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Sophie - ein Erfahrungsbericht
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Wir sind eine „Erziehungsstelle“ – das heißt, unsere zwei 13 jährigen ADHS-Jungs, mein Mann und ich. Unsere leiblichen Kinder sind erwachsen und aus dem Haus.
Wir wohnen auf einem kleinen Dorf am Wald. Alle kennen uns, unsere lebhaften, lauten und oft unangepassten Kinder. Sie kennen aber auch ihre nette, hilfsbereite und fleißige Seite.
Ich glaube tauschen möchte trotzdem keiner mit uns. Wir haben beide Jungs als Kleinkinder aufgenommen – es sind unsere Jungs ohne Wenn und Aber!
Wie fast bei allen Pflegeelter ist für uns auch jeder neue Tag eine neue Herausforderung und wir nehmen diese täglich wieder an.
Und nun beginnt meine Geschichte von einem kleinen Mädchen, ich nenne sie mal Sophie.
„Gesucht wird eine junge Mutti mit einem neugeborenen Baby, sie sind seit Tagen verschwunden……. !?“
Wir haben Bereitschaft, Babysachen vorbereiten, Heilnahrung aus der Apotheke holen, Fläschchen, Schnuller, Windeln usw. Dann endloses Warten, immer das Telefon in der Tasche und fürchterlich aufgeregte Jungs.
Samstag um 5 Uhr früh klingelte das Telefon – Baby kann auf der Polizeidienstelle abgeholt werden.
Unsere Jungs sind nicht zu halten, wir fahren gemeinsam zur Polizei und standen wenig später vor der Babyschale mit einem schlafenden, gebräunten Baby.
„Mama, das ist doch eine Puppe, wollten wir nicht ein Baby abholen?“ Unsere Jungs standen wie gebannt vor der Babyschale. Die beiden Beamtinnen haben Tränen in den Augen und ich konnte meine Emotionen kaum im Zaum halten. Es war ein sehr friedliches Baby, gut genährt, gesund nur ein wenig „schmuddelig“. Ein Fläschchen und eine Packung Babynahrung waren auch da. Die junge Mutti hatte erfahren, dass sie gesucht wurde, schätzte selbst ein, dass sie es mit dem Baby nicht schaffen würde und hat sich bei der Polizei gemeldet.
So kam Sophie zu uns. Wir waren alle sehr glücklich. Die Jungs umhegten sie, so gut es eben ADHS Kinder können und der Kinderwagen war von jetzt an unser ständiger Begleiter. Am Tag, bei Wind und Wetter schlief Sophie im Kinderwagen im Garten unter Bäumen, auch mal mit einer Wärmflasche und ab ca. 19 Uhr war sie sehr aktiv und munter. Jeder Versuch ihren Biorhythmus zu verändern scheiterte. Diesen hatte sie höchstwahrscheinlich von ihrer Mutti schon in der Schwangerschaft übernommen.
Ich habe bis zu diesem Zeitpunkt nicht gewusst, wie lange ein Mensch mit so wenig Schlaf durchhält. Mit unseren Jungs haben wir auch bis zu ihrem 5.Lebensjahr Wein- und Angst Attacken in der Nacht erlebt und über Jahre in unterschiedlichen Zimmern mit je einem Kind im Bett geschlafen. Wir waren also schon recht erprobt, als Sophie sich aller 2 Stunden in der Nacht lautstark meldete. Ihr Bettchen „dockten“ wir an meins an, so konnte ich jeder Zeit ihre Händchen halte, sie streicheln und im Halbschlaf murmeln. Half das alles nicht, standen mehrere Fläschchen bereit. Irgendwie überstanden wir die Nächte.
Zum Glück war es Sommer und fast jeden Tag konnte ich mit den Kindern baden fahren. Die Jungs schwammen schon recht sicher, Sophie schlief wie immer selig im Schatten in ihren Wagen und keine 10 Minuten lang konnte ich die Augen aufhalten und schlummerte auch ein. An unserem Badesee trafen sich fast immer die gleichen Leute und achteten sehr auf Kinder und das Umfeld. Wir waren also gut aufgehoben und ich konnte etwas Kraft sammeln.
