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18.06.2020
Erfahrungsbericht

Erfahrungsberichte von Pflegeeltern aus Corona-Zeiten

Für viele Pflegeeltern ist die Corona-Zeit eine völlige Veränderung ihres Lebens mit ihren Pflegekindern. Wir haben schon einmal Berichte veröffentlicht, in denen einige Pflegeeltern diese Zeit als bindungsförderlich und beruhigend für die Kinder beschrieben haben. Für die Eltern bedeutete es immer, sich auf neue Bedingungen einlassen und neue Wege zu beschreiten. Hier beschreibt eine Pflegemutter aus Heinsberg in einem ausführlichen Bericht ihre Erfahrungen im ersten Corona-Hotspot der Bundesrepublik. Zwei kleinere Berichte schildern die "Fast"-Neuaufnahme eines Pflegekindes in dieser Zeit und die Veränderungen im Alltag.

Themen:

Wir leben ja in Heinsberg,

ja, DEM Heinsberg und sind demnach sehr stark betroffen von Corona. Seit 9 Wochen dreht sich unsere Welt beinahe nur noch darum.
An dem Karnevalsdienstag im Februar war ich mit Kai, meinem Mann, zum Ausklang vom Karneval essen. Plötzlich standen unsere Telefone nicht mehr still. Es überschlug sich alles, wir waren total überfordert; hatten wir doch gerade noch unbeschwert Karneval gefeiert und waren überall mitten im Menschengetümmel. Wir kennen sogar das Paar, welches als Patient 1 und 2 durch alle Medien ging.

An Schlaf war nicht mehr zu denken, schließlich hatte man ja bis gerade eben die Bilder aus China und Italien so naiv noch verdrängt. Nun aber waren sie präsent und nicht mehr wegzuschieben. Was waren wir doch naiv und dumm zu glauben, dass es weit weg wäre. Zum anderen ethisch schrecklich nur an sich zu denken. Unser Landrat entschied für Heinsberg eine sofortige Schließung der Schulen. Ich bekam die größten Ängste und sicherlich auch unrealistische Gedanken.

Ich versuchte online Mundschutz zu bestellen, vergeblich. Andere waren wohl klüger und schneller als ich. Kai erklärte mich für verrückt, als ich in der Nacht um drei Uhr zur Bank wollte, um wenigstens etwas Bargeld zu haben. Doch meine Sorge war berechtigt – der Automat war leer. Auch hier war ich zu spät.

Seit diesem Tag, also seit nunmehr neun Wochen, gehen unsere drei Kinder nicht mehr zur Schule. Mittwochs habe ich mich gar nicht aus dem Haus getraut. Kai wiederum ging normal seiner Arbeit nach in einer anderen Stadt. Donnerstags musste ich einkaufen und traute meinen Augen kaum, es gab nichts mehr, und damit meine ich wirklich nichts mehr im ortsansässigen Discounter. Weder Obst, Gemüse, Salat, Kühlschränke alle leer ... und natürlich kein Klopapier mehr. Dies machte mir ernsthaft Sorgen, würden wir wohl eher verhungern, als an Corona erkranken?

Am nächsten Morgen musste Kai doch allen Ernstes für seine Firma nach Frankfurt, wobei der Arbeitgeber ja wusste, dass wir aus DEM Heinsberg kommen. Ich verabschiedete meinen Mann besorgt mit dem Ratschlag doch dort mal zu husten und einen Gruß aus Heinsberg zu bestellen. Ich war so wütend über diese Handhabe und hoffte, dass der Kunde in Frankfurt dann doch bitte meinen Mann zurück nach Heinsberg schicken würde. Doch weit gefehlt ... es wurde eher belächelt.

Ein Bürgermeister aus dem betroffenem Gebiet sprach dann freitags davon Heinsberg abzusperren. Mit Kai habe ich in dem Ton wohl auch noch nie zuvor gesprochen, dass er nun augenblicklich zurückkommen müsste, da wir sonst als Familie getrennt werden würden, da er nicht mehr hineinkommen würde. Kai war zu dem Zeitpunkt noch recht cool, aber das machte ihm dann doch Sorgen. Unser Landrat sprach sich gegen den Sperrbezirk aus, ich atmete durch.

