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Demonstration von Pflegeeltern in Berlin
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Erst war die Vorfreude, dann die Hoffnung, später das böse Erwachen und nun der Kampf. Der auf das Recht für Rechte! Nicht unsere Kinder sind behindert, sondern unser System!
Der Bundesverband behinderter Pflegekinder e.V. war seit Monaten in die Reformprozesse der Kinder- und Jugendhilfe involviert. Die „Große Lösung“ wurde zur Hoffnung auf die „Inkusive Pflegekinderhilfe“. Wir haben hart gearbeitet, wurden angehört und befragt. Wir nahmen an Dialogforen und Arbeitstreffen teil und glaubten an eine Lösung für unsere Kinder mit Behinderung in Pflegefamilien.
Zu Beginn des Jahres 2017 wurde die „Inklusive Lösung“ immer kleiner und immer weniger machbar. Doch unsere Hoffnung starb erst am 17.März mit dem Erhalt des Referentenentwurfs. Diesen erhielten die Verbände an diesem Freitag nach 14 Uhr mit einer Frist zur Stellungnahme bis zum Mittwoch darauf. Termin zur Anhörung im Familienministerium gerade mal eine Woche später. Aus meinem Erleben kann ich sagen, dass ich auf mein Sofa zurück fiel, die E-Mail des Ministerium erneut lesen musste und dachte: “Alles umsonst ... es war alles umsonst!“ Abgesehen davon, dass unsere Kinder mit Behinderung in Pflegefamilien keinerlei Nennung gefunden haben und damit jede Hoffnung auf Zuständigkeit im SGB VIII gefallen war, wurde die „Übergangsregelung“ in der Sozialhilfe zeitgleich nicht verlängert. Das frisch verabschiedete Bundesteilhabegesetz hat unsere Kinder nicht berücksichtigt, weil man davon ausging, dass die Reform „liefern“ wird. Kein Recht auf Rechte - das ist nun unser Fazit und darf so nicht stehen bleiben!
Am 28. März, auf dem Deutschen Jugendhilfetag in Düsseldorf, wurden die Stimmen laut: Kinder mit Behinderung und deren Pflegefamilien brauchen jetzt Öffentlichkeit. Die Bewegung muss unübersehbar sein und die Bundespolitik erreichen. So stand der Entschluss schnell fest: Es ist Zeit für eine Kundgebung in Berlin! Aber sie muss gut sein und schon im Vorfeld effektiv. Der Slogan sollte das seine tun: „Wie behindert ist das denn?“ erfüllte seinen Zweck.
Innerhalb einer Woche standen der Termin und der Ort der Demonstration fest: 20. Juni 2017 Berlin - Pariser Platz am Brandenburger Tor und Aufzug zum Platz der Republik vor den Bundestag. Das waren wohl die schwierigsten Demonstrationsorte in Berlin, die man sich aussuchen konnte. Auch der Zeitpunkt war besonders gewählt, da Sitzungswochen anstanden. Wir erhielten binnen weniger Tage viel Zuspruch und stärkende Worte. Unser Durchhaltevermögen und sehr detaillierte Planung machte es der Versammlungsbehörde, der Polizei und dem Ministerium des Inneren möglich, uns diese Kundgebung an den besonderen Orten Berlins zu genehmigen.
Das Kindernetzwerk (Frau Golfels und Dr. Annette Mund) und die Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH) (Josef Koch) unterstützten uns als große Organisationen sogar vor Ort. Die Liste der Paten und Unterstützer wurde immer länger. Professoren, Vorstände, Vereine, freie Träger und sogar Jugendämter bestärkten uns in unserem Vorhaben und wurden Unterzeichner unserer Forderungen. Wir fragten Rainer Schmidt (Theologe und Kabarettist) an, ob er unsere Demonstration moderieren würde. Er sagte sofort zu, und uns war klar: Jemand Besseren als einen Menschen mit körperlicher Behinderung, christlichem Glauben und kohlrabenschwarzen Humor konnten wir dafür nicht bekommen. Vielen Dank an dieser Stelle an Rainer Schmidt!
Wir brauchten noch sogenannte Eyecatcher und Technik. M&M Communication nahm mit uns diese Hürde, denn Strom am Brandenburger Tor ist ein echtes Abenteuer! Eine Steckdose am Pariser Platz? „Nein Frau Held, wie stellen Sie sich das denn vor?“ Okay, verstanden. Wir fliegen zum Mond, aber das ist wohl wirklich zu viel verlangt. Carsten und Christian von M&M Communication haben es mit Hilfe eines Aggregates gelöst. Danke dafür! Das Stelzentheater brachte drei bunte Vögel an das Brandenburger Tor und nicht nur die Kinder liebten sie. Dirk Schäfer betonte, wie passend diese Vögel doch seien, weil Pflegeltern sich häufig selbst als bunte Vögel sehen. Recht hat er! Dirk Schäfer (ehemals Forschungsgruppe Universität Siegen, jetzt Institut Perspektive) und Gila Schindler (Rechtanwältin „unserer“ Kinder, Fachanwältin im Sozialrecht) waren als wichtige und zukunftsweisende Wegbegleiter des Bundesverbandes ebenfalls vor Ort und haben mit uns ihre Stimme für die Kinder und deren Familien erhoben.
Freie Träger und Selbsthilfeorganisationen vor Ort vervollständigten neben unseren Familien das Bild. Der PFAD Bundesverband, der Aktivverbund und das Team des Erziehungsbüros Rheinland waren besonders präsent. Danke für die überragende Hilfe, Beratung und Planung vorab und Eure Stimmen in Berlin! Ganz herzlich bedanken wir uns auch für die großzügigen Spenden, ohne die diese Demonstration nicht möglich gewesen wäre.
