Sie sind hier

13.05.2022
Bericht

Trotz aller Mühen ...

Mit sechs Jahren wird ein Junge von einer Pflegefamilie aufgenommen. Sieben - oft schwierige Jahre - bleibt er dort, dann möchte er bei seinem Vater leben. Er zieht zu ihm. Die Pflegefamilie ist geschockt und versucht, irgendwie damit klar zu kommen.

Mit sechs Jahren kam Carl in die Pflegefamilie. Bis dahin hatte er bei seiner Mutter gelebt. Die Ehe der Eltern brach auseinander als Carl ein kleiner Junge war. Carl blieb bei seiner Mutter. Sie versuchte, das Leben für sie beide geregelt zu bekommen. Je älter Carl wurde, um so unsicherer wurde sie. Sie setzte ihm keine Grenzen, ließ sich von ihm herumkommandieren. Je mehr sie nachgab, desto mehr forderte er. Im Kindergarten bemerkten die Erzieherinnen, dass er meinst unausgeschlafen und unleidlich war. Sie versuchten, mit Carls Mutter über seine Erziehung zu sprechen. Sie verstand nichts und begriff nichts. Sie liebe ihn doch und er sei schließlich das einzige was sie habe.

Als Carl fünf Jahre alt war, lernte sie einen Mann kennen und zog nach kurzer Zeit mit ihm zusammen. Diesem neuen Partner ging Carl gehörig auf die Nerven. Er nahm sich vor, den Jungen zu erziehen und ihm zu zeigen, wer hier der Herr im Hause sei. Für Carl begann eine schwere Zeit die ihren Höhepunkt darin fand, dass dieser neue Mann in seinem Leben ihn zu demütigen und zu prügeln begann. Es wurde so schlimm, dass Carls Mutter eines Tages mit Carl an der Hand im Jugendamt stand und den Jungen dort abgab. „Sonst schlägt er ihn tot“ sagte sie. „Machen Sie, was sie für richtig halten“ und ging.

Das Jugendamt gab Carl erst einmal in eine Bereitschaftspflegestelle. Dann ersuchte es, an den Vater von Carl heranzukommen, um zu prüfen, ob der Junge vielleicht dort leben könne. Der Vater hatte zu Carl lange keinen Kontakt gehabt. Er hatte inzwischen neu geheiratet und gab an, dass er Carl nicht aufnehmen könne.

In einem Gespräch mit der Mutter stimmte diese letztendlich der Unterbringung des Kindes in einer Pflegefamilie zu.

Das Jugendamt fragte bei Familie D. an, ob sie sich vorstelle können, Carl aufzunehmen. In Familie D. lebten zwei ältere leibliche Kinder – 14 und 16jährige Mädchen- und ein 9jähriger Pflegesohn, der in die dritte Klasse der Grundschule ging. Die Eltern überlegten mit ihren Kindern und teilten dann der Sozialarbeiterin mit, dass sie Carl gern kennenlernen wollten.

Die Pflegeeltern sahen Carl in der Bereitschaftspflegestelle und mochten ihn. Dann kamen sie mit den beiden Mädchen und dem Neujährigen und die Kinder reagierten positiv aufeinander. Es gab noch einen Besuch bei der Bereitschaftspflege, dann kam Carl zu Besuch in die Familie D. Ein weiterer Besuch am Nachmittag, dann eine Einladung zum Wochenende und für alle Beteiligten stand nun eigentlich fest, dass sie zusammen leben wollten. Carl war nun 4 Monate in der Bereitschaftspflegestelle und es war Zeit zu wechseln.

Familie D. und die betreuende Sozialarbeiterin holten Carl ab und er siedelte zu D’s über.

Als Carl ein knappes halbes Jahr in der Pflegefamilie lebte, wurde er eingeschult. Die Pflegeeltern hatten versucht, die Einschulung auf das nächste Jahr zu verschieben, denn sie waren der Überzeugung, dass Carl mehr Zeit und all seine Kraft brauche, um sich in der neuen Familie einleben zu können. Sie wollten ihm einfach noch ein Jahr Zeit geben, was aber leider nicht möglich war. Carl kam in die Schule, als er sich gerade etwas eingelebt hatte. Gleichzeitig mit der Eingewöhnung in die Schule begann nun eine schwierige Familienzeit. Es ging in den nächsten Monaten heftig zur Sache. Er provozierte die Pflegeeltern. Während er die Pflegemutter nicht ernst nehmen wollte und diese ihm immer wieder durch konsequentes Handeln zeigen musste, wer hier Erwachsener und wer hier Kind ist, zeigte er seinem Pflegevater gegenüber zuerst ein unterwürfiges Verhalten. Das änderte sich dann jedoch und nun begann er den Pflegevater hochgradig zu reizen. Die Pflegeeltern kannten die Geschichte des Jungen und erklärten sich sein Verhalten mit seinen bisherigen familiären Erfahrungen. Sie selbst hatten jedoch noch keine praktischen Erfahrungen mit solchem Verhalten sammeln können, da ihr erster Pflegesohn schon als kleiner Säugling zu ihnen gekommen war. Es war daher sehr gut, dass sie in dieser Zeit häufig die Möglichkeit hatten mit ihrer Sozialarbeiterin zu sprechen und regelmäßig eine Pflegeelterngruppe zu besuchen. So war es ihnen möglich, das Verhalten des Pflegesohnes zu verstehen und seine Übertragungen zu akzeptieren.

