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Recht wird Wirklichkeit - von den Wechselwirkungen zwischen Sozialer Arbeit und Recht
Themen:
Auszüge aus dem Positionspapier:
I. Einführung und Grundannahmen
Recht ist eine wesentliche Determinante für Soziale Arbeit. Es regelt Ansprüche auf Leistungen für Bürgerinnen und Bürger, legt Rechte und Pflichten für Organisationen und Fachkräfte fest. Es bestimmt, was verboten oder erlaubt ist, beeinflusst Verhalten und dessen Folgen. In dieser Weise begleitet es die Praxis der Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe in ihrer täglichen Arbeit. Rechtliche Bestimmungen sind alltäglich anzuwenden und von hoher Bedeutung. Der Umgang mit dem Recht in der sozialpädagogischen Arbeit ist jedoch nicht selten durch Unsicherheit und Ambivalenz geprägt.
Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ setzt sich in diesem Positionspapier mit dem Verhältnis von Recht und Fachlichkeit der Sozialen Arbeit auseinander. Sie greift dieses Thema auf, da sie in der Praxis Spannungen im Verhältnis zum Recht und in fachpolitischen Diskursen widersprüchliche Erwartungen an das Recht, teils auch eine grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber Recht wahrnimmt.
Soziale Arbeit hat den Anspruch, die Adressatinnen und Adressaten nicht auf die Rolle der passiven Konsumentinnen und Konsumenten zu reduzieren, sondern sie in Respekt vor dem Recht auf Selbstbestimmung zu befähigen und ihnen unterstützend zur Seite zu stehen. Sie billigt und fördert individuelle Entwicklungsprozesse und zeigt eine grundsätzliche Offenheit für eigene, frei gewählte Handlungs- und Veränderungsoptionen. Bei der Begegnung mit dem Recht ist sozialpädagogisches Handeln mit Werte- und Handlungslogiken konfrontiert, denen das Recht Normativität verleiht (etwa allgemeine Bedarfsgerechtigkeitsvorstellungen jenseits der von Adressatinnen und Adressaten empfundenen Bedarfen, Verfahrensregelungen wie Zuständigkeiten, Kostenbeteiligung etc.). Diese können in einem Spannungsverhältnis zu den sozialpädagogischen Handlungsanforderungen stehen.
Recht wird daher in der sozialpädagogischen Praxis einerseits in seiner orientierungsstiftenden Funktion der Festlegung von klaren Trennlinien zwischen „richtig“ und „falsch“, kategorialer Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit wahrgenommen und kritisiert. In Einzelfällen wird sogar beklagt, ein fachlich für angemessen gehaltenes Handeln werde durch Recht – scheinbar oder tatsächlich – behindert oder erschwert. Rechtliche Bewertungen werden als unwägbar, ggf. auch „fachlich falsch“ eingeschätzt. Es kann Unsicherheit entstehen, etwa über die Anforderungen und Auslegung des Rechts, wie innerhalb des pädagogischen Repertoires agiert werden kann und soll. Andererseits sind klarere Antworten aus dem Recht erwünscht, werden vermisst und fachpolitisch gefordert. Recht bedient das Bedürfnis nach rahmensetzender Orientierung in der täglichen Beziehungsarbeit, im Rahmen der Aufsichtsführung, der Leistungsgewährung, Leistungserbringung und im Kinderschutz und erhöht somit Handlungssicherheit.
Das Positionspapier hat zum Ziel, auf den unterschiedlichen Ebenen fachlicher Praxis und Fachpolitik das Bewusstsein für die Funktion des Rechts zu schärfen, eine Reflexion der je eigenen Rolle in Bezug zum Recht anzuregen und den Diskurs zwischen Politik und Praxis über die Steuerungsfunktion des Rechts und deren Grenzen zu befördern.
Den Ausführungen liegen dabei folgende zwei Grundannahmen zugrunde:
1. Recht und die Fachlichkeit der Sozialen Arbeit stehen in wechselseitigem Bezug. Einerseits kann das für die Kinder- und Jugendhilfe relevante Recht ohne die Perspektive der sozialpädagogischen Fachlichkeit nicht konkretisiert werden. Die Fachlichkeit hat damit Teil an der normativen Macht des Rechts. Andererseits determiniert das Recht Aufgaben und Rahmenbedingungen Sozialer Arbeit und wirkt so in das Selbstverständnis der Fachlichkeit hinein.
