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Das Leben, welches auch weiter geht. Erfahrungsbericht eines Pflegekindes
„Julia, kann ich das Kleid anziehen?“ „Nein, Maria, es ist viel zu kalt draußen!“ „Otto, stehe jetzt auf, du muss zur Schule, dein Schulbus kommt in 20 min.“ „Ja! Ich bin ja schon aufgestanden.“ Es denken jetzt viele, dass Julia meine Mutter ist, nein, Julia ist meine große Schwester, sie ist 10 Jahre alt - ja erst 10. Ich bin 5 Jahre alt und mein Bruder Otto ist 9 Jahre alt. Meine Mutter, die schläft noch. Julia macht immer alles. Sie ist so gesagt meine Schwester und Mutter. Es ist selten, dass meine Mutter mal aufsteht und mich zum Kindergarten bringt. „Otto jetzt aber schnell, dein Schulbus steht unten schon, Maria komm bitte, ich muss zur Schule.“ „Ja, ich komme schon.“
Julia musste mich immer zum Kindergarten bringen und danach zur Schule, manchmal kam sie dann zu spät. Heute war gemeinsames Frühstück im Kindergarten, alle Kinder hatten was zu essen mitgebracht, nur ich nicht. Ich hatte nur sehr selten was zu essen mit im Kindergarten, wie denn auch? Julia hatte morgens keine Zeit, mir was zu machen und es war auch selten was da für uns. Meine Betreuerin wusste das und hat mir öfter was beim Bäcker geholt. Ich mochte Frau Pott. Aber auch wenn ich nichts zu essen hatte oder nicht wie die anderen von meiner Mutter zum Kindergarten gebracht wurde, war ich ein fröhliches Kind. Ich hatte wie jedes andere Kind Freunde. Ich spielte immer mit meiner besten Freundin Anna. Sie nahm Rücksicht auf mich, denn ich konnte nicht so gut sehen wie die andern Kinder weil ich eine Sehschwäche habe.
Nach einer Zeit kamen wir wieder in ein Heim. Das war schon unser zweites Heim. Ich war schon mal im Heim, da war ich 2 Jahre alt. Julia packte unsere Sachen schon ein. Meine Mutter wollte nicht, dass wir gehen und das Jugendamt hatte uns allen versprochen, dass wir noch Heiligabend bei unserer Mutter bleiben dürfen. Doch dann ein paar Tage vor Heiligabend holten sie uns schon ab und sagten: „Ihr könnt doch nicht mehr bleiben!“ Wir wehrten uns und wollten nicht, doch das brachte uns nichts.
Wir lebten zwei Jahre im Heim und das waren auch nicht die schönsten in meinem Leben. Meine Geschwister und ich lernten, wie wir am besten klauten. Meine erste Zigarette habe ich auch schon mit 7 geraucht. Lesen und schreiben konnte ich nicht wirklich. Im Heim musste man sich durchschlagen. Wer nicht rechtzeitig zum Essen da war, musste das Essen, was noch übrig war und das war immer nur das, was keiner mehr mochte. Doch dann, eines Tages, sollte ich in eine Pflegefamilie, aber meine Mutter wollte nicht, dass ich ganz alleine in eine neue Familie komme. Sie hatte Angst, mich zu verlieren.
Dann sollten wir alle drei in diese Pflegefamilie kommen, dass ging auch nicht, weil ich zu sehr an Julia hing. Und diese Familie hatte auch Katzen und Julia war dagegen allergisch. Also sind nur Otto und ich in diese Familie gekommen. Da war ich schon ein zehnjähriges Mädchen.
Unsere neuen Eltern waren toll. Julia ist auch in eine Pflegefamilie gekommen, doch sie hatte nicht so ein Glück wie wir, sie musste noch mal in eine andere Familie wechseln. Wo sie aber dann auch glücklich geworden ist.
Ich bin jetzt 16 Jahre alt. Ich gehe jetzt in die 10. Klasse und werde meine Fachoberschulreife machen. Ich habe Freunde und Feinde wie jeder in meinem Alter und bin von einer Sehbehinderten-Schule auf eine Regelschule gewechselt. Meine Augenkrankheit habe ich immer noch, aber die hat sich verbessert. Ich bin glücklich mit meinem Leben. Und bin sehr froh, dass ich in diese Familie gekommen bin. Hier habe ich lesen und schreiben gelernt, habe die Liebe bekommen, die meine Mutter mir nicht immer geben konnte. Mein Bruder Otto ist schon ausgezogen, weil er eine Ausbildungsstelle in einer anderen Stadt bekommen hat. Ich mache jetzt das, wovon ich früher als Kind immer geträumt habe. Ich gehe in einen Sportverein, habe da auch schon meinen Helferschein gemacht und in einer Tanzgarde bin ich auch.
Aber da ist noch was viel wichtigeres - meine leibliche Mutter, sie hat die ganzen Jahre an meinem Leben teilgenommen. Ich sehe sie und telefoniere mit ihr. Meine Pflegeeltern haben den Kontakt zu meiner Mutter nicht abgebrochen und das finde ich sehr schön. Auch wenn meine Mutter mir und meinen Geschwistern so wehgetan hat, ich habe sie lieb und ich weiß, dass meine Mutter erkannt hat, dass sie ein Fehler gemacht hat.
Die Liebe meiner Pflegeeltern hat mich nach vorne gebracht, sie haben mich stark gemacht und glücklich. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, sie haben mir meine Kindheit gegeben, Liebe und alles was ein Kind benötigt. Ich denke oft an meine Vergangenheit, habe viele Fragen, warum das alles passiert ist und warum mit mir. Aber das ist nun mal alles passiert und ich kann da nichts dran ändern. Ich rede nicht viel über meine Vergangenheit und spiele lieber Klavier, denn wenn ich am Klavier sitze, vergesse ich alles um mich herum. Ich denke nicht mehr darüber nach, was mir mal passiert ist und schaue nicht nach hinten sondern nach vorne. Ich liebe meine Mutter und bin sehr froh, dass ich sie immer sehen durfte. Irgendwann muss ich auf eigenen Füßen stehen und alleine vorwärts gehen. Doch ganz alleine bin ich nie, denn meine Eltern sind da - und wenn ich falle, fangen sie mich auf. Und alleine der Gedanke, nie alleine zu sein, stärkt mich schon.
Schlusswort
Mit meiner Geschichte möchte ich alle Pflegefamilien ansprechen. Ich bin in meinem Leben so weit gekommen, weil ich das schaffen wollte. Es ist klar, dass ich auch gute und schlechte Tage hatte wie jedes Kind. Streit mit meinen Eltern und Geschwistern, doch ich habe sie lieb und möchte Ihnen danken, dass sie mir so viel Kraft gaben und so viel Liebe. Diese Eltern haben so viel Gutes getan. Ich danke allen, die mir geholfen haben und ganz besonders meinen Eltern, die da waren, wenn ich sie brauchte und mir Liebe gaben. Diese Eltern haben mich immer meine Mutter sehen lassen. Das finde ich toll, denn wenn sie alles abgerissen hätten, wäre ich in ein schwarzes Loch gefallen und das wäre zu schwer für mich gewesen. Man kann ja auch nicht eine Brücke über einem Fluss abreißen, da würde man doch auch fallen. Es ist nicht anders bei Kindern, wenn man alles von heute auf morgen abreißt, würde das keiner schaffen, ohne zu trauern.