Einige Pflegeväter haben die Rolle der Ordner und Ersthelfer gewissenhaft übernommen. Sie haben ein Auge auf die Gruppe vor Ort gehabt und mit der Polizei eng zusammengearbeitet. Danke! Ihr wart großartig!
Nun fehlte nur noch unsere Politik vor Ort. Wir hatten einen Erste-Hilfe-Koffer vorbereitet, der symbolisch mit unseren Forderungen nach gesetzlicher „Erster Hilfe“ ausgestattet war. Trotz aller Bemühungen durch das Kindernetzwerk und unseren politischen Ausschuss, der durch Frauke Zottmann-Neumeister in Kontaktaufnahme zu den Abgeordneten vertreten wurde, schien bis Montag Morgen, einen Tag vor der Demonstration, kein Termin vor Ort mit einem Bundestagsabgeordneten möglich zu sein. Selbst die Vertreter der Kinderkommission hielten sich zurück. Niemand schien klare Worte für unsere Kinder sprechen zu wollen und keiner unsere Forderungen nach gesetzlicher „Erster Hilfe“ an sich zu nehmen.
Unsere Forderungen in aller Kürze:
- 1. Sofortige Bemühungen und zeitnahe Realisierung einer gesetzlichen Übergangslösung zur Unterbringung von Kindern mit Behinderung in Pflegefamilien! Derzeit ist es dem Zufall überlassen, ob ein Kind mit Behinderung, welches nicht in seiner Herkunftsfamilie leben kann, in einer Pflegefamilie aufwachsen darf. Der jüngste Entwurf zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen in Deutschland hat zum wiederholten Male „unseren“ Kindern keinerlei Beachtung geschenkt. Die Übergangsregelung muss bis zum Eintritt der inklusiven Lösung Bestand haben.
- 2. Bedarfsgerechte Ausstattung und Beratung für Pflegefamilien! Die Ausstattung und Hilfe, die eine Pflegefamilie eines Kindes mit Behinderung erhält, ist nirgendwo geregelt. Zuständigkeitswechsel führen immer wieder zu Verlust von Leistungen, die zuvor für jeden Einzelfall hart erkämpft werden mussten. Beratung und Weiterbildung werden häufig gar nicht erst installiert.
- 3. Kontinuitätssicherung auch über das 18. Lebensjahr hinaus! Keines unserer Pflegekinder ist mit dem 18. Lebensjahr erwachsen und verselbständigt. Der jüngste Gesetzesentwurf sieht keine Hilfen für Kinder mit Behinderung im jungen Erwachsenenalter vor. Notlösungen wie Gastfamilien sind ein Hohn. Kinder, die in ihrer Pflegefamilie aufgewachsen sind, sind nicht zu Gast in ihrem Zuhause!
Am Montag Abend, wenige Stunden vor der Demo, überschlugen sich die Ereignisse und Zusagen. An diesem Nachmittag scheiterte die erste Sitzung zum Kinder- und Jugendhilfe Stärkungsgesetz, bei dem uns die frühe Perspektivklärung von Pflegekindern besonders am Herzen lag. Die CDU legte Veto ein und empfand eine frühe langfristige Perspektivklärung für Pflegekinder durch Familiengerichte als Entmachtung der Eltern. Erneut steht Elternrecht vor dem Kinderrecht. Für unsere Kinder eine weitere gefallene Hoffnung. Diese „Niederlage“ weckte einmal mehr den Kampfgeist unserer Teilnehmer, aber auch der Politik.
Wir durften am Dienstag, den 20. Juni 2017 am Brandenburger Tor Jürgen Coße (MdB SPD), Hubert Hüppe (MdB CDU) und Corinna Rüffer (MdB Bündnis 90 / Die Grünen) begrüßen. Sie konnten unsere Forderungen nachvollziehen und versprachen, sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten für die Belange unserer Kinder und deren Familien einzusetzen. Musik von Rolf Zuckowski begleitete unsere Stunden auf dem Pariser Platz. Gegen 16:15 Uhr begann unser Aufzug durch das Brandenburger Tor, über die gesperrten Straßen zum Platz der Republik.
Vorne an lief ein mittlerweile junger Mann, der einst als kleiner Junge ein Zuhause und eine Familie brauchte. Er konnte eine solche finden und mit allen Höhen und Tiefen groß werden. Nun führte er voller Stolz unseren Aufzug an und meinte: „Wow! So etwas habe ich noch nie erlebt, aber es ist cool! Aber es ist ja auch wichtig, was wir hier machen - für alle Kinder, die so sind wie ich.“ Danke an Max für die waren Worte!
Am Platz der Republik angekommen, dauerte es nicht lange und unsere Familienministerin Barley kam mit Sönke Rix (MdB SPD) auf uns zu. Dr. Katarina Barley sah es für sich als Selbstverständlichkeit, unsere Forderungen nach gesetzlicher „Erster Hilfe“ in Empfang und diese symbolisch mit in den Bundestag zu nehmen. Der kleine Aurel stellte seine Frage an die Ministerin, als er ihr den Koffer überreichte: „Nimmst du das bitte für uns mit?“ Frau Barley hockte sich zu Aurel und versicherte ihm, dass sie das gerne macht. Wir erlebten die Vertreter des Familienministeriums sehr offen und echt. Wir wurden zu einem Gespräch mit der Ministerin eingeladen und werden dieses sehr bald wahrnehmen.
Die Autorin Kerstin Held ist die erste Vorsitzende des Bundesverbandes behinder Pflegekinder e.V.
von:
Die Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe
Mitreden – Mitgestalten, ein Beitrag der Pflegefamilienverbände