Ich möchte an dieser Stelle dann doch einmal betonen, dass ich weder dramatisieren, noch bagatellisieren werde. Auch äußere ich mich nicht hier über Verschwörungstheorien!!!
Alles beruht auf meinen Gefühlen und meinem Verantwortungsgefühl Anderen gegenüber, schließlich möchte ich nicht Schuld daran tragen, dass es jemandem schlecht geht oder er
im schlimmsten Fall an/mit Corona stirbt. Ich bin nur Laie, aber hier gibt es über 50 Tote in unserem beschaulichen Heinsberg. Hier sind tatsächlich sehr viele Menschen erkrankt, auch schwerer und explizit auch Jüngere und nicht Vorerkrankte. Da jedoch kaum getestet wird/wurde und so die Zahlen beschönigt wurden, ist vieles für mich wenig aussagekräftig. Links und rechts von uns waren Nachbarn infiziert und es fühlt sich nicht gut an mittendrin zu stecken.

Wir selbst hoffen, es bereits gehabt zu haben; wissen dies natürlich nicht, da nicht getestet wurde. Wir erleben in dieser Zeit persönlich hautnah indirekte Folgen von Corona. Das Patenkind von Kai hatte einen schweren Motorradunfall mit Wirbelbruch etc. Er musste tagelang im örtlichen Krankenhaus auf den Transport ins Klinikum warten. Dort endlich angekommen wurde es nach kurzer Zeit hektisch in seinem Krankenzimmer. Sein Zimmerkollege wurde herausgeschoben, da seine Frau positiv getestet wurde. So musste der arme Junge weiter warten. Doch, was das Schlimmste an der ganzen Situation war, war die Tatsache, dass dieser Junge mit gerade einmal 18 Jahren mutterseelenallein die ganze Zeit in beiden Krankenhäusern war. Seine Mutter durfte wegen Corona nicht zu ihm. Da muss ein 18-Jähriger sich mental unter starken Schmerzen auf so eine schwere OP vorbereiten? Unmenschlich!!! Aber jetzt geht es ihm gut. Er wurde sehr schnell trotz der schweren OP entlassen und ist gut versorgt von seinen Lieben.

Mir muss niemand erzählen Corona wäre so harmlos. In dieser Zeit habe ich auch menschliche Abgründe erlebt, z. B. ein Apotheker, der unter der Hand Mundschutz zu Wucherpreisen verkauft. Widerlich!!!!

Mein Patenkind hatte in dieser Zeit Geburtstag, der recht eigenartig verlaufen ist. Zudem hätte er Kommunion gehabt und war darüber sehr traurig, dass sie ausgefallen ist.

Was ich selbst als schwierig erachte ist der Umgang mit Corona den Kindern zu vermitteln, schließlich will man sie ja nicht verängstigen. Unsere Großen bekommen aber leider schon zu viel mit. Der Kleinen (7) habe ich immer einen Corona-Virus auf die Hand gemalt und ihr erklärt, wenn sie immer die Hände gründlich wäscht, ist er abends verschwunden und sie geht gesund schlafen. Das hat tatsächlich sehr geholfen und sie nicht verängstigt, da sie etwas selber tun konnte. Das bestärkt!

Diese Zeit sehen wir als geschenkte Zeit für uns als Familie. Ich habe die Kinder immer schon sehr gerne um mich und ließ sie z. B. immer schon nur bis mittags beschulen. Nur jetzt, jetzt ist doch alles anders und mit drei kleinen Kindern (7-12) auch eine Herausforderung. Nun bin ich ungewollt Lehrerin für drei verschiedene Klassen und Schulformen. Man, wie gerne wäre ich wieder einfach nur Mama Das Homeschooling empfinde ich als sehr anstrengend.

Schön ist es gerade, dass ich nicht von meinen typischen wöchentlichen Terminen geplagt bin.

Die Kinder machen es uns recht einfach. Ich wundere mich, wie wenig sie sich gegen das Ganze auflehnen. Sie nehmen es einfach hin, was wertfrei hier gemeint ist. Mit Zwölf hätte ich selbst sicherlich rebelliert. Doch, was weiß ich schon? Wir hatten so eine Situation, Gott sei Dank nie. Was geht in unseren Kindern vor? Schonen sie uns vielleicht sogar auch? Wir sind nah dran und schauen genau hin, aber ...

Was mir jedoch immer noch nicht verständlich ist, ist, dass es Menschen gibt, die gerade sooooooo viel Zeit haben; sogar Langeweile verspüren; vieles aufarbeiten und sogar Bücher
(man beachte den Plural) lesen. Was sind das für Menschen? Leben die wirklich hier? Mir ist nur eine Antwort plausibel, sie haben keine Kinder. Denn all dies bleibt mir mit drei lebendigen Kindern verwehrt.