Das erste Schuljahr wurde ein schwieriges Jahr. Carl brachte in der Schule keine Leistung, war unkonzentriert und wirklich mit etwas anderem beschäftigt als mit schulischem Lernen. Am Ende dieses Schuljahres empfahlen die Lehrer eine Wiederholung des ersten Schuljahres. So wurde es gemacht. Für Carl war dies ein neuer Anfang, den er nun nutzen konnte.

In den ersten zwei Jahren bei den Pflegeeltern gab es hin und wieder ein Telefonat und manchmal auch eine Postkarte von Carls Mutter. Einmal trafen die Pflegeeltern und die Mutter sich bei einem Hilfeplangespräch im Jugendamt und dort wurden Besuchskontakte vereinbart, die aber von der Mutter nicht eingehalten wurden.

Mit knapp neun Jahren wünschte Carl, seinen leiblichen Vater zu besuchen. Die Sozialarbeiterin fragte bei ihm nach und er willigte ein. Im Laufe der nächsten drei Jahre gab es etwa vierteljährlich ein Besuch vom Carl beim Vater. Unregelmäßig gab es auch Besuche der Mutter. Man traf sich im Jugendamt wenn die Mutter einen Besuch wünschte.

Das Verhältnis von Carl zu den Pflegeeltern war von "Auf und Ab" geprägt, wurde aber durchweg von allen als positiv angesehen, auch wenn die Pflegeeltern deutlich empfanden, dass die Bindung von Carl zu ihnen und umgekehrt nicht so stark war wie zu ihrem ersten Pflegesohn.

Die Schule klappte während der Grundschuljahre so einigermaßen. Dann wechselte Carl in die Hauptschule. Hier ging er Freundschaften ein, die den Pflegeeltern Sorge machten. Mit zwölf Jahren wurde sein Verhalten erst in der Schule, dann auch in der Pflegefamilie immer schwieriger. Er war nicht mehr motiviert, er verweigerte fast jede Leistung, jeder Forderung wurde von ihm als Zumutung empfunden. Alles musste man ihm tausendmal sagen und auch dann noch wurde es nicht erledigt. Vereinbarungen hielt er nicht ein – es wurde wirklich schwer für andere mit ihm umzugehen.

Wenn die Pflegeeltern ihm Vorhaltungen machten, dann antwortete er „IHR habt mir überhaupt nichts zu sagen“. Inzwischen war er dreizehn Jahre alt. Die Pflegeeltern waren ratlos. Was sollten, was konnten sie noch tun? Ihre Nerven lagen blank. In den Ferien ging es besser. Dann konnte man etwas entspannen, aber sobald die Schule wieder dran war, begann der Stress erneut und sie hatten das Gefühl, es würde immer schwieriger. Vielleicht würde es besser gehen, wenn die Schule aus der Verantwortung der Pflegeeltern herausgenommen würde? Vielleicht wäre es leichter miteinander, wenn andere Personen die Aufgabe des Hilfslehrers spielen würden und sich nicht über die Schulleistungen beständig die Gemüter in der Familie erhitzen müssten?

Carl besuchte daraufhin ein Internat und war nun noch an den Wochenenden und den Ferien in der Pflegefamilie. Das entspannte eine Weile. Es wurde besser, aber es wurde nicht gut. Während bei einer anderen befreundeten Pflegefamilie eine solche Internatsunterbringung DIE Lösung war und die Familie wieder zueinander fand, wurde Carl immer unruhiger.

Aus der Sicht der Pflegefamilie „sehr plötzlich“ entschloss er sich, zu seinem leiblichen Vater zu ziehen. Die Pflegefamilie war geschockt. Sie hatte das Gefühl schwer versagt zu haben. Auch wenn einem schon seit einiger Zeit irgendwie klar war, dass der Junge sich nicht so ganz in die Familie integriert hatte, war der Auszug doch unverhofft. Besonders der Pflegevater war sehr verletzt und wollte mit Carl nie wieder etwas zu tun haben.

