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03.11.2012
Erfahrungsbericht

Die Suche nach meinem Ich - Aufsatz einer Jungen Volljährigen in einer Pflegefamilie

Ein Glas Alkohol während der Schwangerschaft reicht schon aus, um FASD zu verursachen.

Es gibt in jedem Leben Höhen und Tiefen, die unterschiedlich lange andauern. Man weiß nie, was wann auf einen zukommt. Die Tiefen ziehen einen unendlich tief hinab und in die Höhen kann man schließlich auch nicht schweben.
Für alles im Leben muss man sich anstrengen und hart arbeiten. Man bekommt nie etwas geschenkt.
Genau so war das auch bei mir. Ich musste hart schuften, um dorthin zu gelangen, wo ich heute bin und das war kein Zuckerschlecken.

Wenn man mein Leben einteilen würde, dann gibt es drei Bereiche, die ersten fünf Jahre in meiner Geburtsfamilie, mit meiner Mutter und meinen damaligen vier, heute sechs Halbgeschwistern, die nächsten dreieinhalb Jahre im Kinderheim, in dem man nur eine unter vielen ist und die letzten zehn Jahre in der Pflegefamilie als Einzelkind.
Ich möchte hier keine Mitleidsmasche abziehen, da ich stolz auf das bin, was ich in all den 19 Jahren geleistet habe.

Mit neun Jahren wurde ich am Herzen operiert. Die ersten eineinhalb Jahre meiner Schulzeit verbrachte ich an einer normalen Grundschule. Da ich aber durch die Operation sehr lange gefehlt und viel Schulstoff verpasst hatte, wurde ich auf die KB Schule nach X umgeschult, die sich direkt neben der Kinderherzklinik befindet. Auf dieser Schule war ich bis zur achten Klasse. Bis zur 5. Klasse wurde ich im Lernbehindertenbereich unterrichtet. Meine damaligen Lehrer hatten mich nie richtig gefördert. Erst als ich in der 5. Klasse ein neues Lehrerteam bekam, wechselte ich gleich im ersten Schulhalbjahr in den Hauptschulbereich. Doch schon in der achten Klasse waren meine Leistungen zu gut, um noch auf dieser Schule bleiben zu können. Für mich und meine damalige beste Freundin hätte der ganze Unterrichtsplan geändert werden müssen. Das ging natürlich nicht. Also wechselten wir an eine Schule in Y. Hier hatte ich anfangs einige Probleme, dem Unterricht zu folgen, doch jetzt geht's.

Man sollte aber nicht glauben, dass ich jetzt keine Schulprobleme mehr hätte. Mein FASD (Fetales Alkoholsyndrom) ist schuld daran, dass ich mit 19 Jahren noch keinen Führerschein machen darf, dass ich manipulierbar bin, dass ich nicht so selbständig bin wie andere in meinem Alter. Alle aus meiner Stufe verhalten sich älter, dabei sind sie alle um zwei bis vier Jahre jünger als ich. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich Probleme, mich zu integrieren. Ich habe so gut wie keinen Kontakt zu meinen Klassenkameraden. In den Pausen halte ich mich meist in einer der Parallelklassen auf. Meine ex-beste Freundin ist zwar noch in meiner Klasse, aber wir haben uns schon vor einigen Jahren zerstritten.

Trotz der ständigen Tiefen in meinem Leben bin ich stark und selbstbewusst, was ich meinen Pflegeeltern zu verdanken habe. Sie haben mich sowohl persönlich wie schulisch immer unterstützt. Ich lernte Reiten, war beim therapeutischen Turnen, gehe regelmäßig Schwimmen und Klettern, spiele Fußball, Klavier sowie Gitarre und fahre regelmäßig zur Tomatistherapie nach Belgien. Dann habe ich eine fantastische Golden Retriever Hündin, die für mich alles bedeutet. Sie erleichtert mir mein Leben. Sie macht alles leichter für mich. Es ist, als würde sie mir immer aufhelfen, wenn ich mich mal wieder am Boden befinde. Ich weiß nicht, was ich ohne sie machen würde.

Doch auch, wenn ich alles habe und es mir eigentlich gut geht, frage ich mich oft, wer ich eigentlich bin. Mein ganzes Ich ist in meinen Augen eine einzige Lüge. Alles was ich tue oder sage gehört zum FASD. Ständig habe ich das Gefühl, nicht dazu zu gehören und fühle mich einsam und allein gelassen. Ich weiß nicht, wohin ich gehöre oder ob es richtig war, an diese Schule zu wechseln. Es ist, als würde ich von diesem FASD gesteuert. Oft habe ich Angst. Ich kann vor meinem manipulierten Ich nicht weglaufen. Ich schaffe es nicht, mich davon zu befreien. Wenn ich mal wieder von dieser Angst überrumpelt werde, ziehe ich mich in meine Fantasiewelt zurück, wie ein kleines Kind, das vor dem rauen Leben davon läuft. Das ist auch der Grund, weswegen ich Fantasieromane lese und auch selbst schreibe. Ich versuche nur, vor mir und meinen Problemen davon zu laufen. Aber ob dass die richtige Lösung ist, weiß ich nicht.

Ich weiß, dass das Leben kein Ponyhof ist, aber immer wenn ich denke, jetzt kann es wirklich nicht schlimmer kommen, passiert doch wieder etwas Katastrophales.

