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29.04.2014
Erfahrungsbericht

Ein begleiteter Besuchskontakt

Bericht über die Begleitung von Besuchskontakten für ein fünfjähriges Kind zu seinen leiblichen Eltern. Das Kind wollte besonders den Kontakt zu seinem älteren Bruder, hatte aber die Befürchtung, dass die Eltern es aus einem Besuchskontakt einfach mit zu sich nehmen würden.

Nina ist fünf Jahre alt und fast seit ihrer Geburt in der Pflegefamilie. In den ersten Jahren hat es regelmäßig einvernehmliche Kontakte gegeben, entweder in der Wohnung der Pflegeeltern oder der leiblichen Eltern. Dort trafen sich dann die leiblichen Eltern, der zwei Jahre ältere Bruder von Nina, der bei seinen Eltern lebt, Nina und ihre Pflegemutter. Die Atmosphäre der Besuche verändert sich, als die leiblichen Eltern Nina wieder zu sich holen wollten. Es baut sich eine starke Spannung während der nächsten Kontakte auf, die schließlich dazu führt, dass die Pflegeeltern einen Antrag auf Verbleib des Kindes stellen. Diesem Antrag entspricht das Familiengericht und ordnet gleichzeitig regelmäßige monatliche Besuchskontakte an, die vorerst begleitet werden sollen.

Aufgrund der schwierigen Ausgangslage beauftragt das Jugendamt mich als freiberufliche Sozialarbeiterin mit der Begleitung der Kontakte. Bevor es zu Kontakten kommt, lerne ich erst einmal in mehreren Besuchen Nina und ihre Pflegeeltern kennen. Ich lerne auch die leiblichen Eltern des Kindes kennen. Nina entwickelt ein Vertrauen zu mir und kann sich schließlich darauf einlassen, mit mir als Begleitung einem Besuchstermin zuzustimmen. Wir vereinbaren einen Termin im Besuchszimmer des Jugendamtes. Damit Nina sich darauf einstellen kann, gehen wir uns einige Tage vor dem Kontakt das Zimmer ansehen.

Bericht des ersten Kontaktes:

Um 16.00 Uhr ist der Besuchskontakt mit Nina, ihren leiblichen Eltern und ihrem Bruder geplant. Eine Stunde vorher hole ich Nina bei ihren Pflegeeltern ab. Nach einer kurzen Absprache, wann wir wieder zurück sein werden, fahren Nina und ich los. Eine Weile sitzt sie schweigend hinten in ihrem Autositz. Dann sagt sie plötzlich ganz unvermittelt:
„ Wenn du jetzt nicht dabei wärst, hätte ich Angst!“
„Und mit mir dabei geht es jetzt für Dich?“
„Ja, du bringst mich ja wieder zurück“ antwortet sie mit tiefer Überzeugung.

[...] Die Familie überreicht ein großes Geschenk, das Nina erst einmal unausgepackt neben sich legt. [...] Sie und ich erinnern uns an ein Gespräch vor ein paar Tagen, als sie über die Besuchskontakte sagte:,,Sie locken mich, sie locken mich immer. [...] Sie versprechen mir immer ein großes Geschenk, ein ganz großes und dann bringen sie es mit ins Jugendamt und dann packen sie mich da hinein und nehmen mich mit". [...]
Da wir sehr frühzeitig losgefahren sind, hat Nina noch etwas Zeit bevor ihre Eltern und ihr Bruder kommen. Nina setzt sich mit mir hin, malt und lässt eine Kassette laufen. Sie sitzt am oberen Ende des Tisches und ich frage sie, wo sie denn möchte, dass ich während des Besuches sitze? Sie will, dass ich da sitzen bleibe wo ich bin, unmittelbar rechts neben ihr.

