Sie sind hier

07.07.2022
Bericht

Erfahrungen von früher im hier und jetzt

Immer wieder erleben Pflegeeltern ein Verhalten ihres Pflegekindes, das sie überrascht und oft unverständlich für sie ist - bis ihnen klar wird (oder sie zumindest vermuten), dass das Kind seine Erfahrungen von früher auf heute überträgt. Wie gut könnten die Pflegeeltern ihr Pflegekind verstehen, wie hilfreich wäre es für eine angemessene Reaktion auf das kindliche Verhalten, wenn die Pflegeeltern über die Geschichte des Kindes doch noch mehr wüssten. Hier finden Sie einige Beispiele von zuerst irritierendem Verhalten eines Pflegekindes.

Beispiele für das Verhalten von Pflegekindern.

Peter, 7 Jahre alt, kam mit 5 Jahren in die Pflegefamilie. - 

Im letzten Jahr ist er immer wieder im Abstand von etwa zwei Monaten von zuhause weggelaufen. Die Pflegefamilie lebt in einem kleinen Ort und Nachbarn, Polizist und natürlich die Pflegefamilie suchten nach ihm. Immer wieder wurde er so gesucht, immer wieder wurde er gefunden und lief wieder fort. Nach dem siebten Weglaufen sagte er – nachdem er wieder gefunden worden war – „ So, jetzt reicht es“. 

Die Pflegeltern, die Nachbarn und Freunde wussten, dass das Kind viele Trennungen erlebt hatte, bevor es in die Pflegefamilie gekommen war. Schnell wurde ihnen klar, dass Peter ausprobieren wollte, wie wichtig er ihnen war und wie lange und intensiv er immer wieder gesucht würde. Peter hatte Glück, der Ort stand hinter ihm, die Leute hielten durch, seine Pflegefamilie blieb gelassen -  bis er ihnen glaubte. 

Laura kam mit 2 Jahren in die Pflegefamilie und ist nun 4 Jahre alt. 

Hin und wieder klingelt Laura bei der Nachbarsfamilie und will dort etwas zu essen haben und erklärt, zuhause nicht genug zu bekommen.

Zuerst waren die Nachbaren sehr irritiert, denn Paula sah immer gepflegt und durchaus gut ernährt aus. Dann hatten sie den Mut, die Pflegeeltern anzusprechen, die ja von den Besuchen nichts wußten. Die Pflegeeltern waren ihnen dankbar dafür und erzählten kurz, dass Laura früher starke Vernachlässigung erfahren hatte. Dann vereinbarten sie miteinander, dass die Nachbarn Paula freundlich zuhören, sie aber zum Essen nach Hause schicken sollten. Die Pflegeeltern informierten das Jugendamt über die Situation, denn sie waren sich nicht ganz sicher, ob Laura nicht auch woanders noch klingeln und um Essen betteln würde - und was, wenn diese Leute dann beim Jugendamt anrufen würden? Das Jugendamt reagierte verständig und hilfreich. 

Tim ist 6 Jahre alt und lebt seit einem Jahr in der Pflegefamilie. 

Tim spricht seinen Pflegevater mit dessen Vornamen 'Hans' an. Eines Tages sagt Tim zu ihm : „Ich würde ja gern PAPA zu dir sagen, aber du bist ja kein Papa, denn du machst nicht die Sachen, die Papas mit ihren Kindern machen.“ Als der Pflegevater das Kind irritiert fragt, was er denn nicht so richtig mache, erläuterte Tim ihm seine Erfahrungen sexueller Art, die er mit seinem Vater machen musste. Dem Pflegevater verschlug es die Sprache, davon hatte er keine Ahnung gehabt. Er wußte nicht, wie er nun darauf reagieren sollte und wendete sich an eine Beratungsstelle, die ihm einen sehr schnellen Termin gab. Dort wurde ihm und Tim geholfen. Darüber hinaus gab es dann ein gemeinsames Gespräch mit den Pflegeeltern und dem Pflegekinderdienst.