Wir verbringen unsere Zeit mit den Kindern, renovieren ein weiteres Kinderzimmer, schauen Lö-Za TV (Danke dafür, das ist unsere morgendliche Pause beim Homeschooling ... ihr macht das super, (bitte weitermachen) und spielen viel. Streiten muss ich hier nicht erwähnen, oder? Wir gehen joggen, also die Kinder joggen und ich sorge für die Motivation, schließlich müssen sie sich auch mal auspowern. Unser Garten ist unser Lieblingsort. Wir waren im Autokino; haben den hiesigen Zirkusmenschen und Tieren Spenden gebracht und durften die Tiere füttern. Dies werden wir nun öfter machen, da es für die Kinder so eine tolle Abwechslung war.

Aber jetzt kommt unser ultimatives Highlight dieser verrückten Zeit: Wir haben uns den Urlaub nach Hause geholt. Anstatt wie sonst in „unser“ Haus nach Dänemark zu fahren, haben wir uns eine Fasssauna und einen Whirlpool gemietet. Dafür greift man tief in die Tasche, aber es hat sich soooooo gelohnt. Nach sechs Wochen hier im absoluten Corona-Zentrum waren wir zum ersten Mal wirklich entspannt. Tagsüber waren die Kinder den ganzen Tag quietschvergnügt in Sauna und Pool. Und wir hatten abends so tolle und gemütliche Abende dort. Drei Abende hintereinander gab es Wein, ihr glaubt nicht, wie gut der in einem Whirlpool schmeckt! Und das sage ich, die sonst sehr selten Alkohol trinkt. Wir waren tiefenentspannt und es fühlte sich wirklich wie Urlaub an.

Was uns im Leben immer wichtig war und ist, ist über den Tellerrand zu schauen. Explizit in dieser Zeit. Auch unter dem Aspekt, dass man sich so hilflos, ohnmächtig und ausgeliefert
fühlt; es gibt immer die Möglichkeit etwas für Andere zu tun. Hier gibt es so viele Kinder, die in schwierigen Verhältnissen leben z. T. auch räumlich durch fehlende Balkone und Gärten.
Wir spenden sehr häufig, wohlgemerkt anonym. Dieses Mal waren wir besonders kreativ und werden hier „die unsichtbaren Helden oder Corona-Engel“ genannt. Wir haben für die Kinder hier mit Regenbogen in den Fenstern Süßigkeiten in die Briefkästen geworfen mit dem Aufdruck „Schön, dass du zu Hause bleibst“. Die Kinder habe ich die Posts im Internet lesen lassen, sie sind sehr stolz auf sich. So waren sie handlungsfähig. Ostern haben wir 75 Osterhasen in den Blöcken verteilt. Es ist uns wichtig, dass unsere Kinder geben können, gerade in dieser Situation.

Besuchskontakte können ja gerade nicht wie gewohnt stattfinden. Die leibliche Mutter der Kinder war sehr froh über die Möglichkeit eines telefonischen Kontaktes. Sie hat für die Gesamtsituation Verständnis. Das war wiederum für alle wichtig und eine gute Geschichte. Leider können wir gerade die große Schwester der Drei nicht besuchen, das fällt uns nicht leicht. Mit ihr ist telefonieren nur bedingt möglich. Für alle sehr unschön.

Uns geht es auch weiterhin gut, auch in DEM Heinsberg. Was mir jedoch fehlt, ist ein Ziel vor Augen. Wie lange hält der Zustand an? Die Kinder so auf Dauer zu isolieren kann nicht gesund und gut sein.
Auch selber bin ich zeitweise einsam. Wer will schon ständig nur mit seinem Mann seine Zeit verbringen? Mir fehlen meine Freundinnen; selbst der mir sonst so verhasste Smalltalk an der Schule fehlt mir, der Cappuccino in der Stadt etc. Auch für Kai gab es Veränderungen, er hat jetzt aufgrund von Corona Kurzarbeit. Ob ich ihn für das Homeschooling einmal missbrauchen sollte?

Aber all das ist Luxusjammern, auch beschwere ich mich nicht über die ausfallenden Urlaube etc. Ich mache mir eher ernsthafte Sorgen um die Kinder, die gerade in desolaten Zuständen ausharren müssen, ohne jegliche Kontrolle des Systems ... Ich darf gar nicht darüber nachdenken, stelle augenblicklich Feldbetten auf und halte die Türe und das Herz auf.

Für euch liebe Löwenzähne habe ich mir auch etwas einfallen lassen: Ich weiß, was wir uns alle wünschen ...... sollen wir gemeinsam die Augen schließen und zusammen pusten?
Bleibt gesund und passt auf euch auf!

Dürfen wir vorstellen: Louis.