2. Recht bedarf der Umsetzung in der Praxis und kann das Handeln im konkreten Fall nicht ersetzen. Es wäre auch kontraindiziert, sozialpädagogisches Handeln in ein so enges Korsett zu zwängen, dass für die Diversität von Lebenssituationen, Bedarfen und persönlicher Vorstellungen keine im Einzelfall angemessenen Antworten mehr erarbeitet werden können. Rechtliche Vorgaben können Handlungsunsicherheiten begrenzen, aber nicht ausräumen.
II. Soziale Arbeit: zur reflexiven Grundhaltung im Rahmen des spezifischen Handlungsauftrags
Die Kinder- und Jugendhilfe als Handlungsfeld der Sozialen Arbeit fördert und schützt, vermittelt zwischen Individuen sowie zwischen Individuen und Gesellschaft. Sie setzt nicht nur bei den Adressatinnen und Adressaten mit ihren individuellen Besonderheiten, Eigensinnigkeiten oder den auf sie bezogenen sozialen Zuschreibungen an, sondern mitten in der Gesellschaft. Sie nimmt die subjektiv empfundene und konstruierte Lebenswelt, das Lebensumfeld und die dort vorhandenen oder entstehenden Barrieren, die beispielsweise zu Exklusion führen, ebenfalls in den Blick.
Reflexivität ist Wesensmerkmal sozialpädagogischer Professionalität. Fachlichkeit ist nicht nur dem Interesse der Adressatinnen und Adressaten verpflichtet, sondern auch den staatlich vorgegebenen und durch die Sozialpolitik konkretisierten Aufgaben. Dies fordert Fachkräfte auf, nicht nur die Wünsche und Ressourcen der Adressatinnen und Adressaten, sondern auch die Vorstellungen der Gesellschaft immer wieder hinsichtlich ihrer Berechtigung und ihrer Konsequenzen zu analysieren und zu beurteilen. Prüfen Fachkräfte etwa, ob im Sinne der Anspruchsgrundlage für Leistungen der Hilfe zur Erziehung in § 27 Abs. 1 SGB VIII eine dem Wohl des Kindes oder Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet und ob eine in Betracht kommende Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist, fließen in die Beurteilung auch gesellschaftliche, kulturelle, organisationale und persönliche Wertungen mit ein. Es handelt sich zudem nicht um einen einmaliges Geschehen; die Fachkräfte sind vielmehr im Fallverlauf gefragt, die eigenen Wertmaßstäbe, gesetzten Ziele, gewählten Methoden und (Prognose-)Ergebnisse fortwährend zu reflektieren und zu hinterfragen. Recht kann Fachkräfte anregen und verpflichten, diese Überprüfungsanstrengungen vorzunehmen. Die gesetzliche Pflicht, mit einer Hilfeplanfortschreibung regelmäßig zu überprüfen, ob die gewählte Hilfeart weiterhin geeignet und notwendig ist (§ 36 Abs. 3 Satz 3 Halbs. 2 SGB VIII), fordert dies beispielsweise ausdrücklich ein.
Die Kinder- und Jugendhilfe wird geprägt durch den sozialpädagogischen Anspruch, das fachliche Handeln an den Interessen und dem Wohl der Adressatinnen und Adressaten – also der jungen Menschen und ihrer Familien – auszurichten. Das Recht auf Selbstbestimmung, also die Möglichkeit der Adressatinnen und Adressaten, ihr Leben selbst zu steuern und ihre Autonomie zu wahren, ist zu achten. Verfassungsrechtlich liegt diesem Recht auf eine möglichst autonome Lebensführung und -gestaltung, nicht nur die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) zugrunde. Daneben ist das in Art. 6 Abs. 2 GG verankerte Freiheitsrecht – das Elternrecht – bestimmend, zwar fremdnützig zum Wohle des Kindes, aber grundsätzlich frei die Pflege und Erziehung des Kindes gestalten zu dürfen. Die Eltern haben ein Abwehrrecht gegen staatliche Intervention, solange die Grenze der Kindeswohlgefährdung nicht erreicht ist oder das Recht die Freiheit nicht ausdrücklich begrenzt (z. B. Recht auf gewaltfreie Erziehung in § 1631 Abs. 2 BGB, Schulpflicht).
Entsprechend eines modernen Verfassungsverständnisses besteht zudem flankierend die Pflicht des Staates, die Eltern in der Ausübung ihres Rechts zu unterstützen. Im Sinne dieser Selbststeuerung / Autonomie ist – gerade im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe – auch der Freiheitsdrang der jungen Menschen selbst zu akzeptieren, der Entwicklung und Erziehung wesentlich bestimmt und fördert. Fachlich von zentraler Bedeutung ist die Erkenntnis, nur gemeinsam – also über einen intensiven Verständigungsprozess mit den Adressatinnen und Adressaten – Perspektiven zu entwickeln und gesteckte Ziele erreichen zu können.