Die Eltern und der Bruder von Nina kommen pünktlich. Die Sozialarbeiterin des Jugendamtes begrüßt uns und zieht sich dann zurück. Nina bleibt auf ihrem Platz sitzen. Die Familie überreicht ein großes Geschenk, das Nina erst einmal unausgepackt neben sich legt. Dabei schaut sie mich mit großen Augen eindringlich an. Sie und ich erinnern uns an ein Gespräch vor ein paar Tagen, als sie über die Besuchskontakte sagte: „Sie locken mich, sie locken mich immer. Sie versprechen mir immer ein großes Geschenk, ein ganz großes und dann bringen sie es mit ins Jugendamt und dann packen sie mich da hinein und nehmen mich mit“.
„Ich habe dir was versprochen“ sagte ich jetzt leise und sie lacht auf und nickt, denn in dem eben erwähnten Gespräch war es folgendermaßen weiter gegangen:
„Du bleibst doch bei mir!? Würdest du das wirklich tun, die ganze Zeit bei mir bleiben?“
„Ja, klar“ sage ich.
„Und wenn ich oder du aufs Klo müssen, dann gehen wir auch zusammen!?“
„Ja, ich werde dich nicht allein lassen. Ich werde dich bringen, und ich werde dich auch wieder mitnehmen“.

Jetzt steht ihr Bruder neben ihr und erzählt ihr von seinen Weihnachtsgeschenken. Nach kurzer Zeit setzt sich ihr Vater neben Nina und alle beginnen ein Mikadospiel. Das kommt nicht so richtig in die Gänge und Nina beginnt, das Geschenk auszupacken. Sie reißt das Papier herunter und ich halte meine Hand auf, um es aufzufangen. Daraus entsteht zwischen uns ein kleines Spiel.
Die Mutter bemerkt dies mit Erstaunen und meint: “Die ist aber sehr vertraulich mit Ihnen“.
Ich erkläre ihr, dass wir uns ja in Vorbereitung auf die Kontakte schon oft gesehen haben.
„Dann sind Sie ja parteiisch!“ sagt sie.
Ich meine daraufhin, dass es für Nina sehr hilfreich sei, dass sie mich gut kenne, denn sonst wäre sie wohl kaum so bereitwillig mit mir gekommen.
Diese Antwort scheint die Mutter zu beruhigen. Sie wendet sich wieder ihrem Mann und Nina zu, die inzwischen Dinge aus Knete bauen.
Als Nina mit etwas zeigt und mich dabei mit DU anspricht, wird sie von ihrem Vater zurechtgewiesen. Mein Einwand, dass dies so in Ordnung sein, kann er nicht gelten lassen und wiederholt seine Ermahnung, dass sich so etwas nicht gehöre.
Nach einer guten halben Stunde beginnt Nina durch das Zimmer zu laufen.
„Komm doch mal zur mir“ sagt die Mutter und fängt Nina im Laufen ab. Sie nimmt sie in die Arme. Nina macht sich steif und beginnt spielerisch, mit einem Plastiktierchen die Mutter zu pieken.
„Du bist ja immer noch so dünn“ sagt diese „Guck dir mal die Ärmchen an, die sind so dünn wie bei einem Baby. Du solltest mal lieber mehr Gemüse und Obst zu essen bekommen und nicht so viel Süssigkeiten.“
Ninas spielerische Abwehr wird immer massiver.
„Heute kriegst du es aber ab“ meint daraufhin der Vater lachend zu seiner Frau. Sie lässt das Kind los und Nina und ihr Bruder beginnen in einem angrenzenden kleinen Zimmer mit Legos zu spielen.

In dieser Ruhepause kommen die Eltern wieder auf das Thema, dass ich ja Nina begleiten würde, weil sie Angst hätte.
„Sie hat aber keine Angst“ sagt die Mutter. „Ein Kind, das Angst hat, steht in der Ecke und weint“.
„Doch, sie hat schon Angst“ antworte ich ruhig.
„Warum sollte sie denn Angst haben?“
„Sie hat Angst davor, dass Sie sie behalten wollen“ antworte ich.
Es entsteht eine Gesprächspause und dann erklären mir beide, dass sie das alles so eigentlich gar nicht gewollt haben, dass aber die Pflegemutter dies so betreibe.

Die Mutter sagt dann „Ich habe dieses Kind so lieb wie mein anderes auch und ich habe es geboren und deswegen gehört es zu uns. Ich habe nichts dagegen, wenn sie die Pflegemutter besucht. Wissen Sie, dieses ganze Theater und all den Ärger. Wenn wir heute noch einmal entscheiden könnten, würden wir gar kein Kind bekommen“. Ihr Mann nickt zustimmend.