So verging die Zeit und wir waren eine glückliche, vielleicht auch mal eine etwas gestresste Familie. Wir wussten alle, dass Sophie nicht für immer bei uns bleiben würde. Sie war für uns wie ein Geschenk und wir waren sehr dankbar dafür, dass wir noch einmal so ein kleines Baby in unserer Familie betreuen durften.
Sophies leibliche Familie wollte gern wissen, in welcher Pflegefamilie sie betreut wurde. Nach einigen Telefonaten lud ich diese ein. Die junge Mutti kam mit Ihrer Mutti uns besuchen. Beide waren sehr gerührt und sanft. Sie freuten sich sichtlich, wie gut es Sophie ging und wie sie gewachsen war, gern nahmen sie Sophie auf den Arm. Von diesem Tag an kam die junge Mutti ab und zu auf einen Sprung mit Freunden bei uns vorbei. Sie zeigte ihnen stolz ihre kleine Tochter und war nach kurzer Zeit wieder verschwunden.
Was sollte nun mit der Kleinen werden? Nach langen Gesprächen mit Sophies Oma und ihrer Bitte an uns, sie in Zukunft auch zu unterstützen, erklärte sie sich bereit die Vormundschaft zu übernehmen und ihre Enkeltochter groß zu ziehen.
Es sollte eine langsame und für das Kind schonende Rückführung geben. Die Oma besuchte uns zwei, drei Mal in der Woche und wir kümmerten uns gemeinsam oder sie allein um Sophie.
Jetzt glaubten wir, die Zeit ist gekommen und ich brachte Sophie am Morgen in die Wohnung der Oma. Um 19 Uhr wollte ich sie wieder abholen. Die Oma freute sich sehr, sie war natürlich auch gespannt und ein wenig verunsichert. Den ganzen Tag musste ich an unser kleines Mädchen denken. Werden sich die beiden „gegenseitig“ verstehen? Wird alles gut klappen?
Die Zeit verging so langsam und endlich war es 19 Uhr. Ich stürmte die Treppe hoch und war auch aufgeregt. Ich fand eine sehr deprimierte Oma vor und ein völlig in sich gekehrten Säugling. Uns beiden Frauen liefen die Tränen und Sophie gab kein Lebenszeichen von sich. Sie stierte vor sich hin, war apathisch, hatte den ganzen Tag kaum geschlafen oder getrunken. Die Oma hatte sich alle Mühe gegeben und es ging ihr auch gesundheitlich nicht gut. Sophie war ein viertel Jahr. Mit dieser Reaktion, in diesem jungen Alter, hatten wir alle nicht gerechnet.
An diesem Abend haben mein Mann und ich die Kleine viele Stunden getragen, gewiegt, gestreichelt und leise mit ihr gesprochen. Ganz langsam „taute sie auf“. In der Nacht schubste sie meine reichende Hand weg und nahm sie auch später nicht mehr. Zur Beruhigung hatte sie sich bis dahin immer an meine Finger geklammert. Wir waren alle traurig und tief beunruhigt.
Am nächsten Tag wurde uns vom Krankenhaus, im Auftrag der Oma, mittgeteilt, dass Sophie bitte noch bei uns bleiben soll. Die Oma war mit hohem Fieber und Unwohlsein eingeliefert worden. Ihre Genesung dauerte viele Monate.
Sophie war nun fast ein Jahr. Sie entwickelte sich gut, war ein recht ausgeglichenes und fröhliches Kind. Die Oma war gesundheitlich wieder in der Lage, Sophie zu sich zu holen. Während ihres langen Krankenhausaufenthaltes hatte sie sich über Pflegekinder, Bindungen, Bindungsabrüche und ihre Folgen lange beschäftigt. Ich staunte immer wieder wie viel Fachwissen sie sich angeeignet hatte und wir diskutierten oft zusammen.