III. Recht: zur Funktion von Recht sowie Anforderungen an den Umgang mit und die Gestaltung von Recht und Regeln
Rechtliche Vorgaben sind in der Kinder- und Jugendhilfe omnipräsent. Die Fachkräfte und ggf. auch einbezogene Ehrenamtliche sind zur Einhaltung rechtlicher Vorgaben verpflichtet. Dabei sind sie der Herausforderung unterworfen, dass rechtliche Vorgaben zum einen unscharf sind; zum anderen können die Handelnden niemals über vollständige, sondern stets nur partielle Kenntnisse der geltenden rechtlichen Vorgaben verfügen.
[...]
1. Gesetze und untergesetzliche Regelungen
2. Von Gesetzen zum konkreten Recht
3. Legitimation und Absicherung von Fachlichkeit durch Recht
In fachpolitischen Diskussionen der Kinder- und Jugendhilfe wird grundsätzliche Kritik am Recht geäußert – teils sogar ein Widerspruch zwischen der Fachlichkeit Sozialer Arbeit und Recht(sprechung) konstatiert. Recht wird als Korsett interpretiert, das das Selbstverständnis der Fachlichkeit in letztlich illegitimer Weise konterkariere.
Diese Kritik greift zu kurz. Sie rekurriert darauf, dass gesetzliche Vorgaben, die im parlamentarischen Verfahren zustande kommen, auch Ausdruck von Machtverhältnissen sind. So werden z. B. einige Regelungen im Ausländerrecht bzw. deren Umsetzung durch die Behörden als menschenrechtswidrig eingeordnet und Widerstand gegen deren hoheitlichen Vollzug fachlich legitimiert. Das dabei teils geäußerte Bedürfnis, den normativen Rahmen eigenen Handelns indes insgesamt aus einem gewissermaßen unmittelbaren Zugriff auf menschenrechtliche Grundsätze zu gewinnen, übersieht innerhalb der juristischen Fachlichkeit vorhandene Meinungsverschiedenheiten, ist selbstbezogen bis hin zu antidemokratischer Selbstüberschätzung.
Zum einen gilt es wahrzunehmen und anzuerkennen, dass – da Recht erst im Wechselspiel mit Fachlichkeit konkretisiert wird – die sozialpädagogische Perspektive bereits am Prozess der Erzeugung von konkretem Recht partizipiert. Rechtliche Vorgaben aus Gesetzestexten und Rechtsprechung können daher nicht per se als Hindernis der Fachlichkeit verstanden werden (dazu bereits unter 2.).
Zum anderen bilden rechtliche Vorgaben den Rahmen für die Soziale Arbeit. Sie sichern nicht zuletzt die für fachliches Arbeiten erforderliche finanzielle Ausstattung ab, etwa durch das Verankern von individuellen Rechtsansprüchen (z. B. § 24 Abs. 2 und 3, § 27 Abs. 1, § 35a SGB VIII), aber auch durch die Vorgabe objektiver Verpflichtungen des Staates bzw. der Kommunen (z. B. Förderung der Jugendverbände, § 12 Abs. 1 SGB VIII) oder durch die Konkretisierung von Verfahrensvorschriften und die Normierung fachlicher Grundsätze. Letztere finden sich z. B. in der Vorgabe zur Beteiligung der Kinder und Jugendlichen bei allen sie betreffenden Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe (§ 8 Abs. 1 SGB VIII) sowie den nochmals für die Hilfeplanung verdeutlichenden Beratungs-, Mitwirkungs- und Beteiligungsvorgaben zu Gunsten der Adressatinnen und Adressaten (§ 36 SGB VIII).
Recht begrenzt die Macht von Fachkräften und unterstellt ihr Handeln der rechtstaatlichen Kontrolle, räumt die Möglichkeit von Widerspruch und Klage, Disziplinarbeschwerden etc. ein. Auch das ist notwendig und behindert die Fachlichkeit Sozialer Arbeit nicht, sondern wirkt als rechtsstaatliche Kontrolle in erster Linie legitimierend und absichernd.