Ich bitte sie, mir doch jetzt klar zu sagen, was für sie das Ziel dieser Besuchskontakte sei und beide äußern sehr bestimmt, dass sie Nina zu sich nehmen möchten.
„Das mit dem Holen und Bringen zu den Besuchskontakten finde ich gut, denn dann brauche ich die Pflegemutter nicht zu sehen, denn die werde ich hassen – auch weiterhin. Und wenn ich mit ihr rede, dann nur um des Kindes willen. Sie sagt dem Kind auch falsche Sachen. So sagt sie z.B., dass Vera (die leibliche Tochter der Pflegeeltern) Ninas Schwester sei. Das ist sie aber nicht. Das ist doch Blödsinn“.
„Ich glaube, für Nina ist Vera aber ihre Schwester, sie fühlt es so“ erwidere ich.
„Aber sie ist es nicht. Ich habe Nina geboren und (Name der Pflegemutter) hat Vera geboren, was ist so schwer daran zu begreifen?“

Dann diskutieren wir noch einmal kurz meine Rolle:
„Ich versuche Sie zu verstehen und auch die Pflegeeltern zu verstehen. Aber mein eigentliches Anliegen ist Nina, das was sie empfindet und was sie möchte. Mir ist wichtig, dass das Kind keine Angst hat. Ich möchte durch meine Begleitung die Spannung zwischen den Erwachsenen abbauen helfen, vielleicht besteht ja eine Chance dazu, denn es wäre viel leichter für Nina, wenn wir das erreichen würden“.
Es war mir bei meinen Ausführungen sehr wichtig, meine ‚Parteilichkeit‘ für Nina deutlich zu machen und ich habe den Eindruck, dass dies auch so von den Eltern verstanden wurde.

Nina und ihr Bruder kommen wieder in den großen Raum und der Besuchskontakt neigt sich dem Ende entgegen. Bei der Verabschiedung sagt die Mutter zu mir „Das mit der Nina, dass Sie so auf die gucken, das habe ich jetzt verstanden. Sie haben das ja auch so klar sagt.“

Wir verlassen das Jugendamt. Den ganzen Besuchskontakt über hat Nina ihre leiblichen Eltern mit ‚Mama‘ und ‚Papa‘ angeredet. Mir ist nicht aufgefallen, dass sie sich ein einziges Mal vertan hätte.
Genau das hatte sie in einem unserer vorbereitenden Gespräche erklärt: „Ja, weißt du, Ich muss das so sagen. Sie wollen auch, dass ich zu ihnen Mama und Papa sage“.

Auf meine Antwort: „ Das bringt mich aber jetzt etwas durcheinander. Zu wem möchtest du es denn sagen und zu wem musst du es sagen?“ zeigt sie mit der Hand um sich herum und meint „Also, hier (wir waren ja im Haus der Pflegeeltern) – das sind Mama und Papa und zu den anderen, da muss ich es sagen“.

Den ganzen Besuchskontakt lang hat sie sich ‚wie verlangt‘ verhalten. Draußen vor der Tür sagt sie dann zu mir „Wenn ich das nächste Mal zu (und hier benutzt sie die Vornamen ihrer leiblichen Eltern) gehe, dann kommst du doch wieder mit mir, ja?“
„Ja“ sage ich.
„Gut, dann würde ich auch wieder hingehen. Und jetzt will ich nach Hause“.
Wir gehen zum Auto und sie wirkt auf mich sehr erschöpft und angespannt. Nach wenigen Minuten merke ich, dass sie eingeschlafen ist.

Nachspiel:

Es hat noch einen Besuchskontakt gegeben, bei dem die Mutter äußerst aggressiv aufgetreten ist. Nina hat darauf sehr verwirrt und aufgelöst reagiert. Ich habe den Kontakt abgebrochen und bin mit Nina nach Hause gefahren. Dort bin ich noch solange bei ihr geblieben, bis sie sich wieder beruhigt hat und wir noch eine Weile miteinander spielen konnten.

Nach einem Bericht und der Stellungnahme des Jugendamtes hat das Familiengericht die Besuchskontakte ausgesetzt.

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