen Behörden mit - und wurde schon bevor das Pflegeverhältnis begann als sehr kämpferisch und fordernd erlebt. Die Pflegemutter nahm noch vor Aufnahme von Maria Kontakt zu unserer Einrichtung auf, bat uns um Unterstützung und prangerte die Missstände an, unter denen Maria leben musste.

Später war das Verhältnis zum Pflegekinderdienst kooperativ, aber der Jugendhilfedienst wechselte häufiger die Vormundschaft, da das Verhältnis zur Pflegemutter stets ein problematisches war. So kam es dann, dass vor Eintreten der Volljährigkeit zu einem Hilfeplangespräch schriftlich eingeladen wurde. Die Pflegemutter sah für dieses Gespräch mit dem Vormund keine Notwendigkeit und nahm an dem Termin nicht teil.

Da es versäumt wurde Maria auf den Antrag zur Weitergewährung hinzuweisen, lag der Antrag nicht vor. Zwei Tage vor Marias Geburtstag wurde durch ein Schreiben mitgeteilt, dass die Zahlungen eingestellt werden. Die Gründe seien fehlende Mitarbeit und fehlende pädagogische Gründe.

Die Beratung von uns beinhaltet einmal die rechtliche Seite mit Unterstützung beim Formulieren des Widerspruchsschreiben und des persönlichen Antrags. Zum anderen muss die Perspektivklärung von Maria erfolgen, wo und wie sie leben wird.

Vorab war es wichtig, die formalen Belange und die zwischenmenschlichen Beziehungen auseinander zuhalten und anzusprechen. Die Ablehnung der beantragten Hilfe erfolgte wegen fehlender Mitwirkung in der Hilfeplanung, formal durchaus korrekt zeigt aber an diesem Beispiel die Spannungen im zwischenmenschlichen Bereich auf. Durch Vermittlung gelang es neue Gesprächsbereitschaft herzustellen.

Die fehlenden pädagogischen Gründe lassen sich ideal in den Antrag auf Hilfe gem. § 41 SGB VIII unterbringen. Aufgrund der belastenden Lebensgeschichten sollten die noch nicht erreichten Ziele und die damit verbundene Unterstützung innerhalb der Ersatzfamilie, so konkret wie möglich beschrieben werden.

Die Voraussetzung der Gewährung begründet sich schon längst nicht mehr in der noch bestehenden Schul- oder Berufsausbildung, doch sollte diese ein Faktor sein. Insbesondere eine abgeschlossene Schul- beziehungsweise Berufsausbildung, lässt eine viel versprechende Erfolgsprognose zu, in einem absehbaren Zeitraum eine eigenständige Lebensführung zu erreichen. Eine neunmonatige Verlängerung über das 18. Lebensjahr konnte erreicht werden.

Das Marias schulische Ausbildung erst im nächsten Sommer beendet ist, ist für die Weitergewährung der Jugendhilfe für das Jugendamt nicht relevant. Die Pflegemutter wird versuchen die Hilfe einzuklagen.

Zitat: "Wenn ich mich damals entschieden hätte, nicht zu Pflegeeltern zu gehen sondern in eine Wohngruppe, dann wären jetzt alle stolz, dass ich Abi mache, jetzt soll ich mir ne` eigene Wohnung suchen, neben meinem BAföG jobben gehen und alles nur weil ich 18 bin. Dabei brauche ich heute noch Licht zum Einschlafen. …" Maria

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