Es dauerte eine Weile, bis die Pflegefamilie das Geschehene für sich klar bekommen konnte. In der Zwischenzeit hat es einige telefonische Kontakte zwischen der Pflegemutter und Carl gegeben. Auch Carl wollte zu Anfang nie wieder kommen.

Jetzt scheint die gegenseitige Härte aufzuweichen. Die Pflegemutter kann sich vorstellen, Carl wieder zu sehen und fände es gut, wenn er mal wieder kommen würde. Sie möchte inzwischen doch gerne wissen, wie es ihm geht und ob diese vielen Jahre in ihrer Familie doch zu irgendetwas Nutze waren – und sie hofft inzwischen auch, dass es ihrem Mann gelingen wird, seine Verletzungen zu überwinden wenn er sieht, dass aus Carl doch noch was Vernünftiges geworden ist.

Das könnte Sie auch interessieren

Erfahrungsbericht

von:

Veras Einzelvormund

Während meiner Einzelvormundschaft für Vera beschäftigte sich diese immer wieder in besonderem Maße mit ihrer Herkunftsfamilie.
Bericht

von:

An die eigene Grenze gekommen

Über einige Jahre begleitete ich Selbsthilfe-Gruppen von Pflegeeltern als unabhängige Fachkraft. Wir trafen uns einmal monatlich. Während anfänglich die Themen des Abends von mir leicht vorgegeben worden waren, veränderte sich dies im Laufe der Monate. Jetzt konnte sich die Gruppe auf das einlassen, was unmittelbar aus der Gruppe selbst kam. Es ging darum, mit Menschen zu sprechen, die wussten, wovon man redete, die zuhörten, auffingen und Mut machten. Ein verzweifelter Pflegevater konnte genau dies an einem Abend erleben.
Aus der Praxis

Aufnahme eines Pflegekindes

Bericht aus einer Pflegeelterngruppe.
Aus der Praxis

Pflegekind Marie

In meiner Begleitung von Pflegefamilien und Pflegeelterngruppen wurde es immer wieder extrem deutlich, wie belastend für viele Pflegekinder ihre Lebenssituation und ihr Status als Pflegekind sind. Das System Pflegekinderhilfe kam an seine Grenzen, wenn es gerichtliche Beschlüsse und Anordnungen gab, die die Auswirkungen auf das Kind entweder nicht sehen oder nicht ernst nehmen wollten. Ein sehr berührendes Beispiel dafür ist das Pflegekind Marie.
Erfahrungsbericht

von:

Unser Pflegekind hat sexualisierte Gewalt erfahren.

In vielen Gruppentreffen sprachen die Pflegeeltern über das Verhalten ihres Pflegekindes und holten sich Kraft und Erfahrung bei den anderen Gruppenteilnehmern. Nachdem das Mädchen drei Jahren bei ihnen war, erfuhren sie, dass ihr Pflegekind durch den leiblichen Vater missbraucht worden war und dies in den regelmäßigen Besuchskontakten auch immer wieder geschah.
Interview

von:

Auf dem Weg

Vor Jahren kam eine Adoptivmutter zu mir und fragte mich, ob ich sie, ihren Mann und ihre Adoptivtochter beim Kennenlernen der leiblichen Mutter ihrer Adoptivtochter begleiten würde. Ich sagte zu. Gut zwei Jahre später bat ich die Adoptivmutter, mir in einem Interview zu erzählen, wie es eigentlich damals der Familie bei der doch einige Zeit dauernde Aktion gegangen war.
Bericht

von:

Erfahrungen von früher im hier und jetzt

Immer wieder erleben Pflegeeltern ein Verhalten ihres Pflegekindes, das sie überrascht und oft unverständlich für sie ist - bis ihnen klar wird (oder sie zumindest vermuten), dass das Kind seine Erfahrungen von früher auf heute überträgt. Wie gut könnten die Pflegeeltern ihr Pflegekind verstehen, wie hilfreich wäre es für eine angemessene Reaktion auf das kindliche Verhalten, wenn die Pflegeeltern über die Geschichte des Kindes doch noch mehr wüssten. Hier finden Sie einige Beispiele von zuerst irritierendem Verhalten eines Pflegekindes.
Bericht

von:

Verfahrensbeiständin für ein Pflegekind - Teil 1

Meine Begleitung von Mira bei der Regelung von Besuchskontakten und einer von der Mutter gewünschten Rückkehr des Kindes. Der Bericht ist sehr ausführlich und umfasst daher mehrere Teile.
Bericht

von:

Verfahrensbeiständin für ein Pflegekind - Teil 2

Weiterführung meines Berichtes zu meiner Tätigkeit als Verfahrensbeiständin für das Pflegekind Mira.