Geboren Ende Marz im Krankenhaus in Wuppertal. Angefragt wurden wir schon vor der Geburt – gesehen haben wir ihn dann letztlich erst, als er schon 10 Tage alt war. Durch Corona hat sich das alles verkompliziert. Zum Glück gab es eine „äußerste besondere Ausnahme“ und wir Eltern durften zu zweit ins Krankenhaus kommen, den Kleinen das erste Mal zu sehen. Unser Betreuer Frank durfte leider nicht mit dabei sein, was extrem schade war (für ihn wie für uns).

Nach dem Besuch war es keine Frage mehr: Louis soll zu uns kommen. Aber seitdem ist es schon eigenartig. Wir haben weder die Person aus dem Jugendamt gesehen noch konnte Frank uns vor Ort unterstutzen. Alles lauft über den digitalen Weg.

Meine Frau und ich sind jetzt über vier Wochen abwechselnd jeden Tag von Mülheim nach Wuppertal und zurück gefahren. Wir haben das sehr gerne gemacht – ja, es hat uns eher jedes Mal das Herz zerrissen, wieder fahren zu müssen. Und doch war es ein Schlauch...

Und vor allem unsere vier Mädels zuhause konnten den Tag nicht mehr abwarten, wenn sie Louis endlich selbst kennenlernen durften. Denn durch Corona durften auch sie nicht mit ins Krankenhaus und kannten den Kleinen nur von Fotos und Videos.

Doch dann kam alles anders. Das Familiengericht hat – anders als die klare Prognose des Jugendamtes – dem Vater das Sorgerecht zugesprochen und die Möglichkeit gegeben, mit dem Kleinen in eine Vater-Kind-Einrichtung zu gehen. Von jetzt auf gleich waren wir raus. Klar, wir hatten als Bereitschaftspflege den Übergang noch mit gestalten können. Aber emotional waren wir alle dazu jetzt nicht mehr in der Lage.

Tja, so ist sie – unsere Situation als Pflegeeltern. Wir springen ein, um dem Leben eines Kindes Sicherheit, Geborgenheit und Zukunft zu bieten. Manchmal ist unsere Aufgabe schneller beendet, als es unser Herz packen kann. Viele von euch wissen, wovon ich schreibe.

War es umsonst? NIEMALS! NEVER! Denn wer weiß, wofür es gut war...

An der Stelle möchte ich von Herzen EUCH ALLEN DANKE SAGEN – Danke, dass auch ihr euch auf dieses Abenteuer eingelassen habt und einem Kind die Chance auf eine gute Zukunft gegeben habt.

DANKE, dass ihr all den Mut aufgebracht habt, euer eigenes Leben eingeschränkt und Strapazen auf euch genommen habt (und nehmt) – es wird einen ewigen Wert haben! Allen Segen dafür!

...wir werden jetzt verdauen – und weiter suchen. Denn ich bin sicher: Da gibt es ein Kind, das wartet nur darauf, den nun frei gewordenen Platz in unserer Familie einzunehmen. Dann sagen wir nur: „Herzlich willkommen!“

Der Alltag stand auf einmal Kopf

Der Alltag stand auf einmal Kopf, einerseits ein Gefühl von Ferien, andererseits ungewohnte Einschränkungen und Unsicherheit.

Wir entschieden, das Beste daraus zu machen und uns, neben den vorgegebenen Schulaufgaben, den Freiraum für gemeinsame spontane Aktionen zu nehmen. Auf einmal war mehr Zeit für Touren mit dem Fahrrad oder den Inlinern, für stundenlanges Lego bauen und sortieren, kreativ zu sein, neue Spielideen zu entwickeln, Fahrzeugrampen zu bauen und vieles mehr.

Wir haben diese besondere Zeit als Chance für mehr Familien-Qualität erlebt, es lag oft eine spürbare Zufriedenheit in der Luft. Dies war natürlich nur möglich, da wir uns finanziell und existenziell keine Sorgen machen mussten und da wir mit einem großen Garten und einer ländlichen Gegend eine tolle Grundvoraussetzung hatten.

Die schönste Bestätigung für diese besondere Atmosphäre war, als Connor (mit seinen 8 Jahren) eines Abends äußerte: „Mama, ich glaube, das war der schönste Tag meines Lebens“.

Erstveröffentlichung in der 'Pusteblume' 1-2020 des Vereins Löwenzahn-Erziehungshilfen e.V. Danke für die Erlaubnis der Veröffentlichung.

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Löwenzahn Erziehungshilfe e.V. ist ein gemeinnütziger, anerkannter Träger der Jugendhilfe und beschäftigt sich seit 1992 mit der Vermittlung von Kindern, die aus unterschiedlichsten Gründen für einen unbestimmten Zeitraum nicht in ihrer Ursprungsfamilie leben können. In der Regel werden 100 Kinder im ganzen Ruhrgebiet betreut.