Ein Beispiel: Mit 5 Jahren wurde ich aus meiner Familie gerissen, ohne zu wissen was mit mir passiert. Man sagte mir damals „Wir fahren jetzt Auto.“ Ein typischer Satz, mit dem alle Erwachsenen Kinder beruhigen können.

Damals bin ich zunächst mit meinen beiden älteren Schwestern in die Jugendschutzstelle in A. einquartiert worden. Unsere Mutter durfte uns anfangs noch besuchen, bis uns mitgeteilt wurde, dass wir NIE MEHR nach Hause zurück dürfen.
Ganz ehrlich, was könnte schlimmer sein als diese Info? Da gibt es nicht viel.

Kurze Zeit später wurde meine älteste Schwester abgeholt. Ich war damals noch klein, aber ich wusste, wenn sie weg sein würde, sehe ich sie nicht so schnell wieder. Also dachte ich: „Wenn sie dich auf dem Arm hält, kann sie nicht gehen.“ Der Plan ist natürlich nicht aufgegangen. Meine Schwester war mein Vorbild und ich wollte unbedingt so sein wie sie. Sie war damals wirklich so etwas wie ein Gott für mich. Dann war sie weg.

Jetzt hätte es eigentlich nicht mehr schlimmer kommen können. Doch als nächstes musste ich die Jugendschutzstelle verlassen und wurde in ein Kinderheim nach H. gebracht. Plötzlich war ich ganz allein.

Im Kinderheim in H. war ich eine von vielen. Ich habe es gehasst. Dort hatte ich mir geschworen, wenn ich jemals in eine Pflegefamilie gehe, dann nur in die meines Bruders. Als ich vier Jahre alt war, wollte ich meinen Bruder später einmal heiraten.

Aber stattdessen habe ich mich für die erst besten Eltern entschieden. Ich bereue meine Wahl keineswegs, auch wenn ich meinen Schwur gebrochen habe. Damit ging es dann steil Berg auf. Zwischendurch bin ich zwar ab und zu abgerutscht, aber mir ging es gut.

Das hörte aber schlagartig wieder auf, als ich auf die Schule Y. kam.
Durch den Schulwechsel verlor ich meinen besten Freund und durch einen dummen Fehler auch noch meine beste Freundin.
Es wäre nicht so weit gekommen, wenn ich dieses doofe FASD nicht gehabt hätte. Bevor ich es tat, hätte ich gemerkt, dass ich etwas falsch mache. Dieses FASD versaut mir mein ganzes Leben und meine leibliche Mutter ist daran schuld.

Ein Glas Alkohol während der Schwangerschaft reicht schon aus, um so ein Handicap zu verursachen. Ich gebe ihr die Schuld daran, dass ich keine Kindheit hatte und dass ich behindert bin.
Das mag jetzt hart klingen, aber würde sie zugeben, dass sie während der Schwangerschaft mit mir auf irgendeine Weise Alkohol zu sich genommen hat, dann hätte ich darüber hinweg sehen können. Doch sie leugnet es und sagt: "Die Ärzte lügen." Sie trinke nur ganz selten und nur ganz wenig Alkohol. Aber wie gesagt, ein Glas Alkohol reicht völlig aus.

Vor fast zwei Jahren habe ich meine beiden älteren Schwestern wieder gesehen. Es war völlig anders als damals. Sie und auch ich haben uns verändert.
Vor einem Jahr habe ich auch meine Mutter und meine beiden jüngsten Geschwister, (10 und 13 Jahre alt) in A. besucht.
Sie sind die einzigen von meinen Geschwistern, die bei meiner leiblichen Mutter bleiben durften.
Sie waren mir alle total fremd. Es war als würde jemand mitten in der Stadt auf jemand Fremden zeigen und sagen: „Da siehst du? Das ist deine Mutter mit deinen Geschwistern.“
Ich war froh, dass ich nicht allein mit ihnen war. Meine Pflegemutter, mein Hund und meine zuständige Sozialarbeiterin haben mich begleitet.

Jedes neue Hindernis hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin.

Man soll nicht immer nur nach vorn schauen, sondern auch mal zurück, um zu sehen, was man schon alles geschafft und erreicht hat. Das ist bei jedem Menschen unterschiedlich, aber ich bin mir sicher, dass jeder mindestens eine Sache hat, auf die er richtig stolz sein kann, selbst wenn es nur das Fahrrad fahren ist. Das erste Mal allein Fahrradfahren zu können, ist ein Erfolgserlebnis und man sollte daran fest halten. Solche Momente gibt es nur selten. Doch auch die Dinge, die einem schwer gefallen sind, können die Persönlichkeit stärken.

Wenn man sein Ich sucht, sollte man nicht nur nach Vorn schauen, denn da ist nichts. Das Ich wird durch die Gegenwart und die Vergangenheit geprägt und verändert.

Neue Umgebungen zwingen uns, uns anzupassen, was wiederum zu einer Persönlichkeitsveränderung führt. Durch diese Veränderungen ist es schwierig, sein wahres Ich zu finden. Aber es schadet nicht, sich Ziele zu setzten und in die Zukunft zu blicken, wenn man darüber hinaus nicht die Vergangenheit vergisst. Der Weg zum Ziel ist das, was das Ich verändert. Es kann nicht schaden, ab und zu einen Blick zurück zu werfen.

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