Das Jugendamt lehnte es ab, dass wir Sophie als Pflegekind behalten sollten.Wir waren zu diesem Zeitpunkt schon über 50 Jahre. Pflegegeld erhielten wir auch keins, die Oma hätte um Hilfe bitten müssen, bevor sie ins Krankenhaus gekommen ist. Nach einem dreiviertel Jahr zahle aber die Krankenkasse der Oma für die Zeit der Betreuung von Sophie durch uns. Für uns war das Geld aber nicht so wichtig.
Nun begann wieder eine vorsichtige Rückführung. Nachdem die Oma das dritte Mal zu uns kam, schrie Sophie schon von Weitem und ließ sich nicht anfassen. Wir überlegten und wählten neutralen Boden. Über Wochen trafen wir uns im Freien, auf Spielplätzen, in der Wohnung der Oma und langsam gewann Sophie Vertrauen. Die Oma durfte den Kinderwagen schieben, sie an die Hand und hochnehmen und verbrachte auch immer mal ein bis zwei Stunden allein mit ihr. Wir hatten alle ein gutes Gefühl und wollten die Stunden verlängern und mit Übernachtungen in Omas Wohnung anfangen.
Plötzlich wurde die Oma zum Jugendamt geladen. Ihr wurde mitgeteilt, dass man sehr erstaunt sei, dass Sophie sich noch bei uns aufhalte und eine Rückführung zur Oma binnen drei Tag zu erfolgen habe. Uns ging es allen nicht gut. Sophie war noch nicht soweit, sie benötigte vielleicht noch vier Wochen. Warum gab man der Kleinen nicht die Zeit?
Wir brachten Sophie zur Oma, mit Kinderwagen, allen Sachen, Lieblingsspielzeug, Schnuller usw. Ich glaube so unsicher und betrübt waren wir alle noch nicht im Leben. Es ging hier um ein Kind und seine ganze weitere Zukunft. Nach zwei Tagen stand die Oma mit Sophie vor unserer Tür, beide verweint, blass, dünn. Sophie hatte kaum geschlafen, verweigerte das Essen und Trinken, weinte viel oder war apathisch. Die Oma bat uns um Hilfe, sie konnte das Elend des Kindes verstehen und wolle es nicht durch den Bindungsabruch noch mehr „ kaputt“ machen.
Sie sagt:“Ich habe durch Unwissenheit bei meiner Tochter viel falsch gemacht und versagt und so viel dazugelernt, meiner Enkeltochter soll es besser gehen, wir können sie nicht auch kaputt machen.“
Sophie blieb bei uns. Sie erholte sich, klammerte aber sehr schnell und wir gaben ihr Sicherheit.
Kontakte zur leiblichen Familie hielten wir aufrecht und ganz langsam gewann sie wieder Vertrauen. Es war eine zivilrechtliche Absprache zwischen der Oma als Vormund und uns. Vom Kindergeld bezahlte die Oma den Kindergartenplatz und den Rest überwies sie uns. Größere Anschaffungen teilten wir uns.
Noch heute wird Sophie regelmäßig von der Oma geholt und übernachtet auch mal eine Nacht bei Ihr. Sie ist heute sechs Jahre alt. Sie ist ein fröhliches, lebhaftes Mädchen. Nächstes Jahr wird sie eine Förderschule besuchen und wir sind eine große glückliche Familie.
Sophie darf bei uns bleiben mit einer offiziellen Erlaubnis des Jugendamtes ab diesem Jahr.
Nachsatz: In Deutschland gibt es ein Gesetz – SGB VIII §44
Betreuung eines fremden Kindes ohne Erlaubnis des Jugendamtes.
Wir haben also eine strafbare Ordnungswidrigkeit begangen, welche mit bis zu 500 € Bußgeld bestraft werden kann und wurde.