Gerd ist 9 Jahre alt und lebt seit etwa einem Jahr in der Pflegefamilie. 

Gerd ist das erste Mal mit seiner Pflegefamilie in Urlaub gefahren. Als die Familie wieder nach Hause gekommen ist, wurden die Sachen aus dem Auto geräumt usw. Gerd stand im Flur herum, ging staunend durch die Zimmer. Nach einer ganzen Weile zupfte er seine Pflegemutter am Ärmel und sagte leise: „Ihr habt mich ja wirklich wieder mit zurück genommen“.

Die Pflegemutter war zutiefst getroffen und erschüttert und konnte ihn nur ohne Worte in ihre Arme nehmen. Später erfuhr sie, dass Gerd über Jahre in seiner Familie von einem Verwandten zum nächsten Verwandten gewandert war, bis einer schließlich das Jugendamt darauf aufmerksam machte. Dann lebte er noch fast ein Jahr in einer Bereitschaftspflegefamilie, bevor er in diese seine Dauerpflegefamilie kam. 

Norma 7 Jahre alt und seit zwei Jahren in der Pflegefamilie. 

Norma ist abends schon im Bett. Die Pflegeeltern haben sich ein Glas Bier eingeschenkt und Flasche und Gläser stehen auf dem Couchtisch. Da kommt Norma wieder ins Wohnzimmer. Die Pflegeeltern wollen deutlich machen, dass sie das nicht gut finden, und achten nicht auf das Kind. Als sie aber nach einer Weile hinschauen, steht Norma dort kreidebleich, zitternd und starrt auf den Couchtisch.

Die Pflegeeltern springen auf, nehmen das Kind zwischen sich auf die Couch und versuchen herauszufinden, was passiert ist. Norma zeigt nur aufgelöst auf das Bier und die Gläser. Schnell wurden dies nun kommentarlos von den Pflegeeltern weggeräumt. Norma beruhigt sich und schläft dann auf der Couch ein. Die Pflegeeltern machen sich nun Vorwürfe. Sie wussten zwar, dass Norma bei einer alkoholkranken Mutter gelebt hatte und nur schlecht versorgt worden war - aber, was mochte da alles bei dem Kind gerade wieder hochgekommen sein? Sie beschlossen, mit ihrem Pflegekinderdienst über die Angelegenheit zu sprechen, um sich im alltäglichen Umgang mit den früheren Erfahrungen des Kindes sicherer zu fühlen und das Kind nicht zu verletzten. 

Lisa ist 6 Jahre alt, seit 3 Jahren in der Pflegefamilie. 

Die Pflegemutter wirbelt in der Küche herum. Sie erwartet Gäste und ist nervös, weil es nicht so klappt, wie sie es sich vorgestellt hat. Sie schimpft rum, es fällt ein Topf herunter, es ist ziemlich laut und chaotisch. Plötzlich fällt ihr Blick auf ihr Pflegekind Lisa. Lisa sitzt zusammengekrümmt auf dem Boden und hält die Hände abwehrend über ihrem Kopf.

Die Pflegemutter lässt alles stehen und liegen und nimmt sie in die Arme. Jetzt ist nur noch Lisa wichtig. Die Pflegeeltern kennen Lisas Mutter von Besuchskontakten. Sie ist eine völlig chaotische, unbeherrschte und aufbrausende Frau. Das Geschehen gerade in der Küche hat Ängste in Lisa hochkommen lassen. Die Pflegemutter hält sie an sich gedrückt, spricht darüber wie nervös sie war und dass dies alles überhaupt nichts mit Lisa zu tun hatte, sondern allein mit ihrer eigenen Unsicherheit und Hektik. Die beiden kuscheln ein bißchen, beruhigen sich und als die Gäste kommen, ist nicht alles perfekt - aber es stört überhaupt keinen.