4. Eindeutigkeitserwartung und diskursiver Konkretisierungsprozess
Vom Gesetz wird Eindeutigkeit erwartet. Die Unbestimmtheit normativer Vorgaben aus Gesetzestexten kann daher Unzufriedenheit und das Gefühl von Überforderung erzeugen. Die Deutungsoffenheit gesetzlicher Vorgaben ist jedoch gerade für die Kinder- und Jugendhilfe unverzichtbar. Sie ist keine Schwäche des Gesetzes, sondern eine Notwendigkeit. Sie reflektiert die große Heterogenität und Interpretationsbedürftigkeit sozialer Sachverhalte, für die die gesetzlichen Bestimmungen des Kinder- und Jugendhilferechts und des Familienrechts wirken sollen.
[...]
Das Wissen um die Deutungsoffenheit sozialer Situationen, die zentrale Bedeutung der Verständigungsprozesse mit den Adressatinnen und Adressaten und das Bemühen, ihre Weltsichten und Kompetenzen anzuerkennen und als Ressourcen zu verstehen, sind konstitutive Elemente des Selbstverständnisses von Fachkräften. Sie stehen in einem Spannungsverhältnis zur Eigenlogik des Rechts, die nach einem objektiven Tatbestand fragt, dem Rechtsfolgen zuzuordnen sind. Der Perspektive der Fachlichkeit ist eine immerwährende Vorläufigkeit ihrer Interpretation sozialer Situationen immanent. Das prägt nicht nur die Gestaltung und Erbringung individueller Hilfen zur Erziehung, sondern auch die Praxis niedrigschwelliger Bildungs-, Förder- und Unterstützungsprozesse in der Kinder- und Jugendhilfe bis hin zur offenen Jugendarbeit. Rechtliche Vorgaben zielen dagegen auf Rechtskonkretisierungsprozesse, die auf dem Wege gesetzlich vorgegebener Verfahren Sachverhalte konstruieren, denen durch behördliche oder gerichtliche Entscheidungen im Einzelfall eine Rechtsfolge eindeutig und bestimmt zugeordnet wird.
Dieses Spannungsverhältnis bedeutet eine Herausforderung, die bewältigt werden kann, wenn Soziale Arbeit und Recht einander als befruchtend und unterstützend interpretieren.
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IV. Organisation: Einfluss durch Arbeitsorganisation und Organisationskultur
1. Eigenlogik durch Organisationskultur
2. Regelungen als Bewältigungsstrategie komplexer Anforderungen
3. Organisationsverantwortung: Räume für Reflexion statt Überregulierung
V. Zusammenfassende Positionen unter besonderer Berücksichtigung der unterschiedlichen Akteure der Kinder- und Jugendhilfe
Recht als Instrument kann die Fachlichkeit der Sozialen Arbeit zwar anregen und dieser einen sinnvollen Rahmen setzen, fachliche Arbeit aber nicht umfassend absichern. Rechtliche Vorgaben sind vielmehr stets selbst durch fachliches Handeln zu füllen. Zu viele Vorschriften und Handlungsanweisungen können Fachlichkeit schwächen. Zu enge Vorgaben schränken das fachlich notwendige situative Reagieren auf die Gegebenheiten des Einzelfalls sowie das partizipative Herstellen von Hilfe ein und führen zu einer Dequalifizierung. Schlimmstenfalls unterbinden sie ein Mitdenken und fachliches Abwägen, statt solches zu befördern. Das bloße Befolgen von Regeln wäre eine schein-professionelle (Zu-)Flucht in einem sozialpädagogischen Arbeitskontext mit seinen multiplen Unsicherheiten und Mehrdeutigkeiten. Eigenverantwortung der Fachkräfte und die Organisationshoheit des Trägers sind in ein angemessenes Verhältnis zu bringen, um fachlich-reflexives und abwägend-bewertendes Handeln und Entscheiden zu ermöglichen.
Damit dies gelingt, sind sowohl Politik bei der Setzung von Recht und der Gestaltung von politischen Programmen, Leitungspersonen in Organisationen bei der Gestaltung des konkreten Arbeitsumfelds und Fachkräfte im Umgang mit den Adressatinnen und Adressaten gefordert.
Um die Wechselwirkung von Recht und Sozialer Arbeit in eine Balance zu bringen, sieht die AGJ die unterschiedlichen Akteure in der Pflicht:
Rechtsetzung: Politik und Fachpraxis sind auf Bundes- und auf Landesebene gefordert, sich bei der Rechtsetzung in einen Kommunikationsprozess zu begeben, der die Grenzen rechtlicher Steuerung und die Anforderung an sozialpädagogisch-fachliche Freiräume reflektiert. Im Rahmen dieses dringend erforderlichen Diskurses über Recht ist darüber zu reden, welche Offenheit und welche Spielräume für situative Einzelfallentscheidungen in der sozialpädagogischen Beziehungsarbeit gebraucht werden, und auch – andersherum – darüber, welcher normativen Vorgaben fachlich gutes Arbeiten bedarf. Gesetzgebung ist gefragt, den fallverantwortlichen Fachkräften einen konstruktiven Umgang mit den systemimmanenten Handlungsunsicherheiten in der Kinder- und Jugendhilfe zu ermöglichen und sie damit in die Lage zu versetzen, klare Entscheidungen zu treffen. Rechtsetzung bedarf daher – ebenso wie die Umsetzung des Rechts – einer sorgfältigen und fortwährenden Reflexion der gesellschaftlichen Verhältnisse, der Veränderungen und Entwicklungen sowie tatsächlicher Prozessbedingungen, denn Recht ist reaktiv.
Rechtsumsetzung in der Einzelfallarbeit: Die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe sind als zentrale Akteure der Rechtumsetzung aufgerufen, ihre normative Gestaltungsaufgabe bei der ethisch fundierten und reflektierten Ausfüllung von Recht wahrzunehmen. Sie sind aufgefordert, auszuhalten, wenn Adressatinnen oder Adressaten abweichend von ihren Vorstellungen handeln, Unterstützungs- und Hilfeangebote nicht wie aus professioneller Expertensicht für sinnvoll gehalten annehmen oder sich junge Menschen selbst gegen Mitwirkung entscheiden, aus Hilfesettings ausbrechen oder es innerhalb dieser zur Eskalation kommt. Kinder- und Jugendhilfe zeichnet sich nicht durch ein patriarchales, sondern ein subjektorientiertes Verständnis aus, das den Beteiligten als Expertinnen und Experten für ihr eigenes Leben begegnet und dies mit der eigenen fachlichen Expertise in einen partizipativen Verständigungsprozess bringt.
Rechtsumsetzung durch kommunal(politisch)e Rahmung: Fachkräfte brauchen für die Herstellung dieser partizipativen Rechtskonkretisierung in der Arbeit mit den Adressatinnen und Adressaten fachliche und zeitliche Ressourcen sowie Räume für Reflexion und Qualifizierung mit kontinuierlicher Supervision und Fortbildung. Sie brauchen (lokal)politische Rückendeckung, welche die Bedeutung des Verständigungsprozesses in der Hilfeplanung und von sozialpädagogisch-fachlichen Freiräumen anerkennt. Politik ist daher zudem gehalten, die notwendig stetige, prozesshafte Überprüfung und die Weiterentwicklung fachlicher Methoden und Verfahren anzuregen, die fachliche Reflexion zu unterstützen und entsprechend mit Ressourcen zu hinterlegen. Die AGJ sieht insoweit auch insbesondere kommunal(politisch)e Entscheidungsträger in der Pflicht.
Rechtsumsetzung und Organisationsentwicklung: Die AGJ bestärkt weiter Jugendämter und Träger der freien Jugendhilfe in ihrer Absicht und ihrem Bemühen, sich in den schwierigen und zeitaufwändigen Organisationsentwicklungsprozess zu begeben, an dessen Ende an Stelle von Regeln mit überwiegend beschränkendem Charakter eine Anleitung und ein Zusammenwirken zur Entwicklung von Fachlichkeit („Empowerment“ der Fachkräfte) und zum Einfordern fachlicher Entscheidungen vorgesehen ist. Hierzu gehört auch, dass Dienstvorschriften hinterfragt werden, Erfahrungen berücksichtigt, ein fachlich geleitetes „Bauchgefühl“ zugelassen und in die Arbeit im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte und über die unterschiedlichen Hierarchieebenen integriert wird. Es handelt sich um eine Daueraufgabe.
Aus- und Weiterbildung zu Recht und Sozialpädagogik: Lehre ist gefordert, heranwachsenden Fachkräften eine Auseinandersetzung mit ihren Erwartungen an Recht und zum Verhältnis von Sozialer Arbeit und Recht zu ermöglichen.
Die Transformation von Recht in sozialpädagogisches Handeln bleibt ein diskursiver Prozess zwischen Politik und Praxis, zwischen den jungen Menschen und ihren Familien, den Fachkräften, ihren Organisationen und der Rechtsprechung. Die AGJ fordert zur fortlaufenden und partizipativen Reflexion auf allen Ebenen auf.
Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
München, 21./22. Februar 2018
Quelle: Jugendhilfeportal
von:
Auf dem Weg zu einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe