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Unser Pflegekind hat sexualisierte Gewalt erfahren.
Als die Pflegetochter 16 Jahre alt war, hat sie das Gehabe und das getrimmte Äußere eines Jungen. Sie ist so jungenhaft, dass sie keinen an sich heranlässt, haßt es jedoch, wenn im Lokal der Kellner ihr die Karte reicht und sagt: Hier für den jungen Mann. Sie haßt das und weiß nichts dagegen zu tun. Sie trägt große verhüllende Klamotten und signalisiert damit: so erkennt mich keiner als Mädchen, denn wenn - wüsste ich nicht was ich tun sollte. Sie umgibt sich mit einem großen Schutzwall, möchte eigentlich nicht Mädchen und Frau sein und will es andererseits mit ganzer Seele doch. Sie hofft darauf, dass ein Junge sie „erkennt“ und weist sofort jemanden zurück, der es versucht.
Die Pflegeeltern schilderten die großen Fragezeichen, die die Familie aufgrund der Verhaltensweisen des Kindes hatte. Besonders unverständlich erschien ihnen das Verhalten des Kindes dem leiblichen Vater gegenüber. In der Pflegefamilie äußerte sich das Kind sehr ablehnend, wenn er aber kam und sie zum Besuchskontakt abholte, ging sie durchaus erfreut mit. „Zwischen anbiedern und abstoßen“ sagte die Pflegemutter. Dazu kam schwierigstes soziales Verhalten, Verweigerung von Leistung ( immer versteckt mit Entschuldigungsgründen gespickt, nicht offen), immer der Versuch sich mit allen Mitteln durchzusetzen (notfalls Essen hochwürgen und auf den Esstisch kotzen). Nach drei Jahren stellt sich heraus, dass das Kind vom Vater missbraucht worden war und auch noch bei Besuchskontakten missbraucht wird.
Als die Pflegeltern dies hören, verfallen sie erst einmal in Fassungslosigkeit. Dann hilft dieses Wissen, um sich Verhalten erklären zu können und empfinden auch Erleichterung, nicht immer alles falsch gemacht zu haben. Gleichzeitig kommt Verzweiflung hoch: wie konnten wir nur so blind sein,
Warum haben wir sie mit dem Vater mitgehen lassen? Als der Missbrauch klar geworden war, erzählte das Kind, dass der Vater ihm in einem Besuchskontakt harte Porno gezeigt habe und dass es beständig Angst gehabt hätte, dies nun auch tun zu müssen.
Nachdem die sexuelle Gewalterfahrung des Kindes erkannt worden war, haben die Männer der Pflegefamilie sich als Männer geschämt, auch die Jungen. Sie konnten sich nicht mehr im Spiegel angucken. Der Pflegevater machte sich beständig Gedanken, was er denn jetzt noch tun konnte oder nicht: kann ich sie jetzt noch anfassen, kann ich sie noch baden, die muß ja wer weiß was von mir denken. Es ist schwierig für ihn, denn er wird von dem Mädchen umworben und die Pflegemutter eher ausgegrenzt. Die leibliche Mutter hat das Kind extrem abgelehnt und es fühlte sich durch die Handlungen des Vaters geliebt.
Die Pflegeeltern verlangen vom Amtsvormund eine Anzeige gegen den Vater. Sie haben lange darum gekämpft, weil das Amt der Meinung war, dass dies alles noch schlimmer für das Kind machen und alles beim Kind wieder hoch kommen würde. Letztendlich gab es eine Anzeige. Diee bewirkte etwas Unvorhersehbares: Die Anzeige veranlasste andere weibliche Verwandten aus der Herkunftsfamilie des Kindes, sich mit ihr zu solidarisieren und ihr den Rücken zu stärken, in dem diese Verwandten ebenfalls vom Missbrauch durch diesen Mann berichteten. Der Mann ist verurteilt worden.
Das Kind hat große Beziehungsprobleme, sie stellt jede Beziehung infrage, stellt einerseits große Anforderungen an die Nähe von Bezugspersonen, weist diese Personen aber plötzlich brüsk von sich. Im Laufe der Jahre ist in dem Kind und später Jugendlichen eine unheimlich große Wut auf den Vater entstanden. Diese Wut wurde durch eine Psychotherapie noch forciert und geschürt, aber dabei ist es nicht gelungen, die Erfahrungen der sexuellen Gewalt in ihre Persönlichkeit und ihren Alltag lebbar machen zu können.
Heute ist das Mädchen eine junge erwachsene Frau. Auch heute noch ist sie extrem wütend.
Die Pflegeeltern bedauern, dass sie damals die Zielsetzung der Therapie nicht infrage gestellt haben. Sie finden, dass es besser gewesen wäre, der Pflegetochter einen Weg zur Versöhnung mit dem Vater zu weisen. Sie glauben, dass die leiblichen Eltern wichtig sind und dass es von Bedeutung ist, sich auszusöhnen und damit eine Strategie der Bewältigung zu finden.
Die Pflegeeltern beschrieben deutlich, dass die 'Normalität' des Familienlebens sich mit der Aufnahme dieses missbrauchten Pflegekindes verändert hat. Sie wussten nichts von dieser Art der Vorerfahrungen des Kindes und waren auf diese grundlegende Veränderung ihrer Familie nicht vorbereitet.
Sie konnten in der Gruppe darüber sprechen, dass sie ihren leiblichen Kindern und den anderen Pflegekindern gegenüber das Gefühl hatten, ihnen mit der Aufnahme dieses sexualisierten Kindes etwas angetan zu haben. Sie hatten das Gefühl, nach Hilfe gerufen, oft geschrieen zu haben - hatten das Empfinden, zu wenig zu wissen und zu wenig Hilfe erhalten zu haben. Sie hatten Angst davor, selbst vom Kind als Täter beschuldigt zu werden. Sie befürchteten, dass die Übertragungsmechanismen nicht genügend ernst genommen würden, um sie wirksam zu schützen. Sie wünschten sich mehr Hilfe beim Umgang mit diesen Übertragungen im Alltag, sie wünschten sich mehr Möglichkeiten, IHRE Gefühle deutlich machen zu können und darin ernst genommen zu werden.
Diese Pflegefamilie und alle Pflegefamilien in der Gruppe machte deutlich, dass mehr und mit mehr Mut auf die Vorgeschichte des Kindes geschaut werden muß wenn das Kind vermittelt wird und dass Vermutungen und Befürchtungen bei der Vermittlung ausgedrückt werden sollten.