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Wem hilft die Kinder- und Jugendhilfe wirklich? - Theorie, Anspruch und Wirklichkeit
Themen:
Anträge auf Einzelfallhilfe
In 30 Jahren Berufstätigkeit als Vormundin/Verfahrensbeiständin musste ich immer wieder die Erfahrung machen, dass es sehr schwierig war, konkrete Hilfen/Unterstützungen für meine Mündel und auch für die Pflegefamilien zu bekommen. Anträge auf abweichende Leistungen nach Besonderheit des Einzelfalles in§ 39 Abs. $ Satz 3 SGB VIII, wurden des Öfteren mit der Begründung abgelehnt, diese Hilfsmaßnahme stehe nicht im Nebenleistungskatalog. Dieser ist geregelt in den Verordnungen der Länder § 39 SGB VIII. Ein Antrag auf Einzelfallhilfe bedeutet, wie es der Name bereits ausdrückt, einen Antrag auf den Einzelfall und damit den tatsächlichen Bedarf des Kindes/Jugendlichen, der nicht im Einzelfallkatalog abgedeckt wird. Genau deshalb wurde ein solcher Antrag gestellt, um den tatsächlichen Bedarf des Minderjährigen zu ermöglichen.
Es ist öfter vorgekommen, dass genau der gleiche Einzelfallhilfeantrag für ein anderes Mündel problemlos bewilligt wurden, z.B. die Zuzahlung für Nachhilfeleistungen, Führerschein oder Laptop, um nur einige aufzuzählen. Es ist nie klar, ob, wann und unter welchen Bedingungen die Hilfe gewährt wird – unabhängig von der jeweiligen Gemeinde.
Dies hat zur Folge, dass immer Widerspruch eingelegt werden muss, was einen erheblichen Zeitverlust bedeutet. Beispiel: Eine Nachhilfe wird kurzfristig benötigt, um nach einer Krankheit wieder den Anschluss in der Klasse zu bekommen. Dann nützt es nichts, wenn diese Maßnahme erst nach ca. 9 Monaten im Widerspruchsverfahren genehmigt wird. Der Verweis: „Versuchen Sie es mal mit Spendenmitteln!“ führt oft nicht weiter und belässt die Kinder weiter in Ungewissheit. Ist es korrekt, dass sich die Jugendhilfe damit aus ihrer Verantwortung herauszieht? Es gibt MitarbeiterInnen, die sich sehr bemühen, Wege zu finden; aber bedauerlicherweise sind diese nach meiner Erfahrung in der Unterzahl.
Fazit: jede Hilfe/ Unterstützung ist immer abhängig von dem oder der SachbearbeiterIn des zuständigen ASD.
Passende Hilfen für Familien?
In den familiengerichtlichen Verfahren erlebe ich immer wieder, dass die Unterstützungen der Jugendhilfe für Familien sich fast nur auf eine SPFH (Sozialpädagogische Familienhilfe), Familienrat, AFT (aufsuchende Familienhilfe) oder einen Erziehungsbeistand für das Kind beziehen. In der Angst der Eltern vor dem Entzug ihrer Kinder aus der Familie, stimmen die Eltern oft diesen Hilfen zu, ohne dass hinreichend geklärt wurde, ob diese Hilfe tatsächlich die Bedürfnisse bzw. die Problematik der Familie abdecken kann. In wenigen Fällen gibt es seit einiger Zeit Clearingverfahren beim ASD, um die konkrete Hilfesituation herauszufiltern und dann evtl. eine dafür geeignete Hilfe zu erstellen.
Fazit: die Hilfen werden nicht auf die Bedürfnisse der Empfänger zugeschnitten, sondern die Empfänger werden in die Hilfen, die beim jeweiligen Jugendamt zur Verfügung stehen, gedrängt.
Bedürfnisse der Kinder/Jugendlichen in der Jugendhilfe
Bei Kindern/Jugendlichen, die in eine Einrichtung oder Pflegefamilie kommen, soll versucht werden, den Bedürfnissen der Beteiligten gerecht zu werden. Nach den §§5 SGBVIII und 36Abs. 1 Satz 3-5 SGBVIII, haben die Beteiligten Kinder/Jugendlichen und Sorgeberechtigten „ein Wunsch und Wahlrecht“. Im § 36 SGBVIII Abs.1 heißt es explizite, dass die Kinder/Jugendlichen und Sorgeberechtigten darauf hingewiesen werden und dieses in die Hilfeplanung miteinzubeziehen ist.
Die Angebote der Jugendhilfe passen häufig nicht zu den Bedürfnissen der Kinder/Jugendlichen. Oft wird die Trennung von Geschwistern vorgeschoben mit dem Argument, dass jedes Kind sich besser entwickeln könne, wenn es z.B. keine Verantwortung, Konkurrenz usw. aus der Herkunftsfamilie mitbringe. Dieses stimmt nur selten. Muster werden auch in Einzelunterbringungen übertragen. Die Chance mit Pädagogik Beziehungsmuster von Geschwistern untereinander zu verändern, wird vertan.
Im Ergebnis muss fast immer der Platz genommen werden, der zur Verfügung steht. In diesem Bereich wäre es wünschenswert, wenn es die Möglichkeit gäbe, kreativer im Sinne der Kinder/Jugendlichen handeln zu können.
Vor ungefähr 15 Jahren habe ich positiv erlebt, dass 5 Kinder aus einer Familie herausgenommen wurden, in kürzester Zeit ein Träger gefunden wurde, der ein Reihenhaus anmietete und 2 Betreuungspersonen bereitstellte, die in diesem Haus mit den Kindern zusammenlebten. Dieses war sicherlich ein Ausnahmefall, aber es zeigt, wenn die zuständigen Akteure willens sind etwas im Sinne der Kinder zu bewirken, kann vieles ermöglicht werden. In den allermeisten Fällen werden aber die Geschwister getrennt und, wenn es gut geht, in einer Einrichtung in unterschiedlichen Gruppen untergebracht. Des Öfteren werden sie aber in ganz verschiedenen Einrichtungen, manchmal sogar mit einer großen Entfernung untergebracht. Es gibt bestimmt Fälle, in denen dieses notwendig sein kann, aber in der Mehrheit brauchen sich die Geschwister gegenseitig. Gerade in einer so einschneidenden Situation, wie der Herausnahme aus ihrer Familie.
Weiter musste ich des Öfteren erleben, das untypische Unterstützungsleistungen für Mündel wie z.B. Übernahme der Kosten für eine Mitgliedschaft im Tennisverein oder ein Auslandsaufenthalt mit der Begründung abgelehnt wurde, dies hätten die Kinder in der Herkunftsfamilie auch nicht machen können. Nach meiner Meinung benötigt diese Aussage keiner Kommentierung.
Fazit: Kinder/Jugendliche, die von der Jugendhilfe abhängig sind, werden in die Rolle von Bittstellern geschoben und sind Kinder zweiter Klasse.
Autorin: Ute Kuleisa-Binge ist in Bürogemeinschaft Binge und Kollegen GbR tätig als Berufsvormundin, Verfahrensbeiständin, Mediatorin. Sie ist Vorstandsmitglied im Berufsverband der Verfahrensbeistände, Ergänzungspfleger und Vormünder BVEB e.V.