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Adoption - und danach?
Erfahrungen, Orientierungen und Berichte über die Adoption fremdländischer Kinder
Themen:
Margot Weyer gibt mit ihrem Buch "Adoption - und danach?" eine Orientierungshilfe für Eltern mit fremdländischen Kindern und für Eltern, die daran denken, ein Kind aus der Dritten Welt zu adoptieren sowie für Fachleute, die mit diesem Thema zu tun haben. Sie hat uns freundlicherweise die Erlaubnis gegeben, hier eine Leseprobe zu veröffentlichen. Lesen Sie im folgendes aus dem 15. Kapitel "Selbst Spielen will gelernt sein".
Wut- und Trotzanfälle, Fressgier und übersteigerte Eifersucht,Schlafstörungen und Heimweh sind sozusagen fast normale Anfangsschwierigkeiten eines normalen Adoptivkindes. Es sind Schwierigkeiten, die meist nach einiger Zeit »von selbst« verschwinden, wenn das Kind den Sprung in sein neues Leben geschafft hat. Einnässen, Aggressivität gegen sich selbst wie Kopfschlagen, Haare Ausreißen, Zerstörungswut und Daumenlutschen sind »dramatische« Verhaltensstörungen, die heute selbst ein Laie als Hospitalismusschäden erkennen kann, genauso wie er einen Rückstand in der körperlichen und geistigen Entwicklung des Kindes auf einen zu langen Heimaufenthalt zurück zu führen gelernt hat.
Aber andere Folgen eines langen Heimaufenthaltes sind, wenn auch weniger dramatisch, so doch nicht weniger gefährlich für die weitere gesunde Entwicklung des Kindes. Oft müssen die Eltern feststellen, dass ihr Adoptivkind überhaupt nicht spielen kann. Es weiß mit Spielzeug nicht umzugehen, kann keine drei Bauklötzchen aufeinander stellen, von komplizierten Lego-Konstruktionen ganz zu schweigen, es weiß nicht, wie es einen Buntstift halten und was es damit anfangen soll, die Puppe wird bestenfalls nur an- und ausgezogen, ein Rollenspiel mit Puppen oder Stofftieren kennt es nicht. Das Kind hat bis dahin vielleicht überhaupt kein Spielzeug gekannt, oder die wenigen Spielsachen, die es im Heim gab, musste der jeweilige Besitzer so heftig verteidigen und festhalten, dass er ein Spielen damit gar nicht riskieren konnte, ohne dass ein anderes Kind ihm das Autorad, das Puppenbein sofort wieder weggerissen hätte. Vermutlich ist es auch nie angeleitet worden zu spielen.
Gelegentlich sieht man in Heimen eine ganze Reihe von Stofftieren aufgereiht auf einem Regal stehen. Sie wurden von Besuchern gestiftet, die das Fehlen von Kuscheltierchen bemerkt hatten. Spielen durften die Kinder damit nicht, ins Bettchen legte man sie schon gar nicht. Die Kinderfrauen wussten vielleicht selbst nicht, wozu ein Teddybär gut sein soll, oder hielten die Stofftierchen für unhygienisch.
"Was uns am Anfang sehr deprimiert hatte, war Carstens Spielverhalten. Er wusste mit Spielsachen nichts anzufangen, konnte sich keine Minute allein beschäftigen und lag am liebsten Daumen lutschend auf dem Boden. Ich musste mich dazu setzen, ihm vorspielen, um ihn zu aktivieren. Inzwischen weiß er, was man mit einem Ball machen kann, fährt mit kleinen Autos, beschäftigt sich im Sandkasten mit Förmchen, manchmal auch schon ganz von allein ohne Aufmunterung, aber immer nur, solange ich in der Nähe bin. Ich glaube, er hatte vorher noch nie Spielzeug gesehen.«
Diese Erfahrung müssen die Eltern sehr oft machen. Mit Vorspielen, Anlernen, Mitspielen und vor allem mit Lob für das Spiel ist dieser Schaden bald behoben. Aber oft stellt sich heraus, dass die Ausdauer beim Spielen fehlt, dass das Kind sich nicht über längere Zeit auf ein Spiel konzentrieren kann.
Das sieht dann so aus: »Langsam fällt uns auf, dass Kai beim Spielen sehr sprunghaft und unstet ist. Er beginnt ein Puzzle, wirft es nach zwei Teilen weg, fängt an zu malen, geht zum Baukasten, will dann raus zum Sandkasten, kaum ist er draußen, verlangt er seinen Roller, nichts hält länger als drei Minuten. Nun ist unsere achtköpfige Familie vielleicht auch nicht das beste Vorbild an Konzentration, wo tagsüber tausend verschiedene Dinge getan und unzählige Wünsche befriedigt werden sollen und man selten länger Zeit für eine Arbeit hat. Ich musste mir also etwas ausdenken, um Kais Ausdauer zu steigern, damit er übernächstes Jahr, wenn auch für ihn die Schule beginnt, genügend Sitzfleisch hat, um mitzuhalten. Ich habe nun eine Stunde am Morgen, wenn die Großen in der Vorschule und in der Schule sind, als feste Zeit für ihn reserviert, wo ich still bei ihm im Kinderzimmer sitze, ihn auch mit keinem Wort der Anleitung, der Aufforderung oder Ermahnung unterbreche, aber auch nur ein begrenztes Spielangebot für ihn bereithalte, damit er keinen Anlass hat, ständig Neues anzufangen. Wenn er von sich aus fragt, um Bestätigung oder Rat bittet, bin ich für ihn da und lobe ihn auch, wenn er ein besonders schwieriges Spielwerk über längere Zeit hindurch zu Ende gebracht hat. Ich hoffe, dass ich damit auf dem richtigen Weg bin.«
Die Fähigkeit, sich ausgiebig und dauernd auf eine bestimmte Sache konzentrieren zu können, erwirbt ein Kind, wenn es ungestört spielen kann, wenn es Dinge hat, die es reizen, sich längere Zeit damit zu befassen, und wenn es für sein Spiel außer Anregung und Aufforderung auch Lob und Bestätigung erhält, alles Erfahrungen, die es im Heim wahrscheinlich nicht machen konnte. Ausdauer und Konzentration sind aber auch Fähigkeiten, die nur in einem ausgeglichenen, harmonischen Familienklima gedeihen können. Unfriede und Streit, Unsicherheit und Angst sind keine Grundlage, auf der Konzentration wachsen kann. Ja, man kann fast behaupten, dass Konzentrationsschwäche ein erstes Alarmzeichen für eine seelische Notlage ist, dass die Konzentrationsfähigkeit als erstes zusammenbricht, wenn das Kind unter einer starken seelischen Belastung steht. Zuerst muss man deshalb schauen, dass die seelische Verfassung des Kindes wieder ausgeglichen wird, dass die Atmosphäre in der Familie heiter und friedlich ist, damit die Belastungen aus der Vergangenheit aufgearbeitet werden können und nicht durch neue Spannungen verstärkt werden.
Wichtig ist es auch, dem Kind eine ruhige eigene Spielecke einzuräumen, in der es ungestört sein kann und wo es seine Sachen nicht immer weg räumen muss, wenn es sich etwas aufgebaut hat. - Das Kind muss aber nicht nur lernen, allein und ausdauernd zu spielen, sondern auch, mit anderen zusammen zu spielen, sich also in die Gruppe seiner Spielkameraden einzufügen. Das wird in vielen Fällen nicht ohne die verständnisvolle Hilfe der Kindergärtnerin oder die unauffällige Regie der Mutter auf dem Spielplatz